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Verwaltungsgericht Berlin Beschluss vom 23.12.2004 - 4 A 544/04 - Zu Zweifeln, ob ein lediglich für die Vergangenheit nachgewiesener Drogenkonsum ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen die Ungeeignetheit des Kraftfahrzeugführers belegt

VG Berlin v. 23.12.2004: Es bestehen Zweifel, ob ein lediglich für die Vergangenheit nachgewiesener Drogenkonsum ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen die Ungeeignetheit des Kraftfahrzeugführers belegt.




Das Verwaltungsgericht Berlin (Beschluss vom 23.12.2004 - 4 A 544/04) hat entschieden:

   Es bestehen Zweifel, ob ein lediglich für die Vergangenheit nachgewiesener Drogenkonsum ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen die Ungeeignetheit des Kraftfahrzeugführers belegt. Zweifelhaft ist, wie lange vom Fehlen der Kraftfahreignung auszugehen ist, wenn schon bei einmaliger Einnahme von Drogen ein Mangel im Sinne der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung angenommen wird.

Siehe auch
Zeitabstand zwischen zurückliegendem Drogenkonsum und Fahrerlaubnis-Maßnahmen
und
Stichwörter zum Thema Drogen

Zum Sachverhalt:


Der Antragsteller hat am 14. Mai 2004 ein Fahrzeug unter Einfluss von Cannabis und Cocain geführt. Die dem Antragsteller entnommene Blutprobe verlief positiv auf Cocain und Cannabis. Der Antragsteller hat gegenüber den kontrollierenden Grenzschutzbeamten eingeräumt, zuvor in den Niederlanden Marihuana geraucht und Cocain geschnupft zu haben. Zu seinen Konsumgewohnheiten befragt, hat er angegeben, er „rauche 1-2 mal im Monat“. Die Tat vom 14. Mai 2004 ist mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid des Landkreises Grafschaft Bentheim vom 6. Juli 2004 (3.3/3-4282261) geahndet worden.

Das Verwaltungsgericht stellte antragsgemäß die aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis wieder her.




Aus den Entscheidungsgründen:


"... Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,

   die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 11. November 2004 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,

ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.

Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung ist die angegriffene Entziehung der Fahrerlaubnis nicht offensichtlich rechtmäßig. An ihrer Rechtmäßigkeit bestehen vielmehr Zweifel.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 der Fahrerlaubnisverordnung - FeV - muss die Fahrerlaubnis entzogen werden, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Ungeeignet ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis insbesondere dann, wenn bei ihm Erkrankungen oder Mängel im Sinne der Anlage 4 zur FeV vorliegen. Nach Ziffer 9.1 der Anlage 4 zur FeV ist die Kraftfahreignung für alle Fahrerlaubnisklassen bei „Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes“ ausgeschlossen. Nach Ziffer 9.2.2 fehlt die Eignung bei „gelegentlicher Einnahme von Cannabis“, wenn zwischen Konsum und Fahren nicht getrennt werden kann oder zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen vorliegt.




Der Antragsteller hat am 14. Mai 2004 ein Fahrzeug unter Einfluss von Cannabis und Cocain geführt. Die dem Antragsteller entnommene Blutprobe verlief positiv auf Cocain und Cannabis. Der Antragsteller hat gegenüber den kontrollierenden Grenzschutzbeamten eingeräumt, zuvor in den Niederlanden Marihuana geraucht und Cocain geschnupft zu haben. Zu seinen Konsumgewohnheiten befragt, hat er angegeben, er „rauche 1-2 mal im Monat“. Die Tat vom 14. Mai 2004 ist mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid des Landkreises Grafschaft Bentheim vom 6. Juli 2004 (3.3/3-4282261) geahndet worden.

Es ist zweifelhaft, ob die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen aufgrund des vorgenannten Vorfalles (noch) feststeht. Viel spricht dafür, dass sich aus dem Verhalten des Antragstellers - nachdem nunmehr über sieben Monate verstrichen sind - lediglich Eignungszweifel ergeben, die durch die Behörde, z.B. nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. § 14 FeV mittels Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, aufzuklären sind.

