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Kammergericht Berlin Urteil vom 18.02.2019 - 25 U 16/18 - Haftungsverteilung bei Kollision eines vom Radweg auf den Schutzstreifen wechselnden Fahrradfahrers mit einem Kfz

KG Berlin v. 18.02.2019: Haftungsverteilung bei Kollision eines vom Radweg auf den Schutzstreifen wechselnden Fahrradfahrers mit einem Kfz




Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 18.02.2019 - 25 U 16/18) hat entschieden:

  1.  Wer als Fahrradfahrer von einem Radweg über einen abgesenkten Bordstein auf einen dort beginnenden Fahrradschutzstreifen wechselt, hat sich dem Wortlaut des § 10 Satz 1 StVO nach zwar dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

  2.  Verkehrsführung und Regelungszweck des § 10 Satz 1 StVO gebieten indessen, dieses Fahrverhalten nicht an den dort statuierten Sorgfaltsanforderungen zu messen, da der Fahrradverkehr auf dem Schutzstreifen grundsätzlich Vorrang hat und gegenüber dem die Fahrbahn nutzenden Verkehr privilegiert ist.(

  3.  Unterlässt der Radfahrer vor dem Einfahren auf den Schutzstreifen einen seitlichen Kontrollblick auf die Fahrbahn, wodurch der Unfall vermeidbar gewesen wäre, kommt allerdings dessen Mithaftung nach §§ 9 StVG, 254 BGB in Betracht.

Siehe auch
Schutzstreifen für 1Radfahrer - Angebotsstreifen
und
Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer


Gründe:


I.

Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend. Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils wird gemäß § 540 Abs. 2 ZPO Bezug genommen. Diese werden wie folgt ergänzt:

Das Landgericht hat die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 16.000 EUR und zum Ersatz materieller Schäden in Höhe von 1.687,14 EUR verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Unfall habe sich bei Betrieb des vom Beklagten zu 1) geführten Kraftfahrzeuges ereignet. Umstände, die eine Mithaftung des Klägers gemäß § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB rechtfertigten, hätten die Beklagten weder dargelegt noch bewiesen.

Zu Lasten des Klägers greife kein Anscheinsbeweis wegen eines Verstoßes gegen § 10 StVO. Der Kläger sei nicht "Einfahrender” im Sinne dieser Vorschrift, weil er Teil des fließenden Verkehrs gewesen sei. Er habe nämlich bereits vor dem Wechsel auf den Fahrradschutzstreifen den Radweg befahren. Gegenteiliges habe der Beklagte zu 1) in seiner Anhörung nicht angeben können. Dass der Kläger vom Radweg über einen abgesenkten Bordstein auf den Schutzstreifen gewechselt habe, mache ihn nicht zu einem "Einfahrenden” im Sinne von § 10 StVO. Die Verkehrsführung habe ihm deutlich gemacht, dass er vom Radweg über den abgesenkten Bordstein auf den Schutzstreifen habe wechseln müssen. Ein Weiterfahren auf dem Gehweg wäre nicht zulässig gewesen. Einen Vorrang der auf der Fahrbahn befindlichen Fahrzeuge habe er nicht beachten müssen, weil der Radweg als Fahrradschutzstreifen weitergeführt worden sei, der gerade dem Schutz von Radfahrern diene. Die Situation sei derjenigen vergleichbar, dass ein Radweg mit einem abgesenkten Bordstein über eine Kreuzung geführt werde. Da sich der Unfall in engem zeitlich-räumlichem Zusammenhang mit dem Fahren des Klägers auf dem Fahrradschutzstreifen ereignet habe, müssten die Beklagten beweisen, dass der Unfall nicht durch mangelnden seitlichen Abstand verursacht worden sei. Hierzu fehle substantiierter Vortrag. Die Breite des Lkw führe nicht dazu, dass ein "Bedarf” zum Befahren des Schutzstreifens im Sinne von Zeichen 340 zu § 42 StVO bestanden habe.

