Das Verkehrslexikon

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Oberverwaltungsgericht Münster Beschluss vom 09.07.2021 - 8 B 975/21 - Eilverfahrfen gegen die Anordnung eines Verkehrsverbots für Krafträder

OVG Münster v. 09.07.2021: Eilverfahrfen gegen die Anordnung eines Verkehrsverbots für Krafträder




Das Oberverwaltungsgericht Münster (Beschluss vom 09.07.2021 - 8 B 975/21) hat entschieden:

   Im Verfahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes dürfen die Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern. Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können. Die Gerichte müssen in derartigen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage regelmäßig nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen.

Siehe auch
Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen
und
Streckenverbote


Gründe:


Die Beschwerde des Antragstellers, mit der er seinen im erstinstanzlichen Verfahren erfolglos gebliebenen, gegen den Antragsgegner zu 1. gerichteten (sinngemäßen) Antrag,

   die aufschiebende Wirkung der am 3. April 2021 erhobenen Klage gegen die verkehrsrechtlichen Anordnungen des Antragsgegners zu 1. vom 6. November 1981 und vom 13. August 1982, durch die für die Landesstraße XY zwischen der Einmündung der Straße P. in C. und der Einmündung der Straße T. die Beschilderung des Verkehrszeichens 255 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO angeordnet und durch deren Aufstellung umgesetzt wurde,

weiter verfolgt, hat keinen Erfolg. Sein Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, stellt den angegriffenen Beschluss nicht durchgreifend in Frage.

Die Beschwerdebegründung macht ohne Erfolg geltend, dass die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene gerichtliche Interessenabwägung entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts zu Gunsten des Antragstellers ausfällt.

1. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers gegen die verkehrsrechtlichen Anordnungen des Antragsgegners zu 1. vom 6. November 1981 und vom 13. August 1982 sowie die zu ihrer Umsetzung aufgestellten Verkehrszeichen als offen zu beurteilen seien, weil diese jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig seien. Ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 9 StVO, wofür nach Aktenlage allerdings einiges spreche, erfüllt seien bzw. ob der Antragsgegner zu 1. seiner Pflicht nachgekommen sei, unter Berücksichtigung auftretender Veränderungen der tatsächlichen und/oder rechtlichen Verhältnisse seine verkehrsrechtlichen Anordnungen und Verkehrszeichen zu überprüfen und dabei (erneut) Ermessen auszuüben, bleibe der Überprüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache unabhängige Interessenabwägung falle zu Lasten des Antragstellers aus.




2. Diesen näher begründeten Annahmen setzt das Beschwerdevorbringen nichts Durchgreifendes entgegen.




a) Die im Kern auf eine Verkennung der Prüfungsintensität zielende Rüge, der angegriffene Beschluss sei deshalb fehlerhaft, weil das Verwaltungsgericht davon abgesehen habe, die Überprüfung der in § 45 StVO vorgesehenen Ermessungsausübung zum jetzigen Zeitpunkt vorzunehmen und dies vollständig dem Hauptsacheverfahren vorbehalten habe, bleibt ohne Erfolg.

Aus § 80 Abs. 5 VwGO ergibt sich nicht, dass die Gerichte bei der Entscheidung über die Regelung der Vollziehung von Verwaltungsakten stets eine Vollkontrolle ihrer Rechtmäßigkeit durchführen müssten und sich nicht auf eine summarische Prüfung und bei deren Ergebnisoffenheit auf eine erfolgsunabhängige Folgenabwägung beschränken dürften.

Eine solche weitgehende Rechtmäßigkeitskontrolle ist auch von Verfassungs wegen nicht ohne Weiteres erforderlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen im Verfahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern. Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können. Die Gerichte müssen in derartigen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage regelmäßig nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen.

   Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12. März 2019 - 1 BvR 2721/16, juris Rn. 27, m. w. N.

Ausgehend davon legt die Beschwerde nicht hinreichend dar, weshalb das Verwaltungsgericht rechtlich gehindert gewesen sein soll, die Ermessensprüfung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Antragsteller entstünden durch die vorläufige Befolgung der Verkehrsbeschränkung auf dem fraglichen Abschnitt der L 701 keine irreparablen Nachteile, stellt er nicht in Abrede.

Sein Verweis auf die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts vom 29. Mai 2018 - 7 L 692/18 - und nachgehend des Senats vom 6. Juni 2019 - 8 B 821/18 - führt insoweit ebenfalls nicht weiter. Allein der Umstand, dass dort im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine vollständige Ermessenskontrolle durchgeführt wurde, hat - nicht zuletzt mangels Darlegung der Vergleichbarkeit mit der hier in Rede stehenden Fallkonstellation - nicht zur Folge, dass das Verwaltungsgericht hier rechtlich gehindert gewesen ist, diese Prüfung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.

b) Das Beschwerdevorbringen vermag auch die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel zu ziehen, dass die Ermessensausübung des Antragsgegners zu 1. nicht offensichtlich ermessensfehlerhaft ist.


aa) Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO stehen im Ermessen der zuständigen Behörden. Soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Dabei ist es der Straßenverkehrsbehörde aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens vorbehalten festzulegen, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Maßnahmen den bestmöglichen Erfolg verspricht.

   Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 32.09-, juris Rn. 35; Bay. VGH, Urteil vom 5. Juni 2018 - 11 B 17.1503, juris Rn. 37.

