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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil vom 23.03.2006 - Az: 10 K 712/05 - Zur Notwendigkeit der Rechtskraft von Entscheidungen für das Erreichen von Punkten

VG Stuttgart v. 23.03.2006: Zur Notwendigkeit der Rechtskraft von Entscheidungen für das Erreichen von Punkten




Das Verwaltungsgericht Stuttgart (Urteil vom 23.03.2006 - Az: 10 K 712/05) hat entschieden:

   Für das "Erreichen" einer bestimmten Punktzahl im Sinne des § 4 StVG genügt es nicht, dass sich der Betroffene ein bestimmtes, mit einem oder mehreren Punkten nach Anlage 13 zu § 40 FeV zu belegendes Fehlverhalten im Straßenverkehr hat zu Schulden kommen lassen, sondern dieses Fehlverhalten muss auch rechtskräftig festgestellt sein.

Es darf dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen, dass er die ihm nach der Rechtsordnung zustehenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten ergreift.

Siehe auch
Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Zum Sachverhalt:


Der 1958 geborene Kläger, Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse ACE seit dem 17.07.2001, beging nach Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamtes an den Beklagten vom 11.05.2004 seit dem 19.01.2001 folgende Verkehrsverstöße:

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Während es sich in den ersten drei Fällen um Bußgeldbescheide handelte, erging im vierten Fall nach Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Stadt B. M. vom 02.10.2003 am 15.04.2004 eine Entscheidung des Amtsgerichts B. M.

Der Kläger besuchte zwischen dem 22.11.2003 und dem 12.12.2003 ein Aufbauseminar gemäß § 4 Abs. 8 StVG. Auf einer vorangegangenen Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 22.12.2003 hatte der Beklagte deshalb einen Rabatt von vier Punkten vermerkt. Unabhängig davon teilte das Kraftfahrt-Bundesamt im genannten Schreiben vom 11.05.2004 mit, die - unverbindliche - Wertung nach der Anlage 13 zu § 40 FeV ergebe insgesamt 10 Punkte.

Davon ausgehend verwarnte der Beklagte den Kläger am 09.06.2004 und wies ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hin. Der dadurch zu erwerbende Punkterabatt betrage bei einem Stand von nicht mehr als 8 Punkten 4 Punkte und bei einem Stand zwischen 9 und 13 Punkten 2 Punkte. Unter dem 16.06.2004 verwies der Kläger auf das von ihm bereits zwischen dem 22.11. und 12.12.2003 besuchte Aufbauseminar, legte die Bescheinigung vom 12.12.2003 - nochmals - vor und bat um Überprüfung seines Punktestandes. Seiner Ansicht nach habe er aktuell lediglich 6 Punkte.




Unter dem 23.06.2004 teilte der Beklagte dem Kläger mit, bereits vor der Teilnahme an dem Seminar seien für ihn bereits 10 Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen gewesen. Deshalb könne nur ein Rabatt von 2 Punkten eingeräumt werden. Bei somit erreichten 8 Punkten sei die Verwarnung zu Recht erfolgt. Dagegen verwies der Bevollmächtigte des Klägers am 03. und am 11.08.2004 darauf, dass bis Ende 2003 lediglich 7 Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen gewesen seien, und bat um Berichtigung des Punktestandes sowie Rücknahme der Verwarnung. Die Anwendung des Punktesystems nach § 4 StVG könne sich nur an rechtskräftigen Entscheidungen orientieren, weil jede Eintragung eine rechtskräftige Entscheidung voraussetze. Nach § 4 Abs. 4 Satz 4 StVG sei für den Punktestand das Ausstellungsdatum der Teilnahmebescheinigung maßgeblich. Der Kläger habe daher erst 6 Punkte.

