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Oberlandesgericht Hamm Urteil vom 21.04.2021 - 11 U 102/20 - Zur Haftung der Gemeinde bei Übertragung des Winterdienstes auf die Anwohner

OLG Hamm v. 21.04.2021: Zur Haftung der Gemeinde bei Übertragung des Winterdienstes auf die Anwohner




Das Oberlandesgericht Hamm (Urteil vom 21.04.2021 - 11 U 102/20) hat entschieden:

   Überträgt die Gemeinde durch Satzung die Ausführung des Winterdienstes für eine Straße auf die Anwohner, ist sie nicht zur Vornahme von eigenen Räum- und Streuarbeiten verpflichtet. Eine Haftung wegen der Verletzung der ihr verbleibenden stichprobenartigen Kontrollen kommt nur in Betracht, wenn vom insoweit beweispflichtigen Verletzten vorgetragen wird, dass es bei Erfüllung der Kontrollverpflichtung nicht zu dem Unfall gekommen wäre, weil diese voraussetzen würde, dass dieser bei Erfüllung der Kontrollpflicht zum Unfallzeitpunkt einen von den Anwohnern ordnungsgemäß geräumten Gehweg vorgefunden hätte.

Siehe auch
Verkehrssicherungspflicht
und
Stichwörter zum Thema Verkehrszivilrecht


Gründe:


(ohne Tatbestand gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)

I.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg und führt zur Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung dahin, dass die Klage insgesamt abzuweisen ist.

Die Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht aufgrund des Unfallgeschehens vom 24.01.2015 auf der C Straße in D kein Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz zu. Entsprechende Ansprüche der Klägerin aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG und §§ 9, 9a, 47 Abs. 1 StrWG NRW als der hier einzig ernsthaft in Betracht kommende Anspruchsgrundlage scheitern daran, dass die Beklagte wegen Übertragung des Winterdienstes auf die Streithelfer nicht zu eigenen Räum- und Streumaßnahmen an der Unfallstelle verpflichtet gewesen ist (1.) und hinsichtlich der der Beklagten zur Last fallende Verletzung ihrer allgemeinen Kontrollpflicht, ob die von ihr mit der städtischen Reinigungssatzung auf die Anlieger übertragende Winterwartungsarbeiten auch tatsächlich von diesen ausgeführt werden, nicht festgestellt werden kann, dass diese für den Sturz der Klägerin kausal geworden ist (2).




1. Die Beklagte war nicht verpflichtet, vor dem Sturz der Klägerin an der von dieser behaupteten Unfallstelle selbst Räum- und Streumaßnahmen durchzuführen.

a) Nach ihrem Behaupten will die Klägerin zum Unfallzeitpunkt vom T- Weg kommend die C Straße in Richtung N Straße auf dem rechts von der C Straße gelegenen gepflasterten Streifen entlanggegangen und kurz vor Erreichen dessen Endes an der auf den Lichtbildern Blatt 15 der Akte gezeichneten Stelle infolge Schnee- und Eisglätte zu Fall gekommen sein. Nach den zutreffenden und mit der Berufung - auch von den Streithelfern - nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts handelt es sich bei dem gepflasterten Streifen um einen für den Fußgängerverkehr vorgesehenen Gehweg. Für diesen hatte aber die Beklagte mit ihrer zum Unfallzeitpunkt gültigen Straßenreinigungs- und Gebührensatzung vom 23.11.1978 in der Fassung der 34. Änderungssatzung vom 15.12.2014 die Reinigungspflicht einschließlich der Winterwartung wirksam auf die Streithelfer übertragen.

