Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Berlin Beschluss vom 18.06.2004 - 4 A 163.04 - Für die Anwendung des Punktesystems ist nach seinem Sinn und Zweck auf den Tattag abzustellen

VG Berlin v. 18.06.2004: Für die Anwendung des Punktesystems ist nach seinem Sinn und Zweck auf den Tattag abzustellen.




Das Verwaltungsgericht Berlin (Beschluss vom 18.06.2004 - 4 A 163.04) hat entschieden:

   Für die Anwendung des Punktesystems ist nach seinem Sinn und Zweck auf den Tattag abzustellen. Würde man auf die Rechtskraft der Entscheidung über eine Ordnungswidrigkeit oder Straftat abstellen, wäre der Fahrerlaubnisinhaber nicht im gesetzlichen Sinne vor dem entscheidenden, zur Fahrerlaubnisentziehung führenden Verkehrsverstoß gewarnt worden und hätte sein Verhalten nicht danach ausrichten können.

Siehe auch
Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem
und
Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein

Aus den Entscheidungsgründen:


"... Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis vom 25. März 2004 anzuordnen, ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.

Es besteht kein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung.

An der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis bestehen ernstliche Zweifel.

Der Antragsgegner hat seine Entscheidung auf § 4 Abs. 3 Nr. 3 StVG gestützt. Danach gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich nach dem von der Behörde anzuwendenden Punktsystem 18 oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Für den Antragsteller sind - soweit bekannt - derzeit im Verkehrszentralregister rechtskräftige Entscheidungen über Verkehrsordnungswidrigkeiten mit insgesamt 21 Punkten eingetragen.




Unter Berücksichtigung der Regelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG war diese Punktzahl jedoch zunächst auf 13 Punkte zu reduzieren. Der Antragsteller hat 18 Punkte überschritten, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StVG ergriffen hat. Bei der Zustellung des Verwarnungsschreibens des Landeseinwohneramtes Berlin vom 12. September 2002 am 18. September 2002 hatte der Antragsteller neben den in diesem Schreiben aufgeführten (mit insg. 8 Punkten) bereits weitere, dem Landeseinwohneramt noch nicht bekannte, Ordnungswidrigkeiten begangen, die mit 20 Punkten zu bewerten waren

  -  13. März 2002: Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts 37 km/h [3 Punkte];

  -  27. Juni 2002: Inbetriebnahme eines Kfz ohne Zulassung [3 Punkte];

  -  8. Juli 2002 Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts 24 km/h [3 Punkte];

  -  14. September 2002: Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts 30 km/h [3 Punkte]

Für die Anwendung des Punktesystems ist nach seinem Sinn und Zweck auf den Tattag abzustellen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte mit einem nachvollziehbaren, abgestuften System behördlicher Maßnahmen und der Möglichkeit des Punkterabatts bei freiwilligen Fortbildungsmaßnahmen dem Mehrfachtäter die möglichen Folgen seines Fehlverhaltens vor Augen gehalten werden, um erzieherisch auf ihn einzuwirken und präventiv weitere Verkehrsverstöße zu vermeiden (vgl. BRat-Drs. 821/96 S. 52). Dabei kommt den in Abhängigkeit von dem jeweiligen Punktestand anzuordnenden Maßnahmen jeweils eine Warnfunktion zu. Der Gesetzgeber hat mit § 4 Abs. 5 StVG deutlich gemacht, dass den Mehrfachtäter die Warnung auch erreichen muss (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 12. März 2003 -2 EO 688/02-, NJW 2003 S. 2770 f.). Würde man auf die Rechtskraft der Entscheidung über eine Ordnungswidrigkeit oder Straftat abstellen, wäre der Fahrerlaubnisinhaber nicht im gesetzlichen Sinne vor dem entscheidenden, zur Fahrerlaubnisentziehung führenden Verkehrsverstoß gewarnt worden und hätte sein Verhalten nicht danach ausrichten können (vgl.: VG Potsdam, Beschluss vom 16. September 2002 -10 L 580/02 -). Das Tattagprinzip dient mithin im Rahmen des § 4 Abs. 5 StVG dem Zweck, die nach dem Punktsystem erforderliche Warnung an den Mehrfachtäter und die Möglichkeit einer sich daran anschließenden Verhaltensänderung sicherzustellen.

Diese Rechtslage kann - wie auch im vorliegenden Fall - auf Seiten der Behörde zu Unsicherheiten bezüglich des jeweils aktuellen Punktestands führen. Dies ist aber in diesem Regelungssystem angelegt und kann nicht durch Anknüpfung an den Zeitpunkt der Kenntnis der Fahrerlaubnisbehörde auf Grund einer entsprechenden Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes gemäß § 4 Abs. 6 StVG überwunden werden (so aber: Beschluss der 11. Kammer vom 31. Januar 2002 - VG 11 A 286.02 -, NZV 2002 S. 338 f.). Letztere Auffassung verkennt, dass die Registrierung rechtskräftiger Entscheidungen nicht zu einer rechtsverbindlichen Bewertung des Verstoßes nach dem Punktekatalog durch das Kraftfahrt-Bundesamt führt. Vielmehr ist der Punktestand nicht vom Kraftfahrt-Bundesamt, sondern aus Anlass der jeweiligen Maßnahme selbständig und eigenverantwortlich von der Fahrerlaubnisbehörde festzustellen. So sind für die Anwendung des Punktsystems, für die allein die Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs. 3 StVG zuständig ist, die im Verkehrszentralregister nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 StVG zu erfassenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach der Schwere der Zuwiderhandlungen und nach ihren Folgen mit einem bis zu sieben Punkten nach näherer Maßgabe einer Rechtsverordnung zu bewerten (vgl. § 4 Abs. 2 S. 1 StVG , § 40 FeV ). Nur zur Vorbereitung der Maßnahmen nach Absatz 3 hat das Kraftfahrt-Bundesamt bei Erreichen der betreffenden Punktestände den Fahrerlaubnisbehörden die vorhandenen Eintragungen aus dem Verkehrszentralregister zu übermitteln (vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 12. März 2003 -2 EO 688/02 -, a.a.O.; VG Potsdam, Beschluss vom 16. September 2002 -10 L 580/02 -).


Die im gerichtlichen Verfahren vorgebrachte Äußerung des Antragsgegners, die Entziehungsentscheidung sei nicht im Rahmen des Punktsystems erfolgt, sondern auf § 3 Abs. 1 S. 1 StVG gestützt gewesen, findet in dem angefochtenen Bescheid keine Stütze. Würde man das Auswechseln der Rechtsgrundlage durch die Behörde für zulässig halten, hätte der Widerspruch des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Die sofortige Vollziehbarkeit kraft Gesetzes greift nur bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis in Anwendung des Punktsystems. Eine Anordnung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO hat das Landeseinwohneramt nicht getroffen.

Nach der Zustellung der bereits erwähnten Verwarnung vom 12. September 2002 am 18. September 2002 ist - soweit ersichtlich - eine weitere Ordnungswidrigkeit

   2. September 2003: Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts 24 km/h [1 Punkt]

zur Eintragung gekommen, so dass bei Anwendung des Punktesystems nunmehr eine Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG zu ergreifen sein dürfte. ..."

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