Unter dem 17.08.2004 lehnte der Beklagte eine Korrektur des Punktestandes von 8 Punkten auf 6 Punkte und die Rücknahme der Verwarnung ab. Für die Anwendung des Punktesystems werde - entsprechend einem Beschluss des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 12.03.2003 - auf den Tag der Tat und nicht auf die Rechtskraft abgestellt (Tattagprinzip). Daher habe der Kläger bereits vor seiner Teilnahme am Aufbauseminar einen Punktestand von 10 Punkten erreicht. Der Punkterabatt betrage daher lediglich 2 Punkte.

Der Kläger betrachtete das Schreiben vom 17.08.2004 als beschwerdefähige Entscheidung und erhob dagegen am 01.09.2004 ausdrücklich Widerspruch. Die Anwendung des Tattagprinzips sei noch nicht abschließend geklärt.

Der Beklagte half dem Widerspruch nicht ab, sondern legte ihn mit Schreiben vom 15.09.2004 dem Regierungspräsidium Stuttgart vor. Dieses wies mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2005, dem Kläger zugestellt am 02.02.2005, den Widerspruch als unbegründet zurück.

Der Kläger hat am 21.02.2005 gegen die Mitteilung des Beklagten vom 17.08.2004 und den Widerspruch des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 01.02.2005 Klage erhoben.

Die Klage hatte Erfolg.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Klage ist zulässig, denn bei der Frage, welcher Punkterabatt einem Betroffenen nach Besuch eines Aufbauseminars gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG einzuräumen ist, handelt es sich um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis, somit bei dem vom Kläger angegriffenen Schreiben des Beklagten vom 17.08.2004 um einen - feststellenden - Verwaltungsakt. Jedenfalls dann, wenn die aktuelle Belastung eines Betroffenen mit einer bestimmten Anzahl von Punkten, wie sie sich aus der Anlage 13 zu § 40 FeV ergeben, zwischen der Fahrerlaubnisbehörde und dem Betroffenen umstritten ist, hat dieser ein schutzwürdiges Interesse an einer verbindlichen Feststellung seiner Belastung, denn es muss ihm möglich sein, unabhängig davon, ob die Fahrerlaubnisbehörde eine der in § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG genannten Maßnahmen ergreift, diese Belastung bei seinem künftigen Verhalten, etwa der Wahrnehmung einer der in § 4 Abs. 8 und Abs. 9 StVG genannten Nachschulungsangebote, zu berücksichtigen. Als feststellender Verwaltungsakt wurde dieses Schreiben auch - zu Recht - vom Regierungspräsidium Stuttgart behandelt. Ob die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gebotene Verwarnung eine Regelung und daher einen selbständig anfechtbaren Verwaltungsakt darstellt, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, denn der Klagantrag des Klägers bezieht sich nicht auf das Schreiben des Beklagten vom 09.06.2004 und die darin enthaltene Verwarnung (§ 88 VwGO).

Die Klage ist auch begründet. Der Beklagte war verpflichtet, dem Kläger nach Vorlage einer Bescheinigung über die Teilnahme an einem Aufbauseminar in der Zeit zwischen dem 22.11. und dem 12.12.2003, die am 17.12.2003 und damit innerhalb der Frist von drei Monaten nach Beendigung des Seminars erfolgt war, gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG einen Rabatt von 4 Punkten und nicht lediglich von 2 Punkten einzuräumen. Die dem entgegenstehende Verfügung vom 17.08.2004 und der Widerspruchsbescheid vom 01.02.2005 sind rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und sind daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).