Mit § 2 Absatz 1 der genannten Satzung wurde von der Beklagten die Reinigungspflicht für die Straßen, zu der nach § 1 Absatz 2 der Satzung auch die Winterwartung gehört, in dem in § 3 und § 4 der Satzung festgelegten Umfang den Eigentümern und Eigentümerinnen der an sie angrenzenden und durch sie erschlossenen Grundstücke auferlegt. Gemäß § 3 Absatz 1 Satz 3 der Satzung erstreckt sich die Reinigungspflicht einschließlich der Winterwartung bei Straßen der Reinigungsklasse 08, zu denen unstreitig auch die C Straße gehört, (nur) auf die Gehwege. Das Grundstück Gemarkung G 1 , welches ausweislich der vom Landgericht eingeholten Auskunft des Katasteramtes der Stadt D im Eigentum der Streithelfer steht, grenzt ausweislich der der Auskunft beigeführten Flurkarte unmittelbar an die C Straße an. Es wird auch im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 der Satzung durch die C Straße erschlossen. Denn nach § 5 der Satzung reicht hierfür aus, dass der Eigentümer oder die Eigentümerin die tatsächliche und rechtliche "Möglichkeit" hat, von der Erschließungsanlage eine Zufahrt oder wenigstens einen Zugang zu seinem oder ihrem Grundstück zu nehmen, ohne dass dabei von Belang ist, ob er von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Dabei stellt § 5 Satz 1 der Satzung ergänzend klar, dass die Möglichkeit zur Schaffung eines entsprechenden Zugangsweges in der Regel auch dann besteht, wenn das Grundstück durch Anlagen wie Gräben, Böschungen, Grünanlagen, Mauern oder in ähnlicher Weise von der Straße getrennt ist. Damit steht weiter im Einklang, dass nach § 2 Absatz 1 Satz 3 der Satzung die Reinigungspflicht für den angrenzenden Grundstückseigentümer auch dann besteht, wenn zwischen seinem Grundstück und der Straße ein Böschung, ein Rasenstreifen, eine gärtnerische oder sonstige zum Straßengelände gehörende Anlage oder ein dem Fahrzeugverkehr dienender Parkstreifen liegt. Eine hiervon abweichende Regelung sieht § 2 Absatz 1 Satz 4 der Satzung allein für den Fall vor, dass das angrenzende Grundstück nach der Straße hin durch einen Wasserlauf, offene Gräben oder sonstige wasserwirtschaftliche Anlagen begrenzt wird, wobei sich aus dem Kontext der Regelung ergibt, dass hier mit "offene Gräben" Wassergräben gemeint sind. Allein für diese Fälle macht § 2 Absatz 1 Satz 4 der Satzung die Übertragung der Reinigungspflicht zusätzlich davon abhängig , dass zwischen der Straße und dem Grundstück eine (tatsächliche) Verbindung besteht.

Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn ausweislich der von der Beklagten im Berufungsverfahren vorgelegten Lichtbilder Blatt 511 bis 520 der Akten gibt es zwischen der C Straße und dem Grundstück der Streithelfer keinen Wassergraben. Allenfalls auf den in Richtung T Weg gelegenen letzten Metern der Grundstücksgrenze gibt es ausweislich der Lichtbilder Blatt 511 und 512 der Akten eine leichte Mulde zwischen der Straße und dem auf dem Grundstück der Streithelfer stehenden Gartenzaun. Von einer Begrenzung des Flurstücks G 1 zu der C Straße hin durch einen Wassergraben kann danach aber keine Rede sein. Soweit von den Streithelfern in erster Instanz mit Schriftsatz vom 30.06.2016 Lichtbilder vorgelegt wurden, auf denen neben der C Straße ein tieferer Graben zu sehen ist (Lichtbilder Blatt 45, 46, 47, 49 und 50), zeigen diese einen anderen Abschnitt der C Straße.

b) Die Beklagte ist auch nicht dazu verpflichtet gewesen, die einzelne vereiste Stelle, welche sich nach dem Behaupten der Klägerin an der Unfallstelle unter der Schneedecke befunden und zu ihrem Sturz geführt haben soll, schon vor dem Unfalltag zu beseitigen. Dabei kann letztlich dahinstehen, ob es sich bei der von der Klägerin angeführten vereisten Stelle nur um eine einzelne Glättestelle gehandelt hat, welche noch keine Räum- und Streupflicht begründet würde (BGH, Urteil vom 12.06.2012, VI ZR 138/11 - Rz. 7 juris), oder diese von einer allgemeinen Glättebildung an den Vortagen des Unfalls, für die die Klägerin indes schon nichts vorgetragen hat, zurückgeblieben ist. Denn selbst wenn Letzteres der Fall gewesen sein solle, hätte diese nicht von der Beklagten, sondern wegen der mit der Straßenreinigungssatzung erfolgten Übertragung des Winterdienstes auf die Streithelfer von diesen beseitigt werden müssen.

