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BGH Urteil vom 09.12.1986 - VI ZR 138/8 - Zu den Möglichkeiten einer Ausnahme von den Grundsätzen des Anscheinsbeweises

BGH v. 09.12.1986: Zum Sicherheitsabstand hinter einem sichtbehindernden vorausfahrenden Fahrzeug, das kurz vor einem stehenden Hindernis ausweicht




Der BGH (Urteil vom 09.12.1986 - VI ZR 138/85) hat entschieden:

  1.  Auf Autobahnen muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Kfz nach § 4 Abs.1 S.1 StVO in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich gebremst wird. Jedoch ist nicht mit einem "ruckartigen" Stehenbleiben zu rechnen; vielmehr kann der nachfolgende Fahrer, wenn keine besonderen Umstände dem entgegenstehen, den vollen Weg einer Notbremsung des Vorausfahrenden bei Bemessung seines Abstands einkalkulieren.

  2.  Der nachfolgende Kraftfahrer ist nach § 4 Abs.1 S.1 StVO nicht verpflichtet, generell den Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug so zu wählen, dass er rechtzeitig vor einem durch den Vorausfahrenden zunächst verdeckten Hindernis anhalten kann, wenn dieser - ohne zu bremsen - unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur wechselt.

Siehe auch
Auffahrunfälle auf der Autobahn
und
Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle


Tatbestand:


Die Klägerinnen machen Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.

Am 17. September 1980 fuhr der damals 47 Jahre alte Ehemann der Erstklägerin Z., von Beruf Kraftfahrer, gegen 20.20 Uhr mit seinem Mercedes Pkw auf der BAB 57 von K. nach Kr.. Neben ihm saß seine Ehefrau, im Fond des Wagens befanden sich die Zweitklägerin und Frau L.. Während er auf der Überholspur fuhr, kollidierte er mit einem ihm von der Gegenfahrbahn entgegenrollenden Rad, das sich von einem Lkw, den der Erstbeklagte fuhr, gelöst hatte. Der Pkw des Z. geriet gegen die mittlere Leitplanke und kam auf der Überholspur quer zur Fahrbahn zum Stehen. Der auf dieser Überholspur nachfolgende Fahrer R. konnte mit seinem Pkw einen Zusammenstoß vermeiden, indem er nach rechts auf die Normalspur auswich. Hinter R. fuhr der Zweitbeklagte mit seinem Pkw Audi 80, der bei der Viertbeklagten haftpflichtversichert war. Er prallte auf den quer stehenden Mercedes auf. Z. und Frau L. wurden bei dem Unfall getötet, die Klägerinnen wurden schwer verletzt.

Die Erstklägerin hat mit ihrer Klage neben dem Fahrer des Lkw und dessen Haftpflichtversicherer, die Beklagten zu 1) und 3), den Zweit- und den Viertbeklagten auf Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch genommen. Sie hat ihren materiellen Schaden einschließlich der ihr durch den Tod des Ehemannes entstandenen Schäden mit 31.040,97 DM beziffert und ein Schmerzensgeld von 40.000 DM für angemessen gehalten. Ferner hat sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagten verpflichtet seien, ihr den gesamten künftigen Schaden aus dem Unfall zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen seien.




Die Zweitklägerin hat nur den Zweit- und den Viertbeklagten auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Sie hat ihren materiellen Schaden letztlich mit insgesamt 83.291,03 DM beziffert und ein Schmerzensgeld von 50.000 DM für angemessen gehalten. Auch hat sie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz ihres künftigen Schadens aus dem Unfall begehrt, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen seien.

Das Landgericht hat durch Teilgrund- und Grundurteil die Klage der Erstklägerin gegen den Erstbeklagten abgewiesen. Die Ersatzansprüche beider Klägerinnen gegen die Beklagten zu 2) bis 4) hat es dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, der Zweitklägerin ein Teil-Schmerzensgeld von 10.000 DM (nebst Zinsen) zuerkannt und dem Feststellungsbegehren beider Klägerinnen gegen die Zweit- und Viertbeklagten stattgegeben.