Der Höhe nach sei ein Schmerzensgeld von 16.000 EUR angemessen. Mithaftungsbegründende Umstände zu Lasten des Klägers, die bei der Bemessung berücksichtigt werden müssten, seien nicht ersichtlich. Der materielle Schaden sei in Höhe von 1.687,14 EUR dargelegt. Von den Zuzahlungen für stationäre Unterbringung/Rehabilitation sei ein Abzug von 10 EUR pro Tag bei einer Haftungsquote von 100 % bzw. 7,50 EUR bei einer Haftungsquote von 75 % vorzunehmen.

Gegen das ihnen am 12. Januar 2018 zugestellte Urteil haben die Beklagten mit am 23. Januar 2018 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 12. März 2018 eingegangenem Schriftsatz begründet.




Zur Begründung führt die Berufung aus, das Landgericht habe die systematische Einordnung der Überleitung des Radweges in den Schutzstreifen verkannt. Der Radweg sei nicht Fahrbahnbestandteil, der Schutzstreifen hingegen schon. Der Kläger sei deshalb im Sinne des § 10 StVO in den fließenden Verkehr eingefahren. Teil des fließenden Verkehrs sei der auf dem Radweg fahrende Kläger nur im Verhältnis zu Ausfahrenden aus einem Grundstück. Die Situation an einer Kreuzung sei nicht vergleichbar, weil auf diese nicht § 10 StVO, sondern § 9 Abs. 3 S. 1 StVO Anwendung finde. Deshalb spreche ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger. Dieser müsse Tatsachen darlegen und beweisen, die für eine Vermeidbarkeit des Unfalls für den Beklagten zu 1) sprächen. Die Betriebsgefahr des Lkw trete hinter dem groben Verschulden des Klägers zurück.

Die Beklagten behaupten in Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages, der Beklagte zu 1) habe den Schutzstreifen freigehalten, indem er teilweise auf die linke Spur ausgewichen sei. Der Kläger sei erst auf die Fahrbahn gewechselt, als sich der vom Beklagten zu 1) geführte Lkw schon neben ihm befunden habe. Sie sind der Auffassung, der Beklagte zu 1) habe nur Rücksicht auf Radfahrer nehmen müssen, die den Schutzstreifen bereits befahren. Jedenfalls sei das Verhalten des Klägers hochgradig selbstgefährdend gewesen. Das Schmerzensgeld sei der Höhe nach zu beanstanden.

Die Beklagten beantragen,

   das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Januar 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Er behauptet, er habe etwa gleichzeitig mit dem Beklagten zu 1) den Beginn des Fahrradschutzstreifens erreicht. Zur Kollision am Heck des Lkw sei es nur wegen der höheren Geschwindigkeit des Lkw gekommen.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 1) persönlich gehört und Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen .... Wegen Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 21. Januar 2019 (Bl. 176) Bezug genommen. Ebenso wurden im Termin vor dem Senat Ausdrucke von Lichtbildaufnahmen der Unfallstelle in Augenschein genommen.




II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 511, 517, 519, 520 ZPO. Sie hat in der Sache teilweise Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf ein Schmerzensgeld von 7.000 EUR und auf Schadensersatz in Höhe von 1.115,11 EUR nach einer Haftungsquote von 50% aus § 18 Abs. 1 StVG, § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 3 VVG zu. Sein weitergehendes Begehren hat keinen Erfolg.

1. Die Beklagten haften dem Grunde nach gemäß §§ 18 Abs. 1 S. 1, 7 Abs. 1 StVG gegenüber dem Kläger. Der Kläger wurde bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG an der Gesundheit verletzt. Der Beklagte zu 1) führte das Kraftfahrzeug zum Unfallzeitpunkt, § 18 Abs. 1 StVG. Die Beklagte zu 2) ist Haftpflichtversicherer gemäß § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG.

