"Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurteile vom 24. März 1959 - VI ZR 82/58, VersR 1959, 518, 519; vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84, VersR 1986, 343, 344; vom 19. März 1996 - VI ZR 380/94, VersR 1996, 772; vom 16. Januar 2007 - VI ZR 248/05, VersR 2007, 557 Rn. 5; vom 30. November 2010 - VI ZR 15/10, VersR 2011, 234 Rn. 7). Demnach kann bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen (vgl. Senatsurteil vom 30. November 2010 - VI ZR 15/10, aaO mwN). Es reicht allerdings allein das "Kerngeschehen" - hier: Auffahrunfall - als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84, aaO; vom 19. März 1996 - VI ZR 380/94, aaO)."
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"Bei der Ermittlung der sich hiernach ergebenden Haftungsquote gemäß § 17 Abs. 1 StVG dürfen neben unstreitigen Tatsachen nur solche Umstände berücksichtigt werden, die bewiesen sind oder aber auf die sich eine Partei selbst berufen hat (vgl. nur OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.03.2004 – 1 U 152/03, SVR 2005, 28, juris Rn. 5). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass nach dem oben Gesagten sowohl zu Lasten des Klägers als auch zu Lasten der Beklagten zu 1) ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden an dem Verkehrsunfall streitet, wobei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ungeklärt geblieben ist, ob die Unfallbeteiligten tatsächlich gegen ihre sich aus §§ 9 Abs. 5, 10 Satz 1 StVO ergebenden Pflichten verstoßen haben. Wie die Haftungsverteilung in einem solchen Fall vorzunehmen ist, ist umstritten. Der Auffassung, dass sich die tatsächlichen Vermutungen gegenseitig aufheben und die damit verbundenen Beweiserleichterungen wegfallen (so OLG Dresden, Urt. v. 24.04.2002 – 11 U 2948/01, SP 2003, 304, juris Rn. 5), vermag das erkennende Gericht nicht zu folgen. Denn aus dem Vorliegen zweier jeweils zu Lasten der Unfallbeteiligten streitenden Anscheinsbeweise folgt lediglich, dass für den jeweiligen Unfallbeteiligten – wie dargelegt – davon auszugehen ist, dass dieser den Unfall mitverschuldet hat und dementsprechend von einer Haftungsteilung ausgegangen werden muss. Hieraus folgt zugleich, dass andererseits nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass in einem solchen Fall zu Lasten des Abbiegenden ein „feststehendes Unfallverschulden“ in Ansatz zu bringen ist (so aber für einen Auffahrunfall OLG Celle, Urt. v. 28.05.1973 – 5 U 22/72, VersR 1974, 496, das eine Haftungsquote von 80:20 zu Lasten des Auffahrenden annimmt; wohl auch LG Arnsberg, Urt. v. 12.02.2002 – 5 S 230/01, DAR 2002, 317 f., das ohne Berücksichtigung des Anscheinsbeweises aus § 9 Abs. 5 StVO bei einem abrupten Abbremsen zum Zwecke des Rechtsabbiegens lediglich die Betriebsgefahr des Erstfahrzeuges in Ansatz bringt und von einer Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Auffahrenden ausgeht; ähnlich LG Koblenz, Urt. v. 30.01.1974 – 5 O 147/72, VersR 1975, 480 [Haftungsquote von 70:30 zu Lasten des Auffahrenden]). Im Rahmen des § 17 Abs. 1 StVG ist bei einem Aufeinandertreffen eines Anscheinsbeweises für ein alleiniges Verschulden des jeweiligen Unfallbeteiligten vielmehr von einer Haftungsquote von 50:50 auszugehen, wenn die Unfallbeteiligten den jeweils gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis nicht zu widerlegen vermögen, sondern der genaue Unfallhergang letztlich unaufklärbar bleibt (zutreffend OLG Hamm, Urt. v. 08.02.1993 – 3 U 222/92, SP 1994, 140 f.; KG, Urt. v. 25.06.1992 – 12 U 3343/91; LG Essen, Urt. v. 18.05.1993 – 13 S 35/93, SP 1993, 373 f.; AG Oldenburg (Holstein), Urt. v. 25.08.2009 – 23 (22) C 1052/07). Letztlich kann hier nichts anderes gelten als in denjenigen Konstellationen, in denen unaufklärbar bleibt, ob zugunsten bzw. zu Lasten beider Unfallbeteiligten ein Anscheinsbeweis streitet (zur Haftungsteilung in diesen Fällen KG, Urt. v. 26.08.2004 – 12 U 195/03, DAR 2005, 157; OLG Naumburg, Urt. v. 17.12.2002 – 9 U 178/02, NJW-RR 2003, 809 f.; OLG Saarbrücken, Urt. v. 19.07.2005 – 4 U 209/04; OLG Hamm, Urt. v. 23.09.2003 – 9 U 70/03, VersR 2005, 1303; OLG Celle, Urt. v. 26.11.1981 – 5 U 79/81, VersR 1982, 960; LG Detmold, Urt. v. 19.04.2000 – 2 S 19/00, ZfS 2000, 385; LG Köln, Urt. v. 01.08.1991 – 34 S 87/91, NZV 1991, 476; LG Gießen, Urt. v. 16.02.2004 – 3 O 235/03, SP 2005, 84; LG Gießen, Urt. v. 03.05.1995 – 1 S 9/95, ZfS 1995, 409 f.; LG Hamburg, Urt. v. 14.11.2003 – 331 S 114/02; AG Bremen, Urt. v. 20.02.2004 – 9 C 542/03)." |