Mit der Berufung haben die Beklagten zu 2) und 4) das landgerichtliche Urteil im wesentlichen insoweit angegriffen, als ihre Haftung über die Höchstbeträge des § 12 StVG hinaus ausgesprochen ist und sie ferner zum Ersatz des materiellen Schadens verurteilt worden sind, der durch den Tod des Ehemannes der Erstklägerin entstanden ist.

Das Oberlandesgericht hat die Berufungen der Zweit- und Viertbeklagten im wesentlichen zurückgewiesen; es hat jedoch die Haftung der Viertbeklagten auf die Deckungssumme von 2.000.000 DM beschränkt.

Mit der Revision begehren die Zweit- und Viertbeklagten weiterhin die Abweisung der Klage im Rahmen ihrer Berufungsanträge. Der erkennende Senat hat die Revision durch Beschluss vom 24. Juni 1986 teilweise nicht angenommen.




Entscheidungsgründe:


I.

Der Beschluss des erkennenden Senats vom 24. Juni 1986 ist nach seinem Sinnzusammenhang dahin auszulegen, dass die Revision insoweit nicht angenommen worden ist, als sie sich gegen die Verurteilung zum Ersatz materieller Schäden im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes wendet. Zu entscheiden ist deshalb über die Revision, soweit sie sich gegen die Verurteilung des Zweit- und des Viertbeklagten aus deliktischem Haftungsgrund zum materiellen Schadensersatz über die Höchstbeträge des § 12 StVG hinaus und zum Ersatz immaterieller Schäden richtet.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts haben der Zweit- und der Viertbeklagte nach §§ 823, 844 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG für die geltend gemachten Unfallschäden einzustehen. Es hält für erwiesen, dass der Zweitbeklagte den Unfall verschuldet hat. Er sei in den (hellen) querstehenden Pkw des Z. hineingefahren, weil er bei der zur Unfallzeit eingetretenen Dunkelheit entweder nicht mit einem seiner Geschwindigkeit und seiner Sichtmöglichkeit angepassten Sicherheitsabstand hinter dem Fahrzeug des R. gefahren und daher nicht in der Lage gewesen sei, seinen Pkw rechtzeitig anzuhalten oder noch auszuweichen, als plötzlich vor ihm der querstehende Wagen auftauchte; oder er sei unaufmerksam und ohne die erforderliche Reaktionsbereitschaft hinter dem Fahrzeug des R. gefahren und habe dadurch das Hindernis zu spät erkannt oder zu spät darauf reagiert. Der Zweitbeklagte habe bei der Wahl der Geschwindigkeit bedenken müssen, dass ihm das Erkennen eines etwaigen in der Fahrbahn befindlichen Hindernisses durch das vor ihm fahrende Fahrzeug des R. erschwert war.





II.

Die Feststellung des Berufungsgerichts, dass den Zweitbeklagten ein Verschulden an dem Auffahrunfall trifft, hält den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Zwar darf nach ständiger Rechtsprechung (BGH Urteil vom 15. Mai 1984 - VI ZR 161/82 - VersR 1984, 741 m.w.N.) ein Kraftfahrzeugführer bei Dunkelheit auch auf der Autobahn grundsätzlich nur so schnell fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. Diese Regel des Fahrens auf Sicht (§ 3 Abs. 1 StVO) gilt selbstverständlich auch für das Fahren auf der Überholspur (so schon der Beschluss der Vereinigten Großen Senate des BGH vom 1. Juli 1961 - BGHSt 16, 145; Senatsurteil vom 1. Juli 1969 - VI ZR 26/68 - VersR 1969, 900, 901). Die Ausnahme von dem Grundsatz, bei Dunkelheit die Geschwindigkeit der Reichweite des Abblendlichtes anzupassen, die § 18 Abs. 6 Nr. 1 StVO 1970 dem Kraftfahrer auf Autobahnen erlaubt, wenn die Schlussleuchten des vorausfahrenden Kraftfahrzeugs klar erkennbar sind und ein ausreichender Abstand von ihm eingehalten wird, hebt darauf ab, dass der nachfolgende Fahrer nicht mit einem Hindernis zwischen seinem und dem vorausfahrenden Fahrzeug rechnen muss. Sie betrifft entgegen der Meinung der Revision nicht die Situation, in der sich der Zweitbeklagte befand. Denn das Hindernis, auf das er auffuhr, hatte sich nicht zwischen die Rückstrahler des vorausfahrenden Fahrzeugs und ihn geschoben. Vielmehr lag die Ursache seines Auffahrens darin, dass ihm die Sicht nach vorn durch das vorausfahrende Fahrzeug verdeckt war.