c) Die Beklagte ist entgegen der Ansicht des Landgerichts am Unfalltag auch nicht zur Vornahme einer Ersatzstreuung verpflichtet gewesen. Zu einer solchen im Wege der Ersatzvornahme für die Streithelfer vorgenommenen Ersatzstreuung wäre die Beklagte allenfalls dann verpflichtet gewesen, wenn sie Kenntnis davon gehabt hätte oder jedenfalls hätte haben müssen, dass die Streithelfer am Unfalltag ihrer Räum- und Streupflicht bis zum Unfallzeitpunkt nicht nachgekommen waren. Auch hiervon kann indes nicht ausgegangen werden. Denn die Beklagte ist nicht dazu verpflichtet gewesen, am Unfalltag noch vor dem Unfallgeschehen sämtliche im Straßenreinigungsverzeichnis aufgeführten Straßen und damit auch die C Straße daraufhin zu kontrollieren, ob die dortigen Anlieger die ihnen übertragenen Winterwartung durchführen. Denn damit würde die mit der Übertragung der Winterdienstpflicht bezweckte Entlastungswirkung konterkariert (OLG Hamm, Urteil vom 06.03.2009, I-9 U 153/08 - Rn. 21 juris). Zu verlangen ist von der Beklagten allein eine regelmäßige stichprobenartige Überwachung der übertragenen Winterdienstpflicht im Stadtgebiet. Eine Verpflichtung, eine dahingehende stichprobenartige Kontrolle gerade am Unfalltag noch vor dem Unfallereignis ausgerechnet in der C Straße durchzuführen, ergab sich hieraus für die Beklagte nicht. Zu einer solchen Kontrolle wäre die Beklagte nur dann verpflichtet gewesen, wenn hierfür ein konkreter Anlass bestanden hätte, etwa wenn die Beklagte durch in den Vortragen durchgeführte Kontrollfahrten und/oder durch Hinweise Dritter davon Kenntnis davon erlangt hätte, dass die Anlieger der C Straße ihrer Winterdienstpflicht nicht nachkommen. Dafür ist jedoch weder etwas von der Klägerin vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.




2. Die Beklagte haftet der Klägerin aber auch nicht wegen Verletzung ihrer Verpflichtung, die Einhaltung der auf die Anlieger übertragenen Räum- und Streupflicht zumindest stichprobenartig im Stadtgebiet zu kontrollieren.

Zwar ist zu Gunsten der Klägerin davon ausgehen, dass die Beklagte ihrer dahingehenden Kontrollpflicht in den letzten 12 Monaten vor dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen nicht nachgekommen ist. Denn trotz des ihr mit der Ladungsverfügung vom 04.01.2021 erteilten Hinweises hat die Beklagte nichts dazu vorgetragen, am welchen einzelnen im Stadtgebiet gelegenen Straßen sie innerhalb des letzten Jahres vor dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen mit welchem Ergebnis entsprechende Kontrollen durchgeführt hat. Der Senat vermag jedoch nicht festzustellen, dass der der Beklagten damit zur Last fallende Verstoß gegen die Kontrollpflicht für das streitgegenständlichen Unfallereignis ursächlich geworden ist. Dabei kann nach abschließender Beratung des Senats letztlich dahinstehen, ob es an der Ursächlichkeit der Kontrollpflichtverletzung bereits fehlt, weil die Streithelfer - wie diese geltend machen - zum Zeitpunkt des Unfallereignis noch nicht zur Durchführung vom Räum- und Streumaßnahmen auf den Gehweg verpflichtet gewesen sind, weil ihnen wegen anhaltenden Schneefalls solche nicht zumutbar waren, oder aber der Schneefall erst so kurz vor dem Unfallereignis geendet hatte, dass sie wegen einer ihnen zuzugestehenden Wartefrist mit diesen noch nicht begonnen haben mussten. Denn eine Ursächlichkeit der Kontrollpflichtverletzung für den Sturz der Klägerin kann jedenfalls deshalb nicht festgestellt werden, weil diese weiter voraussetzen würde, dass die Klägerin bei Erfüllung der Kontrollpflicht zum Unfallzeitpunkt einen von den Streithelfern ordnungsgemäß geräumten Gehweg vorgefunden hätte. Diesen Nachweis hat indes die Klägerin, die als Geschädigte grundsätzlich auch die Beweislast für die Kausalität der Amtspflichtverletzung für den geltend gemachten Schaden trägt (BGH, Urteil vom 04.03.2004, III ZR 225/03), nicht erbringen können. Der Klägerin kommt insoweit weder ein Anscheinsbeweis noch eine Umkehr der Beweislast zu Gute.