2. Der Kläger muss sich aber gemäß § 9 StVG, § 254 BGB ein Mitverschulden in Höhe von 50% entgegenhalten lassen. Ein Mitverschulden ist anzunehmen, wenn der Verletzte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Er muss sich verkehrsrichtig verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der StVO bestimmt, sondern durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr und nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar ist, um diese Gefahr möglichst gering zu halten. Die Verletzung einer Rechtspflicht ist nicht erforderlich (BGH NJW 2014, 2493).

a) Nach diesem Maßstab liegt ein Mitverschulden des Klägers nicht bereits in einem Verstoß gegen § 10 StVO. Diese Vorschrift findet auf die vorliegende Verkehrsführung, in der ein Radweg über einen abgesenkten Bordstein auf einen nur wenige Meter langen Schutzstreifen geführt wird, keine Anwendung, wenn Radfahrer vom Radweg kommend in den Schutzstreifen einfahren.

Nach § 10 S. 1 StVO hat sich, wer von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die Verletzung des Vorfahrtrechts indiziert das Verschulden des Einfahrenden (BGH NJW-RR 2012, 157, NJW-RR 1991, 536). Ereignet sich ein Unfall im Zusammenhang mit dem Einfahren auf die Fahrbahn, streitet der Beweis des ersten Anscheins gegen den Einfahrenden (KG, Beschluss vom 02. November 2010 - 12 U 48/10, BeckRS 2010, 30432) mit der Folge, dass dieser in der Regel in vollem Umfang oder ganz überwiegend haftet (BGH NJW-RR 2012, 157, 158; OLG Saarbrücken NJW-RR 2014, 1056, 1057). Ein Radweg ist ein anderer Straßenteil im Sinne dieser Vorschrift, so dass das Einfahren eines Radfahrers auf die Fahrbahn von einem Radweg grundsätzlich nach dem Maßstab von § 10 StVO zu bewerten ist (OLG Hamm NJW-RR 2016, 1043; OLG Saarbrücken NJW-RR 2014, 1056, 1057; KG NZV 2003, 30).




Nach dem Gesetzeswortlaut unterfällt das Fahrverhalten des Klägers § 10 StVO. Der Unfall hat sich im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Wechsel des Klägers vom Radweg auf den Schutzstreifen ereignet. Der Senat geht davon aus, dass es an der Stelle des Übergangs des Radweges auf den Schutzstreifen zur Kollision kam. Dies ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts, die von den Parteien nicht angegriffen werden und an deren Vollständigkeit und Richtigkeit keine Zweifel bestehen. Der Schutzstreifen ist Teil der Fahrbahn (KG, Beschluss vom 02. November 2010 - 12 U 48/10, BeckRS 2010, 30432). Der Kläger ist deshalb sowohl von einem anderen Straßenteil als auch über einen abgesenkten Bordstein in die Fahrbahn eingefahren. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist unerheblich, ob der Kläger vor dem Einfahren auf die Fahrbahn Teil des fließenden Verkehrs war. Die Vorschrift des § 10 StVO setzt nicht voraus, dass der Einfahrende aus dem ruhenden Verkehr auf die Fahrbahn fährt, sondern erfasst auch das Einfahren aus anderen Straßenteilen wie einem Radweg. Auch ist die vorliegende Konstellation entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht mit der Weiterführung eines Radweges über eine Kreuzung vergleichbar, für die gegenüber Abbiegern § 9 Abs. 3 StVO gilt.