Bei der Überprüfung, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der hohen Anforderungen an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 und 3 StVO das Ermessen stark eingeschränkt ist. Bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, zumal bei einer konkreten Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben, ist in der Regel ein Tätigwerden der Behörde geboten und somit ihr Entschließungsermessen reduziert. Die Auswahl der Mittel ist indes nicht in bestimmter Weise durch die Verordnung vorgezeichnet. Abwägungserheblich sind dabei nur qualifizierte Interessen des Klägers bzw. Antragstellers, also solche, die über das Interesse jedes Verkehrsteilnehmers hinausgehen, in seiner Freiheit möglichst wenig beschränkt zu werden.

   Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 32.09 , juris Rn. 45; Bay. VGH, Urteil vom 5. Juni 2018 - 11 B 17.1503 , juris Rn. 38.

Dem Einwand eines von der verkehrsregelnden Anordnung Betroffenen, der qualifizierten Gefahrenlage könne auch mit einem milderen Mittel begegnet werden, muss nur dann nachgegangen werden, wenn er jedenfalls ansatzweise den Nachweis einer ersichtlich sachfremden und damit unvertretbaren Maßnahme geführt hat. Das meint nicht die Verteilung der weiterhin bei der Behörde liegenden Darlegungslast, sondern die inhaltlichen Anforderungen, die mit Blick auf die Einschätzungsprärogative der Straßenverkehrsbehörde an den Gegenvortrag des von einer Verkehrsbeschränkung Betroffenen zu stellen sind.

   Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 32.09 , juris Rn. 36.

bb) Ausgehend davon greift die Beschwerdebegründung zu kurz, wenn sie ohne weitere Auseinandersetzung mit dem angegriffenen Beschluss und im Wesentlichen nur unter Verweis auf die vorgenannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Senats annimmt, es liege ein offensichtlicher Ermessensfehler vor.

Die Beschwerde geht daran vorbei, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzung einer qualifizierten Gefahrenlage, die notwendigerweise Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist, gerade offen gelassen hat. Dass nach der Annahme des Verwaltungsgerichts nach dem ersten äußeren Anschein einiges dafür spricht, entbindet den Antragsteller nicht von weiteren Ausführungen dazu, weshalb die angefochtene Anordnung mit Blick auf die hierfür vom Verwaltungsgericht angeführten Umstände nicht verhältnismäßig sein könnte.

Dies ergibt sich auch nicht von selbst aus den vom Antragsteller zitierten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Senats. Das Beschwerdevorbringen trägt insoweit bereits im Ausgangspunkt nicht hinreichend dem Umstand Rechnung, dass diese Entscheidungen zu einer anderen Straße ergangen sind und daher nicht ohne Weiteres übertragbar sind. Zur Darlegung der vom Antragsteller gerügten Unverhältnismäßigkeit hätte es vielmehr einer näheren Auseinandersetzung mit der naheliegenden Frage bedurft, inwieweit das in den zitierten Beschlüssen festgestellte Gefahrenpotential mit dem Gefahrenpotential des hier streitbefangenen Streckenabschnitts vergleichbar sein könnte.

Die schlichte - insbesondere mit Blick darauf, dass das Verkehrsverbot zunächst auf Sonn- und Feiertage zeitlich beschränkt war und erst nach weiteren Unfallereignissen auf alle Wochentage ausgedehnt wurde, im Übrigen unzutreffende - Behauptung, der Antragsgegner zu 1. habe keine milderen Mittel in Betracht gezogen und geprüft, genügt vor diesem Hintergrund den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht. Lediglich der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass der Senat in dem Beschluss vom 6. Juni 2019 - 8 B 821/18 - nicht den Rechtssatz aufgestellt hat, dass eine vollständige Streckensperrung für einen Teil des Kraftfahrzeugverkehrs eine von vornherein rechtlich nicht zulässige Maßnahme ist.

Soweit der Antragsteller im Übrigen auf seinen erstinstanzlichen Vortrag Bezug nimmt, genügt dies ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.

c) Durfte das Verwaltungsgericht demnach davon ausgehen, dass die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers offen sind, bestehen auch gegen die im Anschluss an diese Feststellung unabhängig vom Ausgang des Hauptsacheverfahrens vorgenommene und zum Nachteil des Antragstellers ausgefallene Interessenabwägung keine Bedenken.



Mit den diesbezüglichen, eingehend begründeten Erwägungen des Verwaltungsgerichts setzt sich das Beschwerdevorbringen bereits nicht auseinander (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die vom Antragsteller erhobene Klage keine aufschiebende Wirkung hat, weil das aus dem Verkehrszeichen 255 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO ergebende Verkehrsverbot für Krafträder in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO sofort vollziehbar ist.

   Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. April 2014 - 3 C 5.13 , juris Rn. 13, m. w. N.

In den Fällen der gesetzlichen Sofortvollzugsanordnung unterscheidet sich die Interessenabwägung von derjenigen, die in den Fällen einer behördlichen Anordnung stattfindet. Während im Anwendungsbereich von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO bei der Interessenabwägung die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers für die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen bedeutsam wird, ist in den Fällen der Nummern 1 bis 3 des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu beachten, dass hier der Gesetzgeber einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet hat und es deshalb besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen.

   Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 , juris Rn. 21, m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 - 4 VR 1005.04 , juris Rn. 12.

Solche besonderen Umstände macht der Antragsteller mit seiner Beschwerde nicht geltend.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und Abs. 3, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und Abs. 2 GKG, Nr. 46.15 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und berücksichtigt, dass Gegenstand des Beschwerdeverfahrens nur die verkehrsrechtlichen Anordnungen des Antragsgegners zu 1. sind.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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