Nach dem Motto "Wer auffährt ist Schuld!" scheint die Schuldfrage bei Auffahrunfällen sehr leicht lösbar zu sein. In vielen Fällen ist sie das auch, jedoch gibt es zahllose Ausnahmen von diesem Grundsatz.
Das Motto gibt lediglich in sehr knapper Form wieder, dass im allgemeinen gegen den Auffahrenden der sog. Beweis des ersten Anscheins gilt, den er zu widerlegen hat, wenn er sich seiner Haftung ganz oder teilweise entziehen will. Daraus folgt, dass es bei allen strittigen Auffahrunfällen meistens um die Frage der Widerlegung des Anscheinsbeweises geht.
Aber auch bezüglich der zu ermittelnden Haftungsquoten und der Schadenshöhe bieten z. B. Kettenauffahrunfälle immer wieder erhebliche Schwierigkeiten.
Im Hinblick auf die Fülle der Fallgestaltungen sind eine Reihe von Themenkomplexen im Interesse der Übersichtlichkeit in gesonderten Unterthemen untergebracht, die zuerst erwähnt werden.
LG Konstanz v. 16.01.1976:
Fährt ein Kraftfahrer infolge Sichtbehinderung durch Vereisung seiner Windschutzscheibe auf ein soeben wegen Motorschadens am Straßenrand zum Halten gebrachtes Kfz auf, so trifft ihn die alleinige Schuld an dem Unfall. Eine Mitverantwortlichkeit des anderen Unfallbeteiligten kommt nicht in Betracht, wenn er vor dem Anhalten mehrfach die Fußbremse betätigt und dann die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte.
OLG Frankfurt am Main v. 29.04.1985:
Der Halter und Fahrer eines Pkw, der infolge eines Reifenschadens stark abgebremst und deshalb von einem nachfolgenden Kfz angefahren wird, hat den Auffahrunfall zumindest zur Hälfte zu vertreten, wenn die Lauffläche des geplatzten Reifens mangelhaft war.
OLG München v. 21.04.1989:
Grundsätze bei einem Auffahren des Vorfahrtberechtigten auf einen ursprünglich wartepflichtigen Rechtseinbieger
KG Berlin v. 26.04.1993:
Zur Haftungsverteilung bei einem Auffahrunfall, wenn der Vorausfahrende ohne zwingenden Grund stark abgebremst hat und zum Begriff des grundlosen starken Bremsens (Auffahren auf Taxi, dessen Fahrer wegen eines winkenden Fahrgastes bremst - 1/3 zu 2/3, bei unbefugter Sonderstreifennutzung des Auffahrenden 1/4 zu 3/4 zu Lasten des Auffahrenden)
OLG Koblenz v. 18.09.1995:
Kommt es infolge eines Motorschadens des ersten Fahrzeugs zu einer starken Rauchentwicklung mit Sichtbehinderung und fährt das dritte Fahrzeug daraufhin auf das zweite Fahrzeug auf, dann haften Halter und Fahrer des ersten und des dritten Fahrzeugs gesamtschuldnerisch für den gesamten am zweiten Fahrzeug entstandenen Schaden.
OLG Celle v. 15.01.2004:
Fährt ein Radfahrer infolge Unaufmerksamkeit mit ca. 30 km/h auf einen gerade anfahrenden Pkw auf, obwohl eine ausreichende Ausweichmöglichkeit zum rechten Fahrbahnrand bestanden hat, so trifft ihn die Alleinhaftung; die Betriebsgefahr des Pkw tritt hinter dem überwiegenden Verschulden des Radfahrers zurück.
LG Oldenburg v. 13.08.2004:
Grundsätze des Fahrverhaltens bei Baustellen mit Fahrbahnverschwenkung und Haftungsquote bei Mitverursachung eines Auffahrunfalls durch Nichtbefolgen einer Fahrbahnverschwenkung (Haftung 1/4)
LG Bremen v. 11.11.2004:
Der bei einem Auffahrunfall zu Lasten des Auffahren den geltende Anscheinsbeweis, dass er entweder den Sicherheitsabstand nicht eingehalten habe oder unaufmerksam gewesen sei, kann nicht dadurch entkräftet werden, dass auf einen nicht reparierten Vorschaden am Heck des voran fahrenden Autos verwiesen und vermutet wird, der Unfall sei provoziert worden.
OLG Frankfurt am Main v. 18.11.2004:
Haftungsverteilung bei Auffahrunfall auf glatter Fahrbahn (2/3 zu 1/3 zu Gunsten des Auffahrenden, nachdem der Vorausfahrende die Gewalt über sein Fahrzeug verloren hatte).
LG München I v. 15.09.2005:
Keine Haftung des Auffahrenden, wenn Vorausfahrender nach Anfahren an einer Ampel im Kreuzungsbereichen einer Großstadt infolge eines Fahrfehlers ohne verkehrsbedingten Grund stark abbremst.
LG München v. 13.07.2010:
Biegt ein Verkehrsteilnehmer aus der untergeordneten Straße nach links in die übergeordnete Straße ein und kollidiert er in räumlich-örtlichem Zusammenhang des Einbiegens mit dem von hinten kommenden Fahrzeug, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Einbiegen unter Missachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Kollidiert ein unter Missachtung des Vorfahrtsrechts in die bevorrechtigte Straße einfahrendes Räumfahrzeug mit einem zu schnell von hinten herannahenden Pkw, kann eine Haftung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Räumfahrzeugs angemessen sein.