Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Kammergericht Berlin Urteil vom 13.02.2006 - 12 U 70/05 - Zur Haftungsverteilung bei starkem Abbremsen des Vorausfahrenden ohne Grund

KG Berlin v. 13.02.2006: Zur Haftungsverteilung bei starkem Abbremsen des Vorausfahrenden ohne Grund




Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 13.02.2006 - 12 U 70/05) hat entschieden:

  1.  Treffen starkes Bremsen ohne zwingenden Grund sowie Unaufmerksamkeit und/oder unzureichender Sicherheitsabstand zusammen, so fällt der Beitrag des Auffahrenden grundsätzlich doppelt so hoch ins Gewicht; das führt dazu, dass der Auffahrende vom Vorausfahrenden regelmäßig Schadensersatz nach einer Quote von 1/3 verlangen kann.

  2.  Die Mithaftung des Vorausfahrenden ist umso größer, je unwahrscheinlicher ein starkes plötzliches Abbremsen ist.

  3.  Vollzieht der mit einem Automatik-Fahrzeug nicht vertraute Vorausfahrende in einem Abstand von 75–100 m vor einer roten Ampel plötzlich eine Vollbremsung, weil er mit dem linken Fuß – in der Vorstellung, eine Kupplung zu treten – kräftig auf die Bremse tritt, kommt im Verhältnis zu dem unaufmerksamen Auffahrenden eine Haftungsverteilung 50:50 in Betracht.


Siehe auch
Auffahrunfall - Bremsen des Vorausfahrenden
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung

Zum Sachverhalt:


Der Kl. begehrt von den Bekl. Schadensersatz nach einer Haftungsquote von 75 % wegen der Beschädigung seines Pkw bei dem Verkehrsunfall vom ... . An diesem Tag befuhr der KI. mit seinem Fahrzeug und die Bekl. zu 1. mit ihrem Fahrzeug, dessen Haftpflichtversicherer die Bekl. zu 2. war, die Stadtautobahn A 100 in B. in nördlicher Richtung. Beide Fahrzeuge verließen die Autobahn an der Ausfahrt K. Beim Verlassen der Autobahn war die LZA am Ende der Ausfahrt auf „rot” geschaltet. vor der Haltelinie standen bereits mehrere Fahrzeuge. In einer Entfernung von ca. 75 – 100 m von den dort haltenden Fahrzeugen kam es auf der Autobahnausfahrt zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge. wobei der Kl. mit seiner Frontpartie gegen die Heckpartie des Beklagtenfahrzeuges stieß.




Der KI. behauptet. die Bekl. zu 1. habe ohne ersichtlichen Grund plötzlich eine Gewaltbremsung durchgeführt, trotz Vollbremsung und eines ausreichenden Sicherheitsabstandes von ca. 40 bzw. 30 m zum Beklagtenfahrzeug habe er eine Kollision nicht vermeiden können. Die Bekl. zu 1. habe plötzlich so stark abgebremst, dass sich das Heck angehoben habe, nachdem sie aufgrund eines Fahrfehlers mit dem rechten Fuß das Gaspedal und mit dem linken Fuß die Bremse – des Automatikfahrzeuges. mit dem sie nicht vertraut gewesen sei –, bedient habe. Er begehrt u.a. 75 % der von einem Kfz-Sachverständigen veranschlagten Reparaturkosten in Höhe von 8.069,28 € (netto). Die Bekl. tragen vor, dass der Abbremsvorgang der Bekl. zu 1. im Hinblick auf die vor der Ampelanlage stehenden Fahrzeuge verkehrsbedingt gewesen sei und bestreiten eine plötzliche Gewaltbremsung ohne ersichtlichen Grund.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das KG das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Das LG hat die Klage zu Unrecht in voller Höhe abgewiesen. Die Bekl. sind verpflichtet, dem Kl. den ihm bei dem Verkehrsunfall vom ... gegen ... Uhr in B., Autobahn 100 in Richtung Norden, Ausfahrt K., entstandenen und in Höhe von 75% eingeklagten Schaden zur Hälfte zu ersetzen. Soweit das LG eine Sorgfaltspflichtverletzung des Kl. festgestellt hat, ist dies allerdings nicht zu beanstanden; das LG hat aber nicht hinreichend den Fahrfehler der Bekl. zu 1. in die Abwägung nach § 17 StVG eingestellt.