2. Für den Abstand zu dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, an dem, wer auf der Autobahn fährt, seine Geschwindigkeit nach § 18 Abs. 6 Nr. 1 StVO 1970 orientieren darf, ist grundsätzlich § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO maßgebend (Drees/ Kuckuk/ Werney, Straßenverkehrsrecht, 5. Aufl., § 18 Rz. 20; H.W. Schmidt in Weigelt, Kraftverkehrsrecht von A - Z, Stichwort: Autobahn - Fahrverhalten S. 10). Danach muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Diese Vorschrift geht davon aus, dass der nachfolgende Kraftfahrer, jedenfalls wenn ihm der Überblick über die Fahrbahn, insbesondere über den Raum vor dem vorausfahrenden Fahrzeug genommen wird, mit einem plötzlichen Anhalten des Vordermannes, zu dem dieser gezwungen ist, rechnen muss. Der Kraftfahrer muss auch ein plötzlich scharfes Bremsen des Vorausfahrenden einkalkulieren (BGHSt 17, 223, 225; OLG Düsseldorf DAR 1965, 305 und 1975, 303; OLG Hamm VRS 27, 376; KG VRS 24, 130 und OLG Köln VRS 25, 353). Dies gilt insbesondere auf Autobahnen, auf denen erfahrungsgemäß mit hohen Geschwindigkeiten gefahren wird (BGH Urteile vom 30. März 1962 - 4 StR 12/62 - BGHSt 17, 223 = VRS 22, 364, 366f und Senatsurteil vom 23. April 1968 - VI ZR 17/67 - VersR 1968, 670, 672). a) Der zu dem voranfahrenden Fahrzeug einzuhaltende Abstand braucht indes nicht unbedingt dem Gesamtanhalteweg zu entsprechen, den der nachfolgende Fahrer benötigt, um ein Auffahren zu vermeiden, wenn das vorausfahrende Fahrzeug abrupt stehen bleibt. Vielmehr kann er - wenn keine besonderen Umstände dem entgegenstehen - einkalkulieren, dass der vorausfahrende Wagen selbst bei einer Notbremsung nicht sofort steht, sondern auch einen Anhalteweg benötigt, den er bei Bemessung seines Abstandes mit in Betracht ziehen darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes braucht der Kraftfahrer sich bei der Bemessung des normalen Sicherheitsabstandes in aller Regel nicht darauf einzurichten, dass der normale Bremsweg eines anderen Fahrzeugs außergewöhnlich verkürzt wird (BGH Urteile vom 3. November 1967 - VI ZR 90/66 - VersR 1968, 51 für eine Bundesstraße und vom 10. Dezember 1974 - VI ZR 105/73 - VersR 1975, 373, 374 - beide für Begegnungsunfälle). Die Rechtsprechung billigt ihm überwiegend zu, dass er regelmäßig nicht mit einem "ruckartigen" Stehenbleiben seines Vordermannes infolge Auffahrens auf ein Hindernis rechnen muss (BayObLG NJW 1955, 1766 sowie Beschlüsse vom 3. Oktober 1978 - mitgeteilt von Rüth DAR 1979, 229, 230 und vom 19. Februar 1982 - mitgeteilt von Rüth DAR 1983, 241, 242; OLG Frankfurt VRS 49, 452; OLG Hamm VRS 17, 458 und 27, 376f; OLG Karlsruhe VRS 33, 219, 220; OLG Köln VerkMitt 1979, Nr. 113; a.A.: für Autobahnen zur Nachtzeit OLG Hamburg VRS 33, 59, 62f unter Hinweis auf den Beschluss der Vereinigten Großen Senate des BGH aaO).

b) Vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden ist allerdings die Frage, ob das Vertrauen des nachfolgenden Kraftfahrers jedenfalls beim Fehlen konkreter Anhaltspunkte für das Gegenteil dahin gehen darf, sein Vordermann werde so fahren, dass jede Kollision mit einem in seiner Fahrbahn befindlichen, rechtzeitig erkennbaren Hindernis ausgeschlossen ist, so dass dem Nachfahrenden also stets der volle Bremsweg des Vorausfahrenden zugute kommt (so OLG Hamm DAR 1963, 249 und OLG Köln VRS 26, 52, 53).

Gegen die Berechtigung eines solchen Vertrauens und damit einer Verlagerung der Verantwortung auf den Vordermann könnte die allgemeine Erfahrung sprechen, dass gerade auf Autobahnen oft zu geringe Abstände eingehalten werden, die Ketten-Auffahrunfälle bedingen. Der Senat hat daher erwogen, dem nachfolgenden Kraftfahrer aus dem Gebot einer vorsichtigen und rücksichtsvollen Teilnahme am Straßenverkehr (§ 1 StVO) die Pflicht aufzuerlegen, schon generell dem Risiko einer zu "forschen" Fahrweise seines Vordermannes oder einer möglichen Fehleinschätzung des Bremsweges durch diesen dadurch Rechnung tragen zu müssen, indem er bei der Wahl seines Abstandes nicht den vollen Bremsweg seines Vordermannes einkalkulieren darf, sondern in seine Berechnung stets einen Sicherheitszuschlag für mögliches verkehrswidriges Verhalten seines Vordermannes einbeziehen muss.

Hiervon hat der Senat jedoch für den Regelfall im Hinblick auf den Wortlaut des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO Abstand genommen, der ein solches Verhaltensgebot nicht enthält. Nur wenn begründeter Anlass besteht, dass der Vordermann seinen Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug auch unter Berücksichtigung der in § 18 Abs. 6 Nr. 1 StVO 1970 eingeräumten Ausnahmen nicht verkehrsgerecht gestaltet (wenn beispielsweise zu erkennen ist, dass der Vordermann einen zu geringen Abstand hält oder ohne hinreichende andere Leuchtquellen mit Abblendlicht schneller als mit Sichtgeschwindigkeit fährt), muss der Nachfolgende diesem Risiko eines möglichen Auffahrens seines Vordermanns und der dadurch bedingten Verkürzung des normalen Anhalteweges durch einen entsprechend größeren Abstand Rechnung tragen. Dies folgt aus der Beschränkung der Grundregel des § 4 StVO auf den Regelfall. Für einen solchen Ausnahmetatbestand fehlt es im Streitfall bisher aber an Feststellungen. Sollte das Berufungsurteil dahin zu verstehen sein, dass das Berufungsgericht den von dem Zweitbeklagten einzuhaltenden Abstand zu dem vorausfahrenden R. danach bemisst, dass der Zweitbeklagte auch für den Fall eines Auffahrunfalls des R. sein Fahrzeug noch rechtzeitig vor der Unfallstelle zum Halten bringen konnte, so würde das in der Tat, worauf die Revision abhebt, zu den vorgenannten Rechtsgrundsätzen in Widerspruch stehen.

