Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 15.12.2005 - 12 U 165/05 - Die "Lückenrechtsprechung" gilt nicht zu Gunsten von vom Fahrbahnrand anfahrenden Fahrzeugen
KG Berlin v. 15.12.2005: Die "Lückenrechtsprechung" gilt nicht zu Gunsten von vom Fahrbahnrand anfahrenden Fahrzeugen
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 15.12.2005 - 12 U 165/05) hat entschieden:
- Die "Lückenrechtsprechung" gilt nicht zu Gunsten von vom Fahrbahnrand anfahrenden Fahrzeugen.
- Der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer hat keine Bedeutung für andere, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigte Fahrzeuge.
- Überholverbote bezwecken nicht den Schutz des vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmers.
- Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des vom Fahrbahnrand in den Verkehr Anfahrenden tritt die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeugs im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück.
Siehe auch Lückenunfälle und Verzicht auf das Vorfahrtrecht - Vorrangverzicht
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. ...
§ 10 StVO ordnet an, dass der Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen.
Vom Anfahrenden wird damit äußerste Sorgfalt gefordert (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 10 Rdnr. 10 m. w. N.).
Diese äußerste Sorgfalt hat die Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges, K. H., nicht eingehalten, weil sie beim Anfahren vom Fahrbahnrand und dem Versuch, sich in die Fahrzeugkolonne im rechten Fahrstreifen einzuordnen, - unstreitig - mit der linken Front außerhalb der linken Fahrzeugbegrenzung der gestauten Fahrzeugkolonne geraten ist; sie ist mit der linken vorderen Ecke des Pkw Peugeot des Klägers gegen die rechte Seite des vorbeifahrenden VW T4 Kastenwagen in Höhe dessen B-Säule gestoßen; dies folgt aus dem unstreitigen Parteivorbringen sowie den zu den Akten gereichten Lichtbildern. Dies war zweifellos sorgfaltswidrig und ursächlich, da es ohne ein derartiges Fahrverhalten nicht zum streitgegenständlichen Unfall gekommen wäre. Eine unfallursächliche Sorgfaltspflichtverletzung der mit dem Fahrzeug des Klägers vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmerin K. H. steht also fest (vgl. auch Seite 5 Abs. 3 des angefochtenen Urteils).
2. Der Kläger beanstandet auf Seite 4 bis 9 der Berufungsbegründung, das Landgericht habe völlig unberücksichtigt gelassen, dass auch den Beklagten zu 1) eine Sorgfaltspflicht getroffen habe (aus §§ 1 Abs. 2, 5 Abs. 4 StVO, freigelassene Lücke), die zur Sorgfaltspflicht der Zeugin H. hätte in Bezug gesetzt werden müssen, was unterblieben sei (vgl. Seite 7 der Berufungsbegründung).
Auch diese Argumentation verhilft der Berufung nicht zum Erfolg.
Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des in den Verkehr einfahrenden tritt die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück (vgl. Senat, VM 2001, 27 Nr. 31 = KGR 2001, 27 = DAR 2001, 34 L; ständige Rechtsprechung, vgl. Hentschel, a. a. O., StVG § 17 Rdnr. 18).
Umstände und Tatsachen, aus denen ein Mithaftungsanteil der Beklagten wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 1) abzuleiten ist, sind nicht festzustellen.
a) Seitenabstand und fließender Verkehr
Zu Unrecht vertritt der Kläger auf Seite 4, 5 der Berufungsbegründung die Auffassung, die Fahrzeugführerin seines Pkw sei im Unfallzeitpunkt bereits Teil des fließenden Verkehrs gewesen.
Dies würde voraussetzen, dass der Vorgang des Anfahrens (Ausparkens) im Kollisionszeitpunkt abgeschlossen war. Dass dies nicht der Fall war, hat das Landgericht auf Seite 6, Abs. 2, des angefochtenen Urteils zutreffend begründet.
Auch der Kläger selbst hat auf Seite 5, 4. Absatz, seines Schriftsatzes vom 18. November 2004 (Klageschrift) vorgetragen: „Noch während des Einfahrvorganges kam es zu dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Beklagten, ...“; der Einfahrvorgang war also im Zeitpunkt der Kollision zweifellos noch nicht beendet.
Dagegen hat das Landgericht es nicht verfahrenswidrig unterlassen, Beweis zu erheben durch Vernehmung der K. H. als Zeugin; einerseits hat der Kläger Tatsachen zum seitlichen Abstand des Fahrzeuges der Beklagten von der Kolonