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OLG Jena Urteil vom 13.09.2005 - 8 U 28/05 - Zur Mithaftung des zu schnellen Kfz-Führers bei Auffahren nach Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden

OLG Jena v. 13.09.2005: Zur Mithaftung des zu schnellen Kfz-Führers bei Auffahren nach Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden




Das Thüringer Oberlandesgericht in Jena (Urteil vom 13.09.2005 - 8 U 28/05) hat entschieden:

   Folgt ein Pkw-Fahrer seinem Vordermann auf der linken Fahrspur einer dreispurigen Autobahn ohne Höchstgeschwindigkeitsbegrenzung mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h und im Abstand „halber Tacho“, trägt er eine Mithaftung für den ihm entstandenen Sachschaden aus erhöhter Betriebsgefahr (hier: 30%), wenn er nach einem plötzlichen Ausweichen des Vordermannes nach rechts auf einen auf der Fahrbahn liegenden Reifen auffährt, den ein Lkw verloren hatte (der Lkw-Halter bzw. Fahrer trägt 70% der Haftung).

Siehe auch
Auffahrunfälle allgemein
und
Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle

Zum Sachverhalt:


Der Kl. befuhr am 1. B. 2003 gegen 17.30 Uhr mit seinem Pkw die linke Fahrspur der dreispurigen Autobahn A 4 in Höhe von W. mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 km/h. Sein Abstand zum Vordermann entsprach dem „halben Tacho”. Während der Vordermann einem auf der Fahrbahn liegenden Lkw-Reifen noch ausweichen konnte, gelang dies dem KI. nicht mehr.

Das AG hat die Haftung des KI. mit 30% und die des Lkw-Fahrers und dessen Versicherung zu 70% festgesetzt.

Die Berufung blieb ohne Erfolg.




Aus den Entscheidungsgründen:


"... Das AG hat die Haftung zu Recht zu 30% dem Kl. und zu 70% dem Lkw-Fahrer und dessen Versicherung auferlegt. Hinsichtlich der einschlägigen Anspruchsgrundlagen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

a) Die vom Kl. gefahrene Geschwindigkeit von 200 km/h führt nicht zu einer Alleinhaftung des K1. Die Rspr. erhöht bei Überschreitungen der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vielmehr die Betriebsgefahr (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, B. Aufl. 2004, Rdn. 147). So heißt es bei Grüneberg, a.a.O.:

   "Der überwiegende Teil der Rspr. nimmt aber in Übereinstimmung mit dem Urteil des BGH vom 17. 3. 1992 (= BGHZ 117. 337 = NJW 1992. 1684 = NZV 1992, 229 = VersR 1992. 714 = DAR 1992. 257) eine Mithaftung des Auffahrenden in Höhe der normalen Betriebsgefahr an. wenn dieser - vor allem bei Dunkelheit - mit einer höheren Geschwindigkeit als mit der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h gefahren ist. Eine höhere Mithaftung des Auffahrenden kommt in Betracht, wenn er die Geschwindigkeit trotz Erkennens des Spurwechsels nicht herabgesetzt oder fehlerhaft reagiert hat."




Grüneberg führt folgende Fälle aus der Rspr. beim Fahren mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h an, wobei er die Haftungsanteile (in Klammer gesetzt) angibt:

  -  Auffahrunfall auf BAB zw. Pkw (30%). der nachts auf der Überholspur mit ca. 200 km/h mehrere Fahrzeuge überholt, und einem plötzlich von der Normalspur zum Überholen ausscherenden Kfz (70%)
OLG Düsseldorf zfs 1981. 161

  -  Kollision auf BAB zw. Kfz (50%). das aus ungeklärten Gründen nicht ausschließlich auf der rechten Fahrbahn. sondern nach links versetzt auf beiden Fahrspuren fährt. und einem rückwärtig auf der Überholspur mit 200 km/h nahenden Pkw (50%)
OLG Frankfurt/Main VersR 1997, 75

  -  Auffahrunfall auf BAB zw. Pkw. der die Überholspur mit 200 km/h befährt, und einem plötzlich von der Normalspur zum Überholen ausscherenden Kfz (100%)
OLG Hamm NZV 1990.269 (Anm. Greger)

  -  Kollision zw. Lkw (50%). der auf einer BAB zwecks Überholens mit 80 km/h auf die linke Fahrspur wechselt, und einem rückwärtig mit 200 km/h herannahenden Pkw (50%)
OLG Karlsruhe r+s 1976. 9

  -  Pkw (25%) verunfallt, als er auf der Überholspur einer BAB bei Dunkelheit in der Nähe eines Autobahnkreuzes mit 200 km/h fährt und einem vorausfahrenden Kfz (75%) ausweicht. das plötzlich mit 110-130 km/h zwecks Überholens eines weiteren Fahrzeuges von der Normalspur auf die Überholspur ausschert.
OLG Köln VersR 1991, 1188

  -  Auffahrunfall auf BAB zw Pkw (70%), der mit 130 km/h zum Überholen ausschert. und einem mit 234-260 km/h von hinten herannahenden. bereits längere Zeit sichtbaren Kfz (30%)
OLG Nürnberg r+s 1993, 373 (Ls)

  -  Auffahrunfall auf BAB zw. Kfz (25°/ ), das zwecks Überholens mit 110 km/h auf die Überholspur wechselt, und einem dort von hinten mit 210 km/h sich nähernden Pkw (75%): unklar, wie lange vor der Kollision das Kfz auf die Überholspur gewechselt ist.
OLG Schleswig NZV 1993, 152

  -  Pkw (80;'0) verunfallt, als er sich auf der Überholspur mit ca. 180-200 km/h einem auf der Normalspur befindlichen Wohnwagengespann nähert, hinter dem ein Kfz (20%) - womit zu rechnen ist - zum Uberholen ausschert. und beim Ausweichversuch an die Leitplanke gerät.
LG Hamburg VersR 1977, 1017

  -  Auffahrunfall auf BAB zw. Lkw (100%), der ohne rechtzeitige Zeichengebung nach links ausschert. und einem sich mit 180-190 km/h nähernden Pkw. der bereits zum Uberholen des Lkw angesetzt hat.
LG Nürnberg-Fürth VersR 1980. 587

Aus dieser Rspr. ergibt sich, dass bei Geschwindigkeiten um 200 km/h keine Alleinhaftung des „Rasers” angenommen wird, oftmals nicht einmal eine überwiegende Haftung. Dies gilt insbesondere für die oben genannten Auffahrunfälle, mit denen der vorliegende Fall durchaus vergleichbar ist. Der KI. ist auf einen auf der Fahrbahn liegenden Reifen „aufgefahren”.

b) Für solche „Reifenauffahrunfälle zitiert Grüneberg folgende Beispiele aus der Rspr., aus denen sich die überwiegende Haftung bzw. sogar Alleinhaftung des für den Reifen verantwortlichen Fahrers bzw. Fahrzeughalters ergibt:




  -  Pkw verunfallt auf einer BAB. als dessen Fahrer - auf der linken Spur mit 160 km/h fahrend - einer dort liegenden, abgelösten Reifenlauffläche eines Lkw (100%) ausweicht. auf die ihm zunächst wegen eines vor ihm fahrenden, dann jedoch nach rechts ausscherenden Fahrzeuges die Sicht genommen ist
KG VersR 1989, 56 = VRS 74. 251 = DAR 1988, 270 = NZV 1988.23 = VM 1988,49

  -  Pkw (25%) fährt bei Dunkelheit auf einer BAB auf einen Reservereifen auf. den ein Lkw (75%) verloren hat
OLG Bamberg VersR 1976, 889

  -  Kollision zw. Pkw und einem bei Dunkelheit auf der Straße liegenden Reservereifen, den ein vorausfahrendes Kfz (100%) verloren hat
OLG Düsseldorf VersR 1962.484 (Ls) = MDR 1962. 53

  -  Beschädigung eines Pkw (20%), der nachts auf einer BAB mit erheblicher Geschwindigkeit über einen dort liegenden Reifen fährt. der sich von dem Anhänger eines Lkw (80%) gelöst hatte
OLG Frankfurt/Main NZV 1991.270

  -  Kollision zw. Reservereifen, der infolge eines nicht erkennbaren Konstruktions- und Fertigungsmangels von einem Lkw (100 ; keine Verschuldenshaftung) nachts auf die Fahrbahn einer BAB fällt, und einem nachfolgenden Pkw. dessen Fahrer kein Verschulden trifft
OLG Hamm VRS 84.. 182

  -  Pkw (33%) verunfallt auf der linken Spur einer BAB. als er einem dort liegenden, 1.4 m langen Reifenstück, das sich zuvor von einem Kfz (67%) gelöst hat. ausweicht und dabei ins Schleudern gerät: der Kfz-Fahrer hat ein Warndreieck aufgestellt
OLG Koblenz VRS 68, 32

  -  Beschädigung eines Pkw, als er bei Dunkelheit mit 120 km/h auf der linker Spur einer BAB über eine Reifendecke fährt, die sich zuvor von einem Lkw (100%) gelöst hatte und durch nachfolgende Fahrzeuge in mehrere Teile zerrissen und über die gesamte Fahrbahn verteilt worden war: am Fahrbahnrand standen der Lkw mit Warnblinkanlage und ein Polizeiwagen mit Blaulicht eine Berührung wäre für den Pkw nur bei 70 km/h vermeidbar gewesen
LG Bielefeld NZV 1991, 235

  -  Kollision auf einer BAB zur Nachtzeit zw. Pkw (33%) und einem auf de Fahrbahn liegenden Reifen. den ein Lkw (67%) vorher von seinem Anhänge verloren hat
LG Dortmund VersR 1976, 200

c) Wollte man eine zusätzliche Erhöhung der Haftungsquote des Kl. bejahen, weil der Kl. dem Ausweichmanöver des Vorausfahrenden hätte folgen müssen oder weil er in Übrigen auf der viel befahrenen Autobahn mit jederzeitigen Bremsnotwendigkeiten hätte rechnen müssen, so würde ein, Erhöhung der Quote mit der zitierten Rspr. in Widerspruch stehen, bei der anzunehmen ist, dass sie auch diese Umstände berücksichtigt hat.

Soweit die Bekl. ein Urteil des OLG Schleswig (VA 1971, 93) zitieren, betrifft dieses ein Bußgeldverfahren und, äußert sich nicht zu zivilrechtlichen Haftungsquoten.


Zu dem in diesem Zusammenhang von den Bekl. weite zitierten Urteil des BGH (VRS 29, 435, Urt. v. 13. 7. 1965' ist auszuführen, dass dort am vorausfahrenden Pkw Fiat 60 des Bekl. ein Reifen platzte, während der nachfolgende Lkw des Kl., der eine Geschwindigkeit von 76 km/h eingehalten hatte, trotz Bremsung auffuhr. Die Klage hatte zu 25% Erfolg. Der Fall ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Letztlich sind zwar immer die Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Der auf der Fahrbahn liegende Lkw-Reifen ist aber ein gefährliches Hindernis. Deshalb nimmt die Rspr. i.d.R. einen höheren Haftungsanteil des Lkw-Fahrers an. Sicherlich bedingt auch die sehr hohe Geschwindigkeit des Kl. eine hohe Gefährlichkeit. Zu berücksichtigen ist aber, dass eine solche Geschwindigkeit an sich nicht verboten ist. Auch hat der Kl. unstreitig die Abstandsregel „halber Tacho” beachtet (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. 2005, StVO § 4 Rdn. 6).