Die Verkehrsführung im vorliegenden Fall und der Regelungszweck des § 10 StVO sowie des Zeichens 340 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO gebieten es aber, den Wechsel anders zu bewerten als den Wechsel auf eine Fahrbahn ohne Schutzstreifen. Dies gilt jedenfalls für Radfahrer, die zunächst dem Radweg gefolgt sind und an dessen Ende auf den Schutzstreifen wechseln. Gemäß dem mit Zeichen 340 der Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO verbundenen Ge- bzw. Verbot darf ein Fahrzeugführer durch Leitlinien markierte Schutzstreifen nur bei Bedarf überfahren. Der Radverkehr darf dabei nicht gefährdet werden. Hieraus wird deutlich, dass auf dem Schutzstreifen grundsätzlich der Fahrradverkehr Vorrang hat und gegenüber dem übrigen die Fahrbahn nutzenden Verkehr geschützt werden soll.

Der Schutzstreifen an der Unfallstelle beginnt an der Überleitung des zuvor neben der Fahrbahn geführten Radweges. Er ist für den fließenden Verkehr deutlich erkennbar dessen Fortsetzung und weist eine Länge von nur wenigen Metern auf. Der Schutzstreifen ist also nicht zur längeren Nutzung durch Radfahrer eingerichtet, sondern gerade zu dem Zweck, Radfahrer bei einem Wechsel von dem endenden Radweg auf die Fahrbahn zu schützen. Ihnen soll ein flüssiger und sicherer Übergang vom Radweg auf die Fahrbahn ermöglicht werden. Radfahrer befinden sich vor und nach Überqueren des Bordsteins durchgängig in einem Bereich, in dem sie gegenüber Kraftfahrzeugen Vorrang genießen. Dies ist für den fließenden Verkehr auf der Fahrbahn trotz des abgesenkten Bordsteins deutlich erkennbar.

Der Senat ist aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers in der persönlichen Anhörung davon überzeugt (§ 286 ZPO), dass dieser zunächst dem Radweg gefolgt und von dort in den Schutzstreifen eingefahren ist. Der Kläger hat dies glaubhaft angegeben. Die Bekundungen des Zeugen ... führen zu keiner anderen Einschätzung. Zwar hat dieser bekundet, der Kläger sei aus der rechts einmündenden Straße gekommen. Allerdings weckten sowohl die Diktion seiner Aussage als auch seine gesamte Unfallschilderung erhebliche Zweifel daran, dass der Zeuge an das Geschehen noch eine konkrete Erinnerung hatte. Abweichend vom unstreitigen Vortrag der Parteien hat er geschildert, der vom Beklagten zu 1) geführte Lkw habe gestanden. An Einzelheiten hatte der Zeuge auch auf Nachfrage keine Erinnerung. Der Beklagte zu 1) konnte lediglich angeben, er habe den Kläger erstmals im Rückspiegel gesehen, nachdem es zu der Kollision gekommen sei.

Ob der Kläger den Übergang des Radweges auf den Schutzstreifen vor dem Beklagten zu 1) erreicht hatte, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Da die vorliegende Verkehrsführung Radfahrer gerade beim Wechsel auf die Fahrbahn schützen soll, können die Wirkungen des Schutzstreifens entgegen der Berufung nämlich nicht nur für Radfahrer gelten, die diesen bereits befahren, sondern müssen auch auf Radfahrer Anwendung finden, die unmittelbar im Begriff sind vom Radweg in den Schutzstreifen einzufahren.




Die von der Berufung zitierten Entscheidungen betreffen nicht vergleichbare Fallgestaltungen, nämlich eine Kollision zweier Kraftfahrzeuge im Bereich eines Schutzstreifens (KG, Beschluss vom 02. November 2010 - 12 U 48/10), die Haftungsverteilung zwischen dem vorfahrtberechtigten, berechtigterweise einen Schutzstreifen nutzenden Pkw und einem querenden Radfahrer (AG Mitte, Urteil vom 14. November 2011 - 108 C 3467/10, NZV 2012, 381) und die Haftung eines Radfahrers, der vom Radweg auf eine Fahrbahn ohne Schutzstreifen einfuhr (LG Münster, Urteil vom 11. Oktober 2005 - 3 S 58/05).

b) Allerdings liegt ein Mitverschulden des Klägers darin, dass er vor dem Einfahren auf den Schutzstreifen einen seitlichen Kontrollblick auf die Fahrbahn unterlassen hat. Hierdurch wäre der Unfall für den Kläger vermeidbar gewesen.