3. Den Zweitbeklagten trifft auch nicht - wie das Berufungsgericht hilfsweise meint - schon darum ein Verschulden, weil er der Ausweichbewegung des R. nicht gefolgt ist. Ob ihm dies möglich und zumutbar war, hängt vielmehr entscheidend davon ab, wie weit er sich hinter dem Fahrzeug des R. befand, als dieser nach rechts auswich und das Hindernis umfuhr.


Zwar wird in der Rechtsprechung die Meinung vertreten, dass ein Kraftfahrer, dem die Sicht nach vorn durch ein vorausfahrendes Fahrzeug versperrt ist, vor allem bei Dunkelheit einen so großen Abstand einhalten und so aufmerksam fahren muss, dass er auch bei einem plötzlichen Ausscheren des Vordermannes dessen Fahrspur folgen kann; denn nur wenn er dessen Ausweichbewegung mitmacht, könne er sicher sein, dass sich zwischen ihm und dem vorausfahrenden Fahrzeug kein Hindernis in seiner Fahrbahn befinde (so OLG Köln VRS 29, 365; OLG Schleswig VerkMitt 1971, 93 und OLG München NJW 1968, 652, 653; ebenso Füll/Möhl/Rüth, Straßenverkehrsrecht, 1980, § 4 StVO Rz. 8). Dem vermag der Senat sich jedoch nicht anzuschließen.

a) Nach den zuvor aufgestellten Grundsätzen entlastet es auch den nachfolgenden Kraftfahrer, wenn dem Vordermann ein Hindernis so plötzlich in seine Fahrbahn kommt (beispielsweise durch ein die Autobahn kreuzendes Tier oder, wie hier, durch ein entgegenrollendes Rad), dass dieser trotz angemessener Geschwindigkeit vor dem Hindernis nicht mehr anhalten, sondern nur gerade noch durch ein Ausscheren unmittelbar vor dem Hindernis ein Auffahren vermeiden kann. Denn der Nachfolgende braucht nicht mit einer solchen erheblichen Verkürzung der ihm normalerweise zur Verfügung stehenden Reaktionszeit zu rechnen (s. II. 2 a).

b) Anders verhält es sich freilich, wenn das Hindernis für den Vordermann nicht so plötzlich in dessen Fahrbahn kommt, dass ihm als unfallvermeidende Maßnahme nur noch ein spontanes Ausweichen bleibt, sondern das Hindernis so rechtzeitig von ihm wahrnehmbar ist, dass er ein Auffahren wahlweise durch eine Notbremsung oder durch ein Umfahren des Hindernisses vermeiden kann. Wählt er die Notbremsung, so zeigt sich dies dem nachfolgenden Kraftfahrer in der Regel durch Aufleuchten der Bremslichter rechtzeitig an. (Anders ist der Sachverhalt allerdings zu beurteilen, wenn der Vordermann plötzlich zum Stillstand kommt, ohne dass dabei die Bremsleuchten an seinem Fahrzeug aufleuchten - so BayObLG VRS 62, 380). Weicht der Vorausfahrende dagegen auf die andere Fahrspur aus, so muss dies nicht schon auf dieselbe Entfernung geschehen, wie sich ein Bremsen abzeichnen würde, sondern kann auch so stattfinden, dass der Nachfolgende erst zu einem Zeitpunkt gewarnt wird, in welchem diesem unter Umständen eine Notbremsung nicht mehr möglich ist, sondern nur noch ein Ausweichen als unfallvermeidende Maßnahme bleibt. Deshalb hat der Senat erwogen, ob nicht von dem Nachfahrenden im Hinblick auf seine Sichtbehinderung durch das voranfahrende Fahrzeug ein solcher Abstand zu verlangen ist, der es ihm ermöglicht, auch seinerseits die Ausweichbewegung nachzuvollziehen, wenn der Vorausfahrende - ohne zu bremsen - unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur wechselt. Hierfür könnte sprechen, dass für den nachfolgenden Kraftfahrer insbesondere auf Autobahnen eine solche Reaktion des Vorausfahrenden auf ein die benutzte Fahrspur versperrendes Hindernis prinzipiell nichts Außergewöhnliches ist. Dass zudem auch der Autobahnverkehr mit unbeleuchteten Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen muss, entspricht anerkannten Rechtsprechungsgrundsätzen des Bundesgerichtshofes; die Ausnahme des § 18 Abs. 6 Nr. 1 StVO 1970 betrifft, wie gesagt, nur den Zwischenraum zum vorausfahrenden Fahrer, nicht das Freisein der vor diesem liegenden Fahrbahn von solchen Hindernissen, jedenfalls solange dies nicht durch weitere vorausfahrende Fahrzeuge signalisiert wird (vgl. Cramer, Straßenverkehrsrecht, Bd. I, 2. Aufl., StVO § 18 Rnr. 85). Dem Umstand, dass der Nachfolgende sich bei einer solchen Ausweichbewegung seines Vordermannes, ehe er dieser folgt, vorweg vergewissern müsste, ob die andere Fahrspur, auf die er ausweichen will, für ihn nicht durch Überholende oder durch Fahrzeuge versperrt ist, die er selbst gerade überholt, könnte er durch Wahl eines größeren Abstandes begegnen, der es ihm ermöglicht, auch ohne Ausweichen auf die andere Spur ein Auffahren auf das plötzlich freigegebene Hindernis zu vermeiden. Im Interesse der Sicherheit des Verkehrs erscheint es erwägenswert und würde keine unzumutbare Beeinträchtigung der Flüssigkeit des Schnellverkehrs bedeuten, jedenfalls auf Autobahnen bereits für den Regelfall eine solche defensive Fahrweise mit entsprechend größeren Abständen zu vorausfahrenden Fahrzeugen zu verlangen.