Soweit das LG allerdings auf S. 5 des angefochtenen Urteils ausführt, die Bekl. habe „nicht ohne zwingenden Grund gebremst” und der Kraftfahrer dürfe „plötzlich stark bremsen, ohne nicht den rückwärtigen Verkehr zu beobachten”, ist dieser Grundsatz in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend und passt nicht auf den Streitfall. Vielmehr betreffen die vom LG zitierten Entscheidungen des KG das Anhalten vor einer Ampel, die unmittelbar vor dem Kraftfahrer auf „Gelb” schaltet mit der Folge, dass er deshalb scharf bremst.

So war es im Streitfall jedoch nicht; vielmehr hat die Bekl. zu 1) im Abstand von etwa 75–100 m von vor der roten Ampel stehenden Fahrzeugen eine Vollbremsung vollzogen, weil sie mit dem Automatik-Fahrzeug nicht vertraut war und mit dem linken Fuß – in der Vorstellung die Kupplung zu treten – eine Vollbremsung vollzogen hat.



§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVO ordnet an: „Der Vorausfahrende darf nicht ohne zwingenden Grund bremsen”. Gegen dieses Gebot hat die Bekl. zu 1) verstoßen. Auch wenn damit – wie das LG zutreffend bemerkt – der zu Lasten des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis nicht erschüttert ist, steht damit jedoch eine Sorgfaltspflichtverletzung der vorausfahrenden Bekl. zu 1) fest, die im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile nach § 17 Abs. 1 StVG zu berücksichtigen ist. Treffen starkes Bremsen ohne zwingenden Grund und unzureichender Sicherheitsabstand und/ oder Unaufmerksamkeit zusammen, so fällt der Beitrag des Auffahrenden nach der Rspr. des KG grundsätzlich doppelt so hoch ins Gewicht (vgl. Senat, NZV 2003, 41 = KGR 2003, 21 = VersR 2002, 1571). Das führt dazu, dass der Auffahrende vom Vorausfahrenden i.d.R. Schadensersatz nach einer Quote von 1/3 verlangen kann. Eine ungünstigere Mithaftungsquote zu Lasten des Abbremsenden ist jedoch dann geboten, wenn der Auffahrende den Verkehrsraum vor dem Vorausfahrenden überschauen konnte und er aus diesem Grund nicht mit einem Abbremsen rechnen musste. Je nach den Umständen des Einzelfalles kommt eine Haftung des Abbremsenden nach einer Quote von 1/2 (vgl. KG, VM 1982, 88) oder sogar dessen volle Haftung in Betracht (KG, VM 1993, 27; Anfahren nach Umschalten der Ampel auf Grün und dann plötzliche Vollbremsung). Die Mithaftung des Vorausfahrenden ist um so größer, je unwahrscheinlicher nach der Verkehrssituation ein starkes plötzliches Abbremsen ist (vgl. Senat, Urteil vom 30. 5. 1995 – 12 U 5941/93 – m.w.N.). Im Streitfall hält der Senat eine Haftungsverteilung 50 : 50 für angezeigt, und zwar insbesondere im Hinblick auf den groben Fahrfehler der Bekl. zu 1) und den großen Abstand des Unfallortes von den vor der roten Ampel wartenden Fahrzeugen von 75 – 100 m; andererseits musste der Kl. – wegen der roten Ampel ohnehin mit einem Bremsen der Bekl. zu 1) rechnen (im Unterschied zur Vollbremsung nach Ampelstart). ..."

- nach oben -



Datenschutz    Impressum