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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 02.11.2018 - 13 S 104/18 -

LG Saarbrücken v. 02.11.2018: Auffahrunfall mit Fahrschulwagen im Kreisverkehr (Haftungsverteilung 70:30 zu Lasten des Auffahrenden)




Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 02.11.2018 - 13 S 104/18) hat entschieden:

1. Jeder Verkehrsteilnehmer, der einem deutlich als solchen gekennzeichneten Fahrschulfahrzeug folgt, muss mit plötzlichen und sonst nicht üblichen Reaktionen, auch ohne dass sie durch eine vor dem Fahrschulfahrzeug bestehende Verkehrssituation hervorgerufen werden, rechnen und seine Fahrweise darauf einstellen. Denn das grundlose Abbremsen oder auch „Abwürgen“ des Motors gehört zu den typischen Anfängerfehlern eines Fahrschülers.

2. Die Verpflichtung, den Sicherheitsabstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug so zu bemessen, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird, trifft grundsätzlich jeden Verkehrsteilnehmer. Der nachfolgende Fahrer hat aber besondere Vorsicht walten zu lassen, denn die deutliche Kenntlichmachung von Fahrschulfahrzeugen bei Übungsfahrten dient dem Zweck, auf das insoweit erhöhte Risiko eines unangepassten Fahrverhaltens, vorliegend in Form des unvermittelten Abbremsens ohne zwingenden Grund, hinzuweisen.


Siehe auch
Kreisverkehr - Rondell
und
Fahrschule - Fahrlehrer - Fahrschüler - Fahrschulunterricht - Fahrunterricht - Führerscheinausbildung

Gründe:


I.

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf hälftigen Ausgleich von Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 15.09.2017 in … ereignete.

Dabei befuhren der Beklagte zu 1) als Fahrlehrer sowie ein am Steuer sitzender Fahrschüler mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug der Fahrschule … (amtl. Kennz. …) zunächst die … Straße in … Richtung …, gefolgt von dem Ehemann der Klägerin in deren Ford Fiesta (amtl. Kennz. …). Beide Fahrzeuge fuhren sodann hintereinander in den Verkehrskreisel ein, um diesen in der ersten Ausfahrt Richtung … wieder zu verlassen. Beim Ausbiegen aus dem Kreisel bremste das als solches gekennzeichnete Fahrschulauto unvermittelt stark ab, so dass das dahinter befindliche klägerische Fahrzeug auf dieses auffuhr. Den hierdurch entstandenen Schaden bezifferte die Klägerin auf 6.773,17 € Reparaturkosten (netto), eine Wertminderung von 650 €, eine Auslagenpauschale von 26 € sowie Kosten für das Privatgutachten in Höhe von 1.143,97 €, insgesamt 8.593,14 €, wovon sie 50 % außergerichtlich geltend machte. Eine Zahlung der Beklagten erfolgte nicht.

Mit der Klage hat die Klägerin den hälftigen Schadensersatzanspruch in Höhe von 4.296,57 € weiterverfolgt sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 404,06 €, jeweils nebst Rechtshängigkeitszinsen, gefordert. Sie hat behauptet, der Fahrschulwagen sei grundlos abgebremst worden.

Die Beklagten sind der Klage entgegen getreten. Sie haben behauptet, das abrupte Abbremsen sei verkehrsbedingt erforderlich gewesen, weil ein älterer Mann drohte, vor dem Fahrschulfahrzeug über die Straße zu laufen.




Das Amtsgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen teilweise Bezug genommen wird, hat der Klage unter Abweisung eines geringfügigen Abzugs bei der Auslagenpauschale in Höhe von 4.296,07 € zuzüglich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten von 404,06 €, jeweils nebst Zinsen, stattgegeben. Mangels Nachweises eines zwingenden Grundes für das Abbremsen einerseits und fehlenden Sicherheitsabstands zu dem Fahrschulfahrzeug andererseits stünden sich auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO und auf Klägerseite ein Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO gegenüber, was eine hälftige Haftungsverteilung rechtfertige. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten mit dem Ziel der vollumfänglichen Klageabweisung. Sie vertreten die Auffassung, bei einem vorschriftsmäßig gekennzeichneten Fahrschulfahrzeug müsse stets damit gerechnet werden, dass ein Fahrschüler unangemessen auf Personen am Straßenrand reagiere und zu stark bzw. ohne hinreichenden Anlass abbremse, weshalb den Auffahrenden die vollständige Haftung treffe. Die Klägerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache teilweise Erfolg. Die der Berufungsentscheidung nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine abweichende Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

1. Der rechtliche Ausgangspunkt des Amtsgerichts, dass sowohl die Beklagten als auch die Klägerin grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7,17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte, wird von der Berufung nicht in Zweifel gezogen.




2. Das Erstgericht hat in die danach gebotene Haftungsabwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG einen der Beklagtenseite zuzurechnenden Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO eingestellt, da das Fahrschulauto ohne zwingenden Grund stark abgebremst worden sei. Dies nimmt die Berufung hin.