Der Antragsteller macht unwiderlegt geltend, derzeit - mindestens seit dem 29. Juni 2004 - keinerlei Drogen zu konsumieren. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist beim Entzug der Fahrerlaubnis derjenige der letzten Behördenentscheidung.

Ob ein lediglich für die Vergangenheit nachgewiesener Konsum von Drogen für das Vorliegen des Mangels „Einnahme“ von Betäubungsmitteln i.S.d. Ziffern 9.1 und 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV zum hiernach entscheidungserheblichen Zeitpunkt ausreicht und die Fahrerlaubnisbehörde berechtigt und verpflichtet, die Fahrerlaubnis ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen zu entziehen, ist zweifelhaft.


Mit dem Begriff der „Einnahme“ kann nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck (Abwehr künftiger Gefahren) auch ein früher länger anhaltendes und noch nachwirkendes bzw. ein gegenwärtig anhaltendes, in die nahe Zukunft wirkendes Konsumverhalten gefordert sein (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 14. Januar 2002 - 2 TG 3008/02 -, ZfS 2002, 599; OVG Münster, Beschluss vom 25. März 2003 - 19 B 186/03 -, Juris; vgl. auch VG Potsdam, Beschluss vom 5. Januar 2004 - 10 L 1246/03 - n.v.). Wollte man den für die Vergangenheit nachgewiesenen einmaligen Konsum „harter Drogen“ bzw. den für die Vergangenheit nachgewiesenen Gelegenheitskonsum von Cannabis bei zugleich feststehender Verkehrsteilnahme für das (gegenwärtige) Vorliegen des Mangels ausreichen lassen (so bei Gelegenheitskonsum von Cannabis und Verkehrsteilnahme VGH Mannheim, Beschluss vom 7. März 2003 - 10 S 323/03 -, DAR 2003, 236; VG Berlin, Beschluss vom 31. März 2004 - VG 11 A 155.04 -; bei einmaligem Konsum „harter Drogen“ OVG Koblenz, Beschluss vom 21. November 2000 - 7 B 11967/00 -, DAR 2001, 183; VGH Mannheim, Beschluss vom 24. Mai 2002 - 10 S 835/02 - und Beschluss vom 28. Mai 2002 - 10 S 2213/01 -, NZV 2002, 475 ff.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 14. August 2002 - 12 ME 566/02 -, DAR 2002, 471 [472]; Beschluss vom 16. Juni 2003 - 12 ME 172/03 -, DAR 2003, 432; OVG Weimar, Beschluss vom 30. April 2002 - 2 EO 87/02 -, ZfS 2002, 406; VG Berlin, Beschluss vom 14. Juni 2004 - VG 11 A 311.04 -, unter Hinweis auf die „allein zu prüfenden Beschwerdegründe“ bestätigt durch OVG Berlin, Beschluss vom 16. August 2004 - OVG 1 S 44.04 -; wohl auch VG Berlin, Beschluss vom 24. April 2001 -VG 20 A 113.01 -; die vom Antragsgegner weiter angeführten Entscheidungen des VG Berlin, Beschluss vom 30. Januar 2002 - 27 A 16.02 -, bestätigt durch OVG Berlin, Beschluss vom 14. März 2002 - OVG 1 S 7.02 - betreffen hingegen einen Fall langjährigen Kokainkonsums), so könnte - bei Verkehrsteilnahme unter Drogeneinfluss, ohne dass der für § 316 StGB erforderliche Nachweis der Fahrunsicherheit aufgrund rauschgiftbedingter Ausfallerscheinungen erbracht worden ist - ein Wertungswiderspruch zu den §§ 25 Abs. 1 Satz 2, 24 a Abs. 2 StVG bestehen. Denn die Fahrerlaubnisbehörde müsste stets die Fahrerlaubnis entziehen, obwohl die genannten Bestimmungen als Sanktion für die Tat lediglich ein Fahrverbot vorsehen.