Nach dem Vertrauensgrundsatz war er zwar grundsätzlich berechtigt, sich auf ein vorschriftsmäßiges Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer zu verlassen (BGH NJW 2003, 1929, 1931). Dies gilt aber nicht, wenn ein offensichtliches fremdes verkehrswidriges Verhalten vorliegt oder wenn der Verstoß bei gehöriger Sorgfalt hätte erkannt werden müssen (Hentschel/König/Dauer-König, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 1 StVO Rn. 24). So liegt es hier. Der vom Beklagten zu 1) geführte Lkw hatte die Unfallstelle vor dem Kläger erreicht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass es unstreitig im Heckbereich des Lkw zur Kollision kam. Bei einer - vom Kläger zugrunde gelegten - Geschwindigkeitsdifferenz von 30-40 km/h und einer Lkw-Länge von 10 m hätte der Kläger die Unfallstelle etwa 0,9-1,2 Sekunden nach dem Beklagten zu 1) erreicht. Die Front des Lkw muss sich dann schon neben dem Kläger befunden haben, als dieser noch auf dem Radweg fuhr. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass der Kläger den Lkw vor seinem Wechsel auf den Schutzstreifen deutlich hören und sodann auch sehen konnte. Gerade angesichts der Größe und potenziellen Gefährlichkeit des Lkw hätte sich der Kläger beim Einfahren auf den Schutzstreifen nicht darauf verlassen dürfen, dass dieser einen ausreichenden Abstand zum Schutzstreifen halten würde. Hätte er unmittelbar vor dem Einfahren den fließenden Verkehr mit einem Kontrollblick erfasst, wären dem Kläger eine Bremsung oder ein Ausweichen auf den Gehweg möglich gewesen. Hierdurch hätte der Unfall verhindert werden können.


3. Bei der gebotenen Haftungsabwägung ist zu Lasten der Beklagten neben der Betriebsgefahr des Lkw zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1) keinen ausreichenden Seitenabstand zum Schutzstreifen einhielt, obwohl der Kläger im Begriff war, in diesen einzufahren, als der Beklagte zu 1) den Übergang vom Radweg zum Schutzstreifen erreichte. Ob darin ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 S. 2 StVO liegt, kann dahinstehen. Selbst wenn der Beklagte zu 1) den Kläger nicht im Sinne des § 5 StVO überholt haben sollte, weil der Kläger erst auf Höhe des Hecks des Lkw auf die Fahrbahn einfuhr, war er gemäß § 1 Abs. 2 StVO zur Einhaltung eines ausreichenden Abstandes zum Schutzstreifen verpflichtet. Aus den unter 2. a) ausgeführten Erwägungen folgt, dass die Fahrbahn nutzende Fahrzeugführer eine Gefährdung von Radfahrern auszuschließen haben, die vom Radweg aus in den Schutzstreifen einfahren. Hierzu gehört auch die Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes. Jedenfalls für einen Lkw ist dieser wie beim Überholen (KG NZV 2003, 30) mit 1,5-2 m zum Radfahrer zu bemessen. Diesen Abstand hat der Beklagte zu 1) nach der Überzeugung des Senats nicht eingehalten. Dies ergibt sich bereits aus den Angaben des Beklagten zu 1), er sei nur etwa einen halben bis einen Meter vom Schutzstreifen entfernt gefahren. Unter Berücksichtigung der die Breite eines Fahrrades kaum übersteigenden Breite des hiesigen Schutzstreifens kann er dann keinen seitlichen Abstand von mindestens 1,5 m eingehalten haben. Nach den örtlichen Gegebenheiten ist weiter davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1) bei Anwendung der ihn treffenden Sorgfaltspflichten den auf dem Radweg fahrenden Kläger rechtzeitig vor dessen Wechsel auf den Schutzstreifen hätte wahrnehmen können. Wegen des besonderen Schutzzwecks dieser Verkehrsführung war er auch gehalten, auf unmittelbar vor dem Wechsel in den Schutzstreifen stehende Radfahrer zu achten. Aus diesen Gründen entfällt eine Haftung des Beklagten zu 1) auch nicht gemäß § 18 Abs. 1 S. 2 StVG.

4. Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 7.000 EUR und auf Ersatz materieller Schäden nach einer Haftungsquote von 50 % in Höhe von 1.115,11 EUR zu.

a) Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände ein Schmerzensgeld von 7.000 EUR für angemessen.

Hierbei ist davon auszugehen, dass der Kläger seinen Klageantrag hinsichtlich des Schmerzensgeldes in der Berufungsinstanz auf einen Mindestbetrag von 16.000 EUR erweitert hat. Das Landgericht ist bei der Höhe des Schmerzensgeldes über den vom Kläger geltend gemachten Mindestbetrag hinausgegangen, weil es anders als der Kläger keinen Mitverursachungsanteil zugrunde gelegt hat. Ob hierin ein Verstoß gegen § 308 ZPO liegt, bedarf keiner Entscheidung, denn ein solcher Verstoß wäre durch den Antrag des Klägers auf Zurückweisung der Berufung geheilt worden. Damit hat der Kläger deutlich gemacht, sich die Ausführungen des Landgerichts jedenfalls hilfsweise zu eigen zu machen (BGH NJW 1990, 1910).

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist in erster Linie dessen Ausgleichsfunktion zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an. Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychischen Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlungen, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden. Dabei muss die Entschädigung zu Art und Dauer der erlittenen Schäden in eine angemessene Beziehung gesetzt werden. Im Rahmen der bei normalen Straßenverkehrsunfällen nur eingeschränkt zu berücksichtigenden Genugtuungsfunktion ist insbesondere die Schwere des Verschuldens des Schädigers in Ansatz zu bringen. Schließlich ist auch das Mitverschulden des Verletzten zu berücksichtigen, wobei dieses bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes nur einen Bemessungsfaktor darstellt (OLG Brandenburg NJOZ 2008, 3993).


Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Kläger bei dem Unfall eine mediale Schenkelhalsfraktur, eine Fraktur der Klavikula (Schlüsselbein), eine Fraktur der Skapula (Schulterblatt) und eine Rippenserienfraktur mit Beteiligung von drei Rippen erlitten. Die Schenkelhalsfraktur zog drei Operationen unter Vollnarkose einschließlich des Einsetzens eines künstlichen Hüftgelenks nach sich. Der Kläger musste sich einer mehrwöchigen stationären Krankenhausbehandlung und einer Rehabilitation unterziehen. Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit dieser Feststellungen bestehen nicht, so dass das Berufungsgericht an diese gemäß § 529 Abs. 1 ZPO gebunden ist. Der Kläger zog sich zudem unstreitig einen Pneumothorax zu, so dass ihm eine Thoraxdrainage gelegt werden musste. Die vom Landgericht festgestellten Verletzungen beeinträchtigten den Kläger in allen wichtigen Körperregionen und schränkten seine Beweglichkeit stark ein. Andererseits hat der Kläger, soweit derzeit ersichtlich, keine Dauerschäden erlitten. Unter Berücksichtigung des Mitverursachungsanteils des Klägers und einer leichten Fahrlässigkeit des Beklagten zu 1) ist ein Schmerzensgeld von 7.000 EUR angemessen.

