Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 21.06.2001 - 12 U 1147/00 - Der Anscheinsbeweis spricht bei einem Kreuzungszusammenstoß für das alleinig Verschulden des Wartepflichtigen

KG Berlin v. 21.06.2001: Der Anscheinsbeweis zugunsten des Vorfahrtberechtigten spricht für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen




Stößt ein wartepflichtiges Fahrzeug mit einem vorfahrtberechtigten Fahrzeug zusammen, besteht ein Anscheinsbeweis dahingehend, daß der Unfall durch den Führer des wartepflichtigen Fahrzeugs allein schuldhaft verursacht wurde (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 8 StVO Rd.-Nr. 68).

Siehe auch
Stichwörter zum Thema Vorfahrt
und
Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins - Beweis prima facie

Hierzu hat das Kammergericht Berlin (Urteil vom 21.06.2001 - 12 U 1147/00) entschieden:

   Der Anscheinsbeweis zugunsten des Vorfahrtberechtigten spricht für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen.


Aus den Entscheidungsgründen:


"... 1) Der Unfall stellte für keine der Parteien ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 7 Abs. 2 Satz 1 StVG mit der Folge eines Haftungsausschlusses dar.

Ob insbesondere die Beklagte zu 2) jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat und damit den durchschnittlichen Anforderungen an das Verhalten eines "Idealfahrers" gerecht geworden ist (zum Begriff vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. 2001, § 7 StVG, Rn. 30 m.w.N.), läßt das Beklagtenvorbringen nicht erkennen. Die Beklagten haben zunächst vorgetragen, die Beklagte zu 1) habe sich der Kreuzung G mit einem Tempo von maximal 30 km/h genähert und sich dann durch Schauen nach rechts und links versichert, ob sie die Kreuzung gefahrlos überqueren könne (Schriftsatz vom 15. Juni 1999, S. 2 = Bl. 47 d.A.). Dann haben sie mitgeteilt, die Beklagte zu 1) habe vorfahrtsbedingt angehalten und Einsicht in den Kreuzungsbereich genommen (Schriftsatz vom 31. August 1999, S. 2 = Bl. 74 d.A.). Im Schriftsatz vom 10. August 2000 (Seite 2 = Bl. 137 d.A.) beschreiben die Beklagten den Vorgang nunmehr so: "Die Beklagte zu 1) ist hier vielmehr vorsichtig, in einer Geschwindigkeit von 15 – 20 km/h und unter Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt an die Kreuzung heran- und eingefahren.". Aus diesen voneinander abweichenden Darstellungen läßt sich nicht entnehmen, daß die Beklagte zu 1) die größtmögliche Sorgfalt beim Einfahren in die Kreuzung hat walten lassen.

2) Damit ist nach den §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG, 254 BGB eine Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr geboten. Bei dieser Abwägung sind neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises anzuwenden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Urteil des Senats vom 24. September 1998, – 12 U 3282/96 –).




3) Diese Abwägung führt zu einer Alleinhaftung der Beklagten, denn für einen schuldhaften Vorfahrtsverstoß der Beklagten zu 1) spricht angesichts des Unfallherganges der Beweis des ersten Anscheins, den die Beklagten nicht erschüttert haben.

a) Außer Streit ist zwischen den Parteien, daß das Klägerfahrzeug in die Kreuzung auf einer von rechts kommenden Straße eingefahren ist, so daß es grundsätzlich mangels anderer Verkehrsregelung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO die Vorfahrt beanspruchen konnte.

Der nach § 8 StVO geschützte Vorfahrtsbereich erstreckt sich auf die gesamte Kreuzungsfläche (sog. "Einmündungsviereck" und die linke Fahrbahnhälfte der untergeordneten Straße, vgl. Hentschel, a.a.O., § 8 StVO, Rn. 28 m.w.N.). In diesem Bereich darf der Vorfahrtberechtigte grundsätzlich darauf vertrauen, daß sein Vorfahrtsrecht von dem Wartepflichtigen beachtet wird. Dieser Vertrauensgrundsatz gilt auch gegenüber zunächst nicht sichtbaren Verkehrsteilnehmern.

An Kreuzungen, auf denen der Vorfahrtberechtigte seinerseits dem von rechts kommenden Fahrzeugen Vorfahrt zu gewähren hat ("halbe Vorfahrt"), gilt dieser Vertrauensgrundsatz gleichfalls, sofern der Berechtigte zur Beurteilung seiner eigenen Wartepflicht die nach rechts kreuzende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen kann (vgl. BGH, Urt. vom 21. Mai 1985 – VI ZR 201/83 –, NJW 1985, 2757; Senat, Urt. vom 3. März 1988, – 12 U 4974/87 –, DAR 1988, 272).

Ein verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten beseitigt seine Vorfahrt grundsätzlich nicht; er verliert deshalb seine Vorfahrt auch nicht durch eine überhöhte Geschwindigkeit.



Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Abs. 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, daß er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf er sich nach § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineintasten, bis er Übersicht hat. Hineintasten bedeutet hierbei zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten. Der Wartepflichtige genügt seiner Pflicht nicht, wenn er die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise die Fahrspur eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers versperrt (vgl. zu allem m.w.N. Urteile des Senats vom 24. September 1998, – 12 U 3282/96 –; vom 27. Juli 1998, – 12 U 3625/97, NZV 1999, 85 = KGR 1999, 315, 317; vom 17. Januar 2000, – 12 U 6678/98 –, VM 2000, 67 = NZV 2000, 377 = DAR 2000, 260 = KGR 2000, 135).

b) Bei einem Zusammenstoß zwischen zwei Kraftfahrzeugen auf einer vorfahrtgeregelten Kreuzung oder Einmündung spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen (BGH, NJW 1982, 2686; Senat, Urt. vom 26. September 1983, 12 U 2583/82; Senat, Urteil vom 24. September 1998, – 12 U 3282/96). Die Betriebsgefahr des Berechtigten tritt in der Regel demgegenüber im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG zurück (Hentschel, a.a.O., § 8 StVO, Rn. 69).

c) Im vorliegenden Fall hat sich die Kollision unstreitig im Kreuzungsbereich ereignet, mithin in dem Bereich, in dem die Beklagte zu 1) dem Klägerfahrzeug die Vorfahrt gewähren mußte. Damit spricht die Lebenserfahrung dafür, daß eine schuldhafte Vorfahrt Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) zum Zusammenstoß geführt hat. Für die Begründung dieses Anscheins ist es ohne Belang, wo genau auf der Kreuzung die Kollision stattgefunden hat, denn die Vorfahrtsberechtigung bestand – wie dargelegt – auf der gesamten Kreuzung.

d) Tatsachen, aus denen sich die Möglichkeit eines atypischen Geschehens im vorliegenden Fall ergeben, haben die Beklagten nur unzureichend vorgetragen, so daß es ihnen nicht gelungen ist, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. ..."

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