Ungeklärt wäre zudem die Frage, wie lange der durch den vergangenen Konsum zutage getretene Mangel i.S.d. § 46 Abs. 1 FeV „vorliegt“. Je länger der nachgewiesene Konsum zurückliegt, um so zweifelhafter wird ein hiermit begründeter Ausschluss der Kraftfahreignung. Ob er beim Kläger noch bejaht werden kann, ist fraglich.




Eine Vorschrift, die angibt, wie lange ein einmal festgestellter Mangel gegeben ist, ist nicht ersichtlich. Soweit in der Rechtsprechung bei früherem Drogenkonsum für die Wiederherstellung der Fahreignung in entsprechender Anwendung der Ziffer 9.5 der Anlage 4 zur FeV der Nachweis einjähriger Abstinenz gefordert wird (z.B. VGH Mannheim, Urteil vom 30. September 2003 - 10 S 1917/02 -, DAR 2004, 471 [472]), erscheint die Heranziehung dieser Bestimmung äußerst zweifelhaft. Die Jahresfrist der Ziffer 9.5 der Anlage 4 zur FeV passt schon nicht auf den einmaligen Konsum harter Drogen, weil Ziffer 9.5 der Anlage 4 zur FeV Entgiftung und Entwöhnung verlangt und sich daher ersichtlich nur auf Fälle der Abhängigkeit und des gewohnheitsmäßigen Konsums bezieht. Bei nicht abhängigen Konsumenten könnte daher die Kraftfahreignung - soweit ein gegenwärtig andauernder Konsum nicht feststeht - bereits nach sechs Monaten (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 30. Juni 2003 - 1 B 206/03 -, DAR 2004, 284 [285]) oder nach einem noch kürzeren Zeitraum wieder gegeben sein. Liegt der Eignungsmangel im Gelegenheitskonsum von Cannabis bei fehlendem Trennungsvermögen, erscheint eine entsprechende Heranziehung von Ziffer 9.5 der Anlage 4 zur FeV noch zweifelhafter. Denn hier kann die Kraftfahreignung nicht nur durch Abstinenz sondern auch dadurch wiederhergestellt werden, dass sich der Betroffene die Fähigkeit aneignet, zwischen dem Konsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen hinreichend zu trennen (vgl. Ziffer 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV).

Die Forderung eines durch den Betroffenen zu führenden einjährigen Abstinenznachweises erscheint zudem deshalb bedenklich, weil der Betroffene diesen Nachweis ohne Mitwirkung der Fahrerlaubnisbehörde nur unter größten Schwierigkeiten erbringen kann. Legt er nämlich - wie der Antragsteller - freiwillige Drogenscreenings vor, wird er sich dem Einwand gegenübersehen, deren Ergebnis durch Wahl des Untersuchungszeitpunktes beeinflussen zu können. Für einen Nachweis „auf der Basis von mindestens vier unvorhersehbar anberaumten Laboruntersuchungen ... in unregelmäßigen Abständen“ (vgl. Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung, Leitsätze zu 3.12.1) bedarf es jedoch einer koordinierenden Stelle, die Fahrerlaubnisinhabern ohne durch die Fahrerlaubnisbehörde angeordnete Aufklärungsmaßnahmen regelmäßig fehlt.



Sind angesichts der oben aufgezeigten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung die Erfolgsaussichten des Widerspruchs offen, so bedarf es einer allgemeinen Abwägung des Aussetzungsinteresses des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresses des Antragsgegners. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers aus. Anders als in den Fällen des § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG (vgl. § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG) ist eine auf § 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis nicht schon kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Diese gesetzgeberischen Wertung würde unterlaufen, wollte man allein im Hinblick auf das Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs dem öffentlichen Vollzugsinteresse den Vorrang einräumen (so aber OVG Münster, a.a.O.). Da es vorliegend allein vom Willen des - nicht von Drogen abhängigen - Antragstellers abhängt, ob er erneut unter Drogeneinfluss am Straßenverkehr teilnimmt und angesichts des Druckes des andauernden Entziehungsverfahrens damit zu rechnen ist, dass er hiervon jedenfalls bis zur Entscheidung über seinen Widerspruch Abstand nehmen wird, ist dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers der Vorrang einzuräumen. ..."

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