Der nachfolgende Fahrer (Hintermann) muss auch nicht einer Ausweichbewegung des Vordermanns folgen (BGH NJW 1987, 1075 ff., 1076 = DAR 1987, 117) Die gegenteilige und von den Bekl. vertretene Ansicht (s. Burmann in Mühlhaus/Janiszewski. Straßenverkehrsrecht, 18. Aufl. 2004, StVO § 4 Rdn. 11) hat der BGH, dem der Senat darin folgt, abgelehnt (BGH a.a.O.; Weber. DAR 1987, 161, 171 f.). Denn § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der Hintermann so fährt, dass er hinter dem Vordermann noch rechtzeitig anhalten kann, nicht aber, dass er ausweichen kann (BGH a.a.O.; Hentschel. Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. 2005, StVO § 4 Rdn. 5). In einer solchen Situation braucht der Hintermann auch nicht gem. § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO derart auf Sicht zu fahren, dass er vor solchen Hindernissen noch rechtzeitig anhalten kann, die sich vor dem Vordermann befinden (BGH a.a.O.; KG DAR 1988, 270 f.; NZV 1988, 23 f.; Greger, NZV 1992, 408). Denn Fahren auf Sicht bedeutet in diesem Zusammenhang nur, dass man so fährt, dass man innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. Die Strecke ist aber in solchen Fällen nicht überschaubar, sondern durch den Vordermann insoweit verdeckt. Der Hintermann müsste ständig nach links und rechts manövrieren, um am Vordermann vorbeischauen und die Fahrbahn vor dem Vordermann einsehen zu können. Das würde den Hintermann überfordern und zusätzliche Gefahren herbeiführen, was nicht Sinn der gesetzlichen Regelung sein kann. Von daher erscheint es auch als problematisch, das Sichtfahrgebot durch eine gesetzliche Erweiterung auf diese Fälle auszuweiten. Erst recht kann dies nicht durch eine richterliche Gesetzesauslegung geschehen.

Würde man aus § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO (Sichtfahrgebot) folgern, dass der Hintermann nicht nur den in § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO geregelten Abstand „halber Tacho” zum Vordermann, sondern einen darüber hinausgehenden Abstand einhalten müsse, so würde § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO insoweit eine unnötige gesetzliche Regelung darstellen.



In solchen Fällen könnte zwar ein größerer Abstand des Hintermanns zum Vordermann bei Geschwindigkeiten, die über der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h liegen, zur Vermeidung von Unfallgefahren durchaus sinnvoll sein. Ihn gesetzlich einzuführen, muss aber dem Gesetzgeber überlassen bleiben (Weber. DAR 1987, 161, 172 sub 4.).

Auf Sicht muss der Hintermann vielmehr erst dann fahren, sobald der Vordermann den Fahrstreifen vor ihm verlassen hat, so dass die Sicht wieder frei ist (BGH a.a.O., OLG Düsseldorf, OLGR 1993, 325). Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Kl. ab dem Ausweichen des Vordermanns auf Sicht hätte fahren müssen. Dies hat er möglicherweise nicht getan (obwohl er stark gebremst hat) oder nicht mehr tun können. Es ist aber nicht ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt der Unfall (Überfahren des Lkw-Reifens) noch hätte vermieden werden können. Im Falle einer Unvermeidbarkeit liegt kein Mitverschulden des Kl. im Sinne von § 254 BGB vor. Die Beweislast für ein Mitverschulden und für die Schadenskausalität des Mitverschuldens tragen die Bekl. (Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl. 2005, § 254 Rdn. 74).

Der Kl. hat vorgetragen, dass der Vordermann die Sicht auf den Lkw-Reifen erst so spät freigegeben habe, dass es ihm nicht mehr möglich gewesen sei, rechtzeitig anzuhalten oder nach rechts auszuweichen. Rechts neben ihm seien andere Fahrzeuge gefahren. Dieser Vortrag ist im zweiten Rechtszug nicht mehr bestritten worden. Ein Mitverschulden ist somit auch unter diesem Gesichtspunkt nicht nachgewiesen, auch nicht durch einen Anscheinsbeweis. ..."

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