Entgegen der Annahme des Beklagten hat der Kläger bei Vorlage der genannten Bescheinigung am 17.12.2003 erst 7 Punkte „erreicht“, was nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG zu einem Abzug von 4 Punkten führt. Für das „Erreichen“ einer bestimmten Punktzahl im Sinne des § 4 StVG genügt es nicht, dass sich der Betroffene ein bestimmtes, mit einem oder mehreren Punkten nach Anlage 13 zu § 40 FeV zu belegendes Fehlverhalten im Straßenverkehr hat zu Schulden kommen lassen, sondern dieses Fehlverhalten muss auch rechtskräftig festgestellt sein. Das folgt aus § 4 Abs. 6 StVG. Demnach hat das Kraftfahrt-Bundesamt „bei Erreichen“ eines bestimmten Punktestandes den Fahrerlaubnisbehörden die vorhandenen Eintragungen aus dem Verkehrszentralregister zu übermitteln. Die Formulierung macht deutlich, dass Erreichen des Punktestandes und Übermittlung von Eintragungen zeitlich - nahezu - zusammenfallen. Demnach kann das Kraftfahrt-Bundesamt dieser Pflicht aber nur dann nachkommen, wenn seine Kenntnis von Verkehrsverstößen, die zu einer Änderung des Punktestandes führen, zeitlich und ursächlich eng mit dem Erreichen dieses Punktestandes zusammenhängt. Kenntnis kann das Kraftfahrt-Bundesamt erst durch Mitteilung eintragungsfähiger Umstände gemäß § 28 Abs. 4 StVG erlangen. Eingetragen werden können aber - soweit hier von Belang - nur rechtskräftige Entscheidungen (§ 28 Abs. 3 Nrn 1 bis 3 StVG). „Bei Erreichen“ kann daher nur so verstanden werden, dass das Punktekonto erst mit Eintragungsfähigkeit eines Verstoßes anwächst, die Eintragung nicht lediglich der Feststellung dient, das Punktekonto sei bereits wegen - früheren - Begehens eines - jetzt dauerhaft bestätigten - Verstoßes zum Tatzeitpunkt angestiegen. Diese Interpretation gilt nicht nur für die Frage, ob Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG zu ergreifen sind, bei denen die Fahrerlaubnisbehörde an die Rechtskraft entsprechender Entscheidungen durch § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG förmlich gebunden ist, sondern auch für die Behandlung der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 4 StVG, denn § 4 Abs. 6 StVG verweist für das „Erreichen der betreffenden Punktestände“ ausdrücklich auch auf Absatz vier dieser Norm. Diese Rechtsansicht wird durch die Eintragungsfähigkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar, § 28 Abs. 3 Nr. 12 StVG, gestützt. Nur dann, wenn zum einen für Fragen des § 4 StVG die Eintragungsfähigkeit von Verstößen und der behördlichen bzw. gerichtlichen Reaktionen hierauf in das Verkehrszentralregister maßgeblich ist und zum anderen alle hierzu verpflichteten Stellen die - eintragungsfähigen - Vorgänge entsprechend § 28 Abs. 4 StVG unverzüglich dem Kraftfahrt-Bundesamt mitteilen, können dessen Auskünfte zuverlässig und ohne weitere langwierige Prüfung den in § 28 Abs. 2 StVG genannten Zwecken dienen. Es fällt auf, dass die Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes an den Beklagten vom 11.05.2004, wonach der Kläger 10 Punkte erreicht habe, offenbar in Unkenntnis der Teilnahme des Klägers an einem Aufbauseminar erfolgte. Dieser Mitteilung ist jedenfalls eine Eintragung betreffend die Teilnahme des Klägers an einem Aufbauseminar nicht beigefügt.