3. Ferner hat der Erstrichter einen der Klägerin zuzurechnenden Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO aufgrund unzureichenden Sicherheitsabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug eingestellt. Dies ist im Ergebnis zutreffend.

a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (BGH, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 16.01.2007 – VI ZR 248/05, VersR 2007, 557; Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn. 146; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 4, Rn. 42, jeweils m.w.N.).

b) Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann nach allgemeinen Grundsätzen dadurch erschüttert werden, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (BGH, st. Rspr., vgl. Urteil vom 13.12.2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177; vom 16.01.2007 a.a.O. m.w.N.). Soweit dies in Rechtsprechung und Literatur in Fällen in Betracht gezogen wird, in denen dem Auffahrenden der Nachweis gelingt, dass der Vorausfahrende sein Fahrzeug ohne zwingenden Grund stark abbremste (vgl. Helle in: Freymann/Wellner, a.a.O., Rn. 51.1 m.w.N., zur gegenteiligen Auffassung: OLG Karlsruhe, Urteil vom 28. April 2017 – 9 U 189/15, NJW 2017, 2626) kann dies jedenfalls nicht für Unfallsituationen gelten, in denen mit einem abrupten Abbremsen auch ohne zwingenden Grund gerade typischerweise zu rechnen ist.

c) So liegt der Fall hier: Jeder Verkehrsteilnehmer, der einem deutlich als solchen gekennzeichneten Fahrschulfahrzeug folgt, muss mit plötzlichen und sonst nicht üblichen Reaktionen, auch ohne dass sie durch eine vor dem Fahrschulfahrzeug bestehende Verkehrssituation hervorgerufen werden, rechnen und seine Fahrweise darauf einstellen (AG München, Urteil vom 14.06.2005 – 322 C 36909/04; AG Hannover, Urteil vom 05.07.2013 – 417 C 3415/13, AG München, Urteil vom 23.09.1971 – 10 C 2090/70). Denn das grundlose Abbremsen oder auch „Abwürgen“ des Motors gehört zu den typischen Anfängerfehlern eines Fahrschülers. Dementsprechend kann der Umstand, dass der Fahrschulwagen nach den Feststellungen des Erstgerichts vorliegend ohne zwingenden Grund abgebremst wurde, nicht zu einer Erschütterung des Anscheinsbeweises herangezogen werden, weshalb es auf Klägerseite bei dem festgestellten Sorgfaltsverstoß gegen § 4 Abs. 1 S.1 StVO verbleibt.


4. Mit Erfolg wendet sich die Berufung allerdings gegen die Annahme gleichwertiger Verursachungsbeiträge im Rahmen der Haftungsverteilung.

a) Soweit das Amtsgericht von einer hälftigen Mitverursachung beider Seiten ausgegangen ist, würdigt dies die gesonderte Sorgfaltspflicht des hinter dem Fahrschulwagen befindlichen Fahrzeugs nicht ausreichend. Die Verpflichtung, den Sicherheitsabstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug so zu bemessen, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn plötzlich gebremst wird, trifft grundsätzlich jeden Verkehrsteilnehmer. Vorliegend hatte der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs aber zudem besondere Vorsicht walten zu lassen, denn die deutliche Kenntlichmachung von Fahrschulfahrzeugen bei Übungsfahrten dient dem Zweck, auf das insoweit erhöhte Risiko eines unangepassten Fahrverhaltens, vorliegend in Form des unvermittelten Abbremsens ohne zwingenden Grund, hinzuweisen (AG München, a.a.O. – 322 C 36909/04). Anders als in dem vom LG Ellwangen (Urteil vom 15.11.1979 – III S 3/79 (11); VersR 1980, 586) entschiedenen Fall, das eine hälftige Haftungsverteilung angenommen hatte, kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass in der streitgegenständlichen Verkehrssituation mit einem abrupten Abbremsen des Fahrzeugs grundsätzlich unter keinen Umständen zu rechnen gewesen wäre. Denn der Ehemann der Klägerin hat bei seiner Vernehmung selbst angegeben, die herannahende Person in einer Entfernung von ca. 4 Metern wahrgenommen zu haben (Bl. 71 d.A.). Eine Reaktion des voranfahrenden Fahrschulwagens auf die sich der Fahrbahn nähernde Person war daher nicht völlig fernliegend und hätte bei der Wahl des Sicherheitsabstands einkalkuliert werden müssen.

b) Andererseits wurde der Fahrschulwagen vorliegend beim Verlassen des Kreisverkehrs und damit an einer Stelle bis zum Stillstand abgebremst, die dem nachfolgenden Verkehr räumlich wenig Reaktionsmöglichkeiten lässt, ggfs. zu einem Anhalten innerhalb des Kreisels zwingt und damit besonders gefährlich ist. Aus diesem Grund tritt die Betriebsgefahr des Fahrschulfahrzeugs hier nicht zurück. Die Kammer hält vielmehr eine Haftungsverteilung von 70 % zu Lasten der Klägerin und 30 % zu Lasten der Beklagten für gerechtfertigt.



Ausgehend von einem Gesamtschadensbetrag von 8.592,14 € ergibt sich damit ein Schadensersatzanspruch der Klägerin von 2.577,64 €.

5. Daneben kann die Klägerin nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB Ersatz ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von 2.577,64 € verlangen (BGH, Urteil vom 20.05.2014 – VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Gemäß §§ 13, 14 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 VV RVG stehen ihr eine 1,3 Geschäftsgebühr (vgl. BGH, Urteil vom 27.05.2014 – VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) in Höhe von 261,30 € zzgl. 20 € Kostenpauschale und 53,45 € MwSt. = 334,75 € zu.

Die Entscheidung wegen der Zinsen folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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