Jedoch stände das in Widerspruch zu § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO, der eine solche defensive Fahrweise nicht vorschreibt und nur davon spricht, dass der nachfolgende Kraftfahrer noch anhalten, nicht aber, dass er noch ausweichen kann. Die Anlegung eines strengeren Maßstabes würde eine Änderung der Straßenverkehrsordnung voraussetzen, die dem Richter versagt ist. Jedenfalls aber darf der Kraftfahrer, wenn er eine Ausweichbewegung seines Vordermannes nicht mitmacht, von diesem Augenblick an nicht mehr schneller als "auf Sicht" fahren (ebenso OLG Köln VRS 26, 223, 224).



c) Im Streitfall kommt es somit entscheidend darauf an, ob der Zweitbeklagte, als R. vor ihm auf die rechte Fahrspur auswich, bei Einhaltung des Regelabstandes noch hinreichend Zeit hatte, ein Auffahren auf das liegengebliebene Fahrzeug des Z. zu vermeiden. Hierzu fehlt es an entsprechenden Feststellungen des Berufungsgerichts.

4. Das angefochtene Urteil war auch nicht darum zu bestätigen, weil sich ein Verschulden des Zweitbeklagten aus den Grundsätzen des Anscheinsbeweises ergibt. Der an sich gegen den Auffahrenden sprechende Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dies schuldhaft geschah (BGH Urteile vom 20. Dezember 1963 - VI ZR 289/62 - VersR 1964, 263, 264 und vom 6. April 1982 - VI ZR 152/80 - VersR 1982, 672 - beide m.w.N.), ist nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts durch die ernsthaft in Betracht kommende Möglichkeit entkräftet, dass R. erst so spät und abrupt nach rechts ausgewichen ist, dass für eine unfallvermeidende Reaktion des Zweitbeklagten keine hinreichende Zeit mehr blieb, wenn er nur den Regelabstand zu dem vorausfahrenden R. einhielt.


III.

Das angefochtene Urteil war daher insoweit aufzuheben, als Ansprüche der Klägerinnen aus unerlaubter Handlung im Streit sind.

Da weitere Feststellungen erforderlich sind, war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

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