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OLG Naumburg Urteil vom 16.09.2004 - 4 U 38/04 - Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Überholmanöver in alkoholisiertem Zustand

OLG Naumburg v. 19.09.2004: Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Überholmanöver in alkoholisiertem Zustand




Das OLG Naumburg (Urteil vom 16.09.2004 - 4 U 38/04) geht in der Vollkaskoversicherung von einem Anscheinsbeweis für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit aus, wenn es im Zuge eines Überholmanövers im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit zu einem Unfall kommt:

   Ein Überholmanöver stellt auch für einen nicht alkoholisierten Fahrer erhöhte Anforderungen an sein Fahrverhalten (§ 5 StVO). Führt ein Fahrer im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit ein Überholmanöver durch, hat er als Versicherungsnehmer und damit Gegner des für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 61 VVG beweisbelasteten Versicherers dadurch noch keine Umstände für die Möglichkeit eines abweichendes Geschehensablaufs nachgewiesen, dass er durch das Ausscheren eines vor ihm fahrenden PKW im Rahmen des Überholvorgangs überrascht worden sein will.

Siehe auch
Stichwörter zum Thema Alkohol
und
Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins - Beweis prima facie

Zum Sachverhalt:


Der Kläger nahm die Vollkaskoversicherung in Anspruch. Er hatte auf einer Landstraße im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit eine Fahrzeugkolonne überholt. Als ein anderer Fahrzeugführer aus der Kolonne einen Ausscherversuch unternahm und seiner Beifahrertür dabei nahe kam, verriss der Kläger beim Ausweichen nach links das Lenkrad und geriet sodann nach rechts von der Fahrbahn ab. Das Landgericht verurteilte den Versicherer antragsgemäß. Hiergegen richtete sich dessen Berufung.




Aus den Entscheidungsgründen:


Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Beklagte von der Verpflichtung, gemäß § 12 Nr. 1 II a AKB für den Schadensfall Versicherungsleistung zu gewähren, frei geworden, da der Kläger den streitgegenständlichen Verkehrsunfall grob fahrlässig herbeigeführt hat (§ 61 VVG).

Unter Berücksichtigung des unstreitigen Vorliegens der Voraussetzungen für eine absolute Fahruntüchtigkeit, nämlich einer Blutalkoholkonzentration des Klägers von 1,15 Promille (BGH, VersR 1991, 1367), spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der streitgegenständliche Unfall bei einer Verkehrslage und unter Umständen geschehen ist, die ein Nüchterner in der Regel hätte meistern können (BGH, VersR 1987, 1006; 1988, 733).

Allerdings kann der Anscheinsbeweis dadurch entkräftet werden, dass der Versicherungsnehmer als Gegner des für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 61 VVG beweisbelasteten Versicherers Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte, nicht nur theoretische, Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt (BGH, VersR 1986, 141). Der Kläger wäre deshalb gehalten gewesen, die ernsthafte Möglichkeit darzulegen und zu beweisen, dass die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nicht ursächlich für den Unfall war. Dies ist ihm entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht gelungen.


Im Berufungsrechtszug ist unstreitig, dass der Zeuge G. in dem Moment, in dem sich der Kläger bei seinem Überholvorgang auf seiner Höhe befand, ebenfalls ein Überholmanöver starten wollte und deshalb zum Ausscheren angesetzt hat. Entsprechend den Feststellungen des Landgerichts ist davon auszugehen, dass sich der Zeuge G. mit der Fahrerseite seines PKW kurzzeitig der Beifahrerseite des klägerischen Fahrzeugs angenähert hat. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann im Rahmen dieser Gefahrsituation jedoch nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass auch ein nüchterner Fahrer aus dieser Situation nur die Reaktion an den Tag gelegt hätte, das Lenkrad derart scharf nach links zu lenken, dass das Fahrzeug beim anschließenden Gegensteuern die komplette Fahrbahnbreite nach rechts überquert hat und schließlich rechts neben der Straße zum Stillstand gekommen war. Dem Landgericht ist zuzugeben, dass ein derartiger Fahrfehler auch einem Nüchternen unterlaufen kann, diese allgemeine Möglichkeit reicht jedoch nicht aus, den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGHZ 57, 509; VersR 1976, 729; 1986,141).

