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OLG Jena Urteil vom 08.12.2005 - 1 U 474/05 - Zum Auffahren im linken Fahrstreifen der Autobahn nach Fahrspurwechsel eines Vorausfahrenden bei Kolonnenbildung

OLG Jena v. 08.12.2005: Zum Auffahren im linken Fahrstreifen der Autobahn nach Fahrspurwechsel eines Vorausfahrenden bei Kolonnenbildung




Das OLG Jena (Urteil vom 08.12.2005 - 1 U 474/05) hat entschieden:

   Wer bei einer Kolonnenbildung auf der Autobahn vom rechten zum linken Fahrstreifen wechselt und dabei mit einem links fahrenden Fahrzeug kollidiert, haftet für den Schaden allein, wenn sich ein verkehrswidriges Verhalten des links Fahrenden nicht feststellen lässt.

Siehe auch
Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfall
und
Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle




Aus den Entscheidungsgründen:


"... Das LG ist unzutreffend davon ausgegangen, dass der Kl. gegen den Bekl. zu 1) als Fahrer und Halter nach §§ 7 I, 17 I 2 18 1 StVG und gegen die Bekl. zu 1) als Pflichtversicherung nach § 3 Nr. 1 PflVG ein Anspruch auf Zahlung eines Schadensersatzes in der zuerkannten Höhe zusteht. Es hat bei der nach §§ 17 I, 18 III StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungsanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge verkannt, dass diese zu einer Alleinhaftung der Kl. führt.

1. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Unfall für den Bekl. zu 1) ein unabwendbares Ereignis i. S. von § 17 III 2 StVG mit der Folge eines Haftungsausschlusses war. Die alleinige Haftung der Kl. ist jedenfalls deshalb gerechtfertigt, weil der Unfall in ganz überwiegendem Maße von dem klägerischen Fahrzeug verursacht worden ist. Dieser Verursachungsbeitrag an dem Unfall überwiegt so stark, dass die von dem Fahrzeug des Bekl. zu 1) ausgehende Betriebsgefahr zurücktritt.

2. Der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs hat gegen die Vorschriften der §§ 5 IV 1, 7 V StVO verstoßen. Nach diesen Vorschriften ist derjenige, der zum Überholen ausscheren will, verpflichtet, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Vor einem beabsichtigten Überholen hat sich ein Kraftfahrer mit der gebotenen Gründlichkeit und Ruhe über die rückwärtige Verkehrslage zu informieren. Insbesondere muss er sich durch eine sorgfältige Rückschau vergewissern, ob sich auf dem Überholstreifen ein nachfolgendes Fahrzeug befindet, das seinerseits überholen will. Ein Fahrstreifenwechsel darf wegen seiner auf der Hand liegenden latenten Gefahren nur unter Beachtung äußerster Sorgfalt durchgeführt werden. Er ist untersagt, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht auszuschließen oder zu gewärtigen ist. Bei dichtem Verkehr oder Kolonnenbildung ist das Wechseln in aller Regel auf das Ausnutzen größerer Lücken beschränkt, die einen ausreichenden Abstand nach hinten und von vorne ermöglichen (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1997, 334; OLG Hamm, VersR 1992, 624; KG, VersR 1978, 1072). Wer sich ohne sorgfältige Rückschau auf den Überholstreifen begibt und hierdurch ein von hinten nahendes schnelleres Fahrzeug gefährdet, handelt grob verkehrswidrig (vgl. BGH, VersR 1965, 82; OLG Hamm, VersR 1992, 624). Der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs hat gegen diese sich aus §§ 7 V 1, 5 IV StVO ergebenden Pflichten verstoßen, da er den Fahrstreifen gewechselt hat, obwohl eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern in hohem Maße durch ihn begründet war.