Weder die vom Landgericht zum Vergleich herangezogenen noch die von der Berufung zitierten Entscheidungen aus der Tabelle nach Hacks/Wellner/Häcker, 34. Aufl. (2016) gebieten eine andere Bemessung des Schmerzensgeldes. Bei der Bemessung der "billigen Entschädigung” gemäß § 253 Abs. 2 BGB sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen (BGH - Vereinigte Große Senate - NZV 2017, 179). Dies verbietet es, die Höhe des Schmerzensgeldes unmittelbar aus Rechtsprechungsübersichten oder Tabellen abzuleiten (Senat, Urteil vom 21. März 2018 - 25 U 156/17). Allerdings hat das Gericht bei der Ausübung seines ihm nach § 287 ZPO eingeräumten Ermessens zu beachten, dass vergleichbare Verletzungen und Beeinträchtigungen möglichst vergleichbare Entschädigungen zur Folge haben sollen, was anhand der Entscheidungen anderer Gerichte überprüfbar ist (Senat, a.a.O. m. w. Nachw.). Dies entbindet aber nicht von einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, zumal es häufig an der Vergleichbarkeit der zugrunde liegenden Konstellationen fehlt. Nach diesem Maßstab fügt sich ein Schmerzensgeld von 7.000 EUR in den Rahmen der vom Landgericht und der Berufung zum Vergleich angeführten Beträge ein.

b) Dem Kläger steht ein Anspruch auf Ersatz materieller Schäden in Höhe von 1.115,11 EUR zu. Die vom Kläger geltend gemachten Schadenspositionen summieren sich bei zutreffender Addition auf einen Betrag von 2.930,22 EUR.

Die Aktivlegitimation und Erforderlichkeit der Aufwendungen für Kurzzeitpflege und osteopathische Behandlungen hat der Kläger nach dem anwendbaren Maßstab des § 287 ZPO unter der Vorlage von Rechnungen hinreichend dargelegt. Dass bei den Verletzungen des Klägers eine Kurzzeitpflege unmittelbar nach der stationären Krankenhausbehandlung sinnvoll war, ist plausibel. Gleiches gilt für die Indikation einer osteopathischen Behandlung nach Schlüsselbeinfraktur. Der vom Landgericht von den Positionen der Zuzahlungen zu stationärer Behandlung und Rehabilitation vorgenommene Abzug für ersparte Verpflegungskosten in Höhe von 10 EUR pro Tag ist nicht zu beanstanden. Dem Grunde nach sind von den zu ersetzenden Kosten einer stationären Heilbehandlung die ersparten Aufwendungen für die Verpflegung abzuziehen (BeckOK BGB/Flume, 48. Ed. 2018, § 249 Rn. 338). Der Höhe nach unterliegen die ersparten Aufwendungen der richterlichen Schätzung. Für einen Erwachsenen sind sie nicht unter 10 EUR pro Tag anzusetzen (Geigel/Pardey, Haftpflichtprozess, 27. Aufl. 2015, 9. Kapitel Rn. 64). Dieser Betrag erscheint auch ausreichend (OLG Hamm NJW-RR 2017, 988). Ausgehend von den vom Landgericht festgestellten 70 Tagen in stationärer Behandlung ergibt sich daraus ein Abzugsbetrag von 700 EUR.



Insgesamt beträgt der materielle Schaden bei einer Haftungsquote von 50% daher 2.930,22 EUR ./. 700 EUR = 2.230,22 EUR x 50% = 1.115,11 EUR.

5. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Senat lässt gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 ZPO die Revision zu wegen der Frage, ob § 10 StVO auf ein Einfahren von einem Radweg auf einen diesen fortsetzenden Schutzstreifen anwendbar ist. Insoweit erfordert die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Dies ist der Fall, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Hierzu besteht Anlass, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH NJW 2002, 3029). So liegt es vorliegend. Es ist davon auszugehen, dass auch andernorts vergleichbare Verkehrsführungen existieren. Gerichtliche Entscheidungen hierzu sind, soweit ersichtlich, bislang nicht ergangen.

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