Der Beklagte stützt sich auf die Argumentation des OVG Weimar, das in einem Beschluss vom 12.03.2003 (- 2 EO 688/02 -, NJW 2003, 2770) hinsichtlich des für Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG zugrunde zu legenden Punktestandes das sog. Tattagprinzip angewendet hat. Danach soll für die Frage, wann sich 18 oder mehr Punkte „ergeben“ haben oder diese Punktzahl „erreicht“ ist, auf den Tag der Begehung der Straf- oder Ordnungswidrigkeiten abgestellt werden (so auch OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 16.07.2003 - 4 B 145/03 -, DAR 2004, 46 - obiter dictum - und ohne nähere Begründung OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18.07.2003 - 7 B 10921/03 -, ZfSch 2003, 522 f.; BayVGH, Beschluss vom 14.12.2005 - 11 CS 05.1677 -, zitiert nach juris). Dieser Rechtsauffassung vermag sich das Gericht nicht anzuschließen. Insbesondere erscheint, entgegen der Ansicht des OVG Weimar, der Wortsinn des Begriffes „erreichen“ in § 4 Abs. 4 StVG unter Berücksichtigung des Wortlauts von § 4 Abs. 6 StVG aus den genannten Gründen nicht „offen“ (für Maßgeblichkeit der Rechtskraft auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 21.01. 2003 - 12 ME 810/02 -, NJW 2003, 1472 mit ähnlicher Begründung; VG Augsburg, Beschluss vom 03.07.2002 - 3 S 02/698 -, DAR 2003, 436; VG Halle/Saale, Beschluss vom 14.05.2004 - 1 B 31/04 - unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut und mit umfassender Begründung VG Schleswig, Beschluss vom 30.05.2005 - 3 B 86/05 -, jeweils zitiert nach juris). Angesichts der dargestellten Wortwahl des § 4 StVG und seines systematischen Zusammenhangs mit § 28 Abs. 2 bis 4 StVG kann die Anwendung des Tattagprinzips nicht allein teleologisch damit begründet werden, dass ansonsten - wie hier - Verkehrsteilnehmer noch nach Begehung von Verkehrsverstößen, die zu einem Ansteigen des Punktestandes führen, die Möglichkeit eines Punkterabatts in Anspruch nehmen könnten, solange sie ein Aufbauseminar jedenfalls noch vor der Registrierung im Verkehrszentralregister absolvierten, wobei durch die Einlegung von Rechtsmitteln der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft noch hinausgezögert werden könnte (OVG Weimar, a.a.O. und OVG Frankfurt/Oder, a.a.O.). Es darf den Betroffenen - also auch dem Kläger - nicht zum Nachteil gereichen, dass er die ihm nach der Rechtsordnung zustehenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten ergreift. Mit dem Tattagprinzip wird jedoch in gewisser Weise unterstellt, dass derjenige, der ein Rechtsmittel einlegt, sich einen angesichts der absehbaren Erfolglosigkeit dieses Rechtsmittels unlauteren Vorteil verschaffen wolle, der ihm zu nehmen sei. Diese Annahme ist aber rechtsstaatlichen Grundsätzen fremd und kann daher auch nicht als Wille des Gesetzgebers unterstellt werden. Eine entsprechende Vorgehensweise kann, auch wenn sie auf taktischen Erwägungen beruhen sollte, ohnehin nur von demjenigen in Anspruch genommen werden, der freiwillig an einem Aufbauseminar teilnimmt, denn ein entsprechender Punkterabatt kommt der Teilnahme an einem angeordneten Aufbauseminar nicht zu (BayVGH, Beschluss vom 10.03.2005 - 11 CS 04.3250 -, zitiert nach juris). Zwar mag der Kläger unter dem Druck eines aufgrund der begangenen Verkehrsverstöße in Betracht kommenden Anwachsens seines Punktestandes gehandelt haben, letztlich hat er aber doch aufgrund seiner eigenen Entscheidung an dem Aufbauseminar teilgenommen. Sinn und Zweck der Reduzierungsregelung ist es, in verkehrserzieherischer Hinsicht die eigene Einsichtsfähigkeit des wiederholt auffällig gewordenen Fahrerlaubnisinhabers und eine Umkehr zu regelkonformem Verhalten durch eine freiwillige Teilnahme an einem Aufbauseminar zu fördern und mit dem Punkteabzug zu belohnen. Auch dem wird in vollem Umfang nur die hier vertretene Rechtsansicht gerecht. Es spricht auch im Falle des Klägers manches dafür, dass sich diese im Gesetz vorgesehene Maßnahme positiv auf sein Verkehrsverhalten ausgewirkt hat. Jedenfalls ist dem Gericht eine weitere nach Seminarende

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