3. Die nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der Verursachungsanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge führt zu der alleinigen Haftung der Kl., da sich ein verkehrswidriges Verhalten des Bekl. zu 1) aus den tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung nicht ergibt.

a) Ein gegen den Bekl. zu 1) sprechender Anscheinsbeweis, der sich letztlich auf die Nichteinhaltung eines der Geschwindigkeit entsprechenden Sicherheitsabstandes oder auf die Unaufmerksamkeit des Fahrers gründet, ist bereits dann ausgeräumt, wenn der Vordermann - wie hier - im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat (vgl. OLG Hamm, VersR 1992, 624; OLG Celle, VersR 1982, 960). In diesem Fall liegt grundsätzlich ein von einem typischen Auffahrunfall abweichender Geschehensablauf vor. Davon kann zwar dann nicht ausgegangen werden, wenn der Auffahrende die auf der Autobahn geforderte Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat (vgl. BGHZ 117, 337; OLG Celle, SP 1998, 453). Eine solche Überschreitung kann indes vorliegend nicht angenommen werden, da sich aus den nicht angegriffenen Feststellungen des LG ergibt, dass der Bekl. zu 1) die im Baustellenbereich zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h eingehalten hat.



b) Soweit das erstinstanzliche Gericht den Verursachungsanteil des Bekl. zu 1) darauf stützt, dass er - nach der Aussage des Zeugen N - verzögert gebremst habe, führt dies nicht zu einer Haftung des Bekl. zu 1). Eine Haftung des Bekl. zu 1) aufgrund eines solchen Verhaltens scheidet dann aus, wenn sich das klägerische Fahrzeug bei Beginn des Überholvorgangs bereits in einem solchen Annäherungsbereich befunden hat, der eine Notbremsung des Bekl. zu 1) erforderlich gemacht hat (vgl. BGH, VersR 1985, 183; OLG Düsseldorf, VersR 1997, 334).

Dabei berücksichtigt der Senat zu Gunsten der Kl., dass dem Bekl. zu 1) ein leichtes Abbremsen zuzumuten war. Eine nur leichte Behinderung hat der nachfolgende Verkehr trotz § 5 IV 1 StVO in aller Regel hinzunehmen. Das gilt nach allgemeiner Ansicht auch für den BAB-Schnellverkehr (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1997, 334). Der Bekl. zu 1) musste daher mit erhöhter Konzentration darauf achten, ob eines der Fahrzeuge aus der Kolonne ausschert und gegenüber einem solchen Fahrzeug auch zu einer sofortigen Reaktion bereit und in der Lage sein. Er brauchte aber nicht damit zu rechnen, dass ein Vorausfahrender, wie es hier der Fall gewesen ist, sein Fahrzeug ohne Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands auf die von ihm befahrene Überholspur lenken wird.

Zum Überholen auf der Autobahn darf der Überholer nämlich dann nicht mehr ansetzen, wenn dadurch ein nachfolgender schnellerer Kraftfahrer, der sich seinerseits, wie hier, bereits auf der Überholfahrbahn befindet, zu einer raschen und erheblichen Herabsetzung seiner Geschwindigkeit genötigt und dadurch gefährdet wird (vgl. BGH, DAR 1959, 278 zu § 1 StVO; OLG Düsseldorf, VersR 1997, 334). Das Ausscheren zum Zwecke des Überholens ist daher unzulässig, wenn nachfolgende Fahrzeuge zu scharfem Bremsen oder anderen ungewöhnlichen Fahrmanövern gezwungen werden. Im Hinblick auf die äußerste Sorgfalt, die ein die Fahrspur wechselnder Überholer gemäß § 5 IV StVO aufzubringen hat, kommt es entgegen der Auffassung des LG nicht darauf an, ob der Hintermann ein Auffahren durch ein heftiges Abbremsen vermeiden kann. Entscheidend ist allein, ob der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen bei Beginn des Ausschervorgangs groß genug war, um ohne scharf zu bremsen, gefahrlos hinter dem klägerischen Fahrzeug fahren zu können. Dass der Bekl. zu 1) den sich aus den beiderseitigen Geschwindigkeiten zu berechnenden Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, lässt sich der Aussage des Zeugen N nicht entnehmen. Im Übrigen beruht die von dem Zeugen gemachte Aussage lediglich auf einer Schlussfolgerung, die er anhand des von ihm geschätzten Abstandes und der geschätzten Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Bekl. zu 1) gezogen hat. Solche Schätzungen eines Zeugen sind indes für den Beweis der Nichteinhaltung eines Sicherheitsabstandes nicht tauglich. Die Kl. ist daher beweisfällig geblieben, dass der Bekl. zu 1) den sich aus der Differenz der beiderseitigen Geschwindigkeiten zu berechnenden Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. ..."

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