Vielmehr hätte der Kläger beweisen müssen, dass der Unfall durch eine andere Ursache herbeigeführt worden ist, die auch ein nüchterner Fahrer nicht hätte vermeiden können. Dies hat beispielsweise das OLG Hamm in einer Entscheidung vom 7. August 1985 bei einem Unfall durch auf der Fahrbahn liegende Holzkeile angenommen (VersR 1986, 1185).

Der Kläger hat jedoch bereits nicht dargelegt, wieso er den Überholvorgang durch eine Reduzierung der Geschwindigkeit nicht abbrechen konnte. Auch hat er nicht dargelegt, wieso er nicht von der Möglichkeit den Zeugen G. durch Betätigung der Hupe zu warnen, Gebrauch gemacht hat. Schließlich ist davon auszugehen, dass der Kläger deutlich schneller als der Zeuge G. gefahren ist, denn diesem nüchternen Fahrer gelang es nach den Schleuderbewegungen des klägerischen Fahrzeugs sein Fahrzeug unbehindert und ohne Kollision zum Stehen zu bringen. Insofern hätte sich dem Kläger als Alternativverhalten auch das weitere Beschleunigen anbieten können, um den Überholvorgang gefahrlos zu beenden. Letztlich ist nach wie vor unklar, wieso der Kläger nur das Ausweichmanöver nach links als Möglichkeit, einen Unfall zu vermeiden, angenommen hat. Diese Unklarheiten gehen aber entgegen der Auffassung des Landgerichts zu Lasten des Klägers, der - wie ausgeführt - Umstände nachzuweisen hat, aus denen sich die ernsthafte und reale Möglichkeit ergibt, dass auch ein nüchterner Autofahrer in die streitgegenständliche Unfallsituation geraten wäre.



Vorliegend ist ferner davon auszugehen, dass der Kläger ohne vorherigen Alkoholgenuss allgemein vorsichtiger gefahren wäre und den Unfall dann vermieden hätte. Insofern ist ohne Bedeutung, ob jeder alkoholisierte Fahrer grundsätzlich dazu neigt, schneller zu fahren oder ob alkoholisierte Fahrer eher dazu neigen, besonders langsam zu fahren. Tatsächlich hat der Kläger sein Fahrzeug im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit enthemmt bewegt, ohne dass ernsthaft in Betracht kommt, dies stehe mit dem Alkoholgenuss nicht in Zusammenhang (vgl. auch OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 101, 103). Immerhin hat er selbst dargelegt, von der Lenkbewegung des Zeugen G. derart aus der Fassung gebracht worden zu sein, dass er nur ein ruckartiges Ausweichen nach links als Ausweg gesehen habe. Hätte der Kläger aber beim Überholvorgang entsprechend § 5 StVO auch auf den vor ihm fahrenden, zu überholenden PKW des Zeugen G. geachtet, und die nicht fern liegende Möglichkeit in Betracht gezogen, dass auch dieser in der Kolonne ein Überholmanöver beabsichtigen könnte, wäre die von ihm geschilderte Überraschungssituation nicht eingetreten.

Schließlich ist zu bedenken, dass die konkrete Situation auch für einen nicht alkoholisierten Fahrer bereits erhöhte Anforderungen an sein Fahrverhalten stellte. Das Überholen stellt nach der StVO ein gefährliches Fahrverhalten dar, was sich aus den umfangreichen Hinweisen des § 5 StVO ergibt. Der Fahrer hat demnach auf nachfolgenden, vorausfahrenden und Gegenverkehr zu achten, so dass an sein Reaktionsvermögen erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Im Übrigen sei bemerkt, dass die offensichtlich anzunehmende starke Lenkbewegung eine typische Reaktion für einen betrunkenen Autofahrer darstellt. Ein nüchterner Autofahrer ist grundsätzlich in der Lage, besonnener zu reagieren. Nochmals: Dass der Unfall auch einem nüchternen Autofahrer hätte geschehen können, ist unerheblich. Entscheidend ist, ob ein nüchterner Autofahrer die Situation besser hätte meistern können. Hiervon ist entsprechend den obigen Ausführungen aber auszugehen, so dass die Beklagte von der Verpflichtung zur Versicherungsleistung frei geworden ist.

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