Soweit nach der Rechtsprechung bei feststehender Verletzung der Räum- und Streupflicht zugunsten des Verunfallten ein Anscheinsbeweis dafür spricht, dass es ohne die Pflichtverletzung nicht zu einem Unfall gekommen wäre (BGH, Urteil vom 20.06.2013, III ZR 326/12 - Rz. 16 juris), gilt dies nur für die Verletzung der - hier den Streithelfern übertragenen - Räum- und Streupflicht, nicht aber für die bei der Beklagten verbliebenen Kontrollpflicht. Denn hierfür fehlt es an der für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderlichen Typizität des Lebenssachverhaltes. Angesichts des Umstandes, dass das Nichteinhalten der Streupflicht auf einer Vielzahl von Ursachen beruhen kann, die nicht durch rein präventiv wirkende Kontrollen beeinflusst werden können, lässt sich nach der Lebenserfahrung nicht mit hinreichender, den Anscheinsbeweis rechtfertigender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass eine Einhaltung der Kontrollpflicht dazu geführt hätte, dass der hier in Rede stehende Gehweg am Unfalltag von den Streithelfern zum Unfallzeitpunkt bereits geräumt und gestreut gewesen wäre (OLG Hamm, Urteil vom 06.03.2009, I-9 U 153/08 - Rz. 23 juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.10.2017, 3 U 186/16 - Rz. 49 juris; OLG Brandenburg, Urteil vom 05.08.2008, 2 U 15/07 - Rz. 28 juris).



Der Senat sieht für den vorliegenden Fall auch keine Grundlage für eine Umkehr der Beweislast. Soweit das Oberlandesgericht Celle wegen fehlender Dokumentation einer auf einem Parkplatzgelände turnusmäßig durchzuführenden Kontrolle eine Kontrollpflichtverletzung bejaht und die Auffassung vertreten hat, dass dem Geschädigten hinsichtlich deren Kausalität für das Unfallgeschehen eine Beweislastumkehr zu Gute komme, weil sich durch die fehlende Kontrolle das Risiko des Unfalls jedenfalls erhöht habe (OLG Celle, Urteil vom 13.11.2002, 9 U 121/01 - Rz. 16 f. juris), kann dies allenfalls für Fälle gelten, in denen - wie dort - der Sicherungspflichtige die Kontrolle im nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen hätte durchführen müssen. Eine solche im nahen zeitlichen Zusammenhang zum Unfallereignis stehende Kontrollpflicht hätte für die Beklagte vorliegend aber nur dann bestanden, wenn es schon so lange vor dem streitgegenständlichen Unfallgeschehen zu Schnee- und Eisglätte im Stadtgebiet der Beklagten gekommen wäre, dass von dieser bei Beachtung der vorrangig von ihr selbst zu erfüllenden Räum- und Streupflichten noch vor dem streitgegenständlichen Unfallereignis stichprobenartige Kontrollen der auf die Anlieger übertragenen Winterdienstpflicht zu erwarten gewesen wären. Das ist jedoch weder von der Klägerin dargetan worden, noch sonst ersichtlich. Allein die Aussage der Zeugin K, dass ihrer Erinnerung nach bereits am Vortag des Unfalls Schnee gelegen habe, reicht dafür nicht aus.

B.

Mangels Haftung der Beklagten dem Grunde nach erweist sich damit zugleich die Anschlussberufung der Klägerin, mit der diese ihre über die erstinstanzliche Verurteilung der Beklagten hinausgehenden Zahlungsansprüche weiterverfolgt, von vornherein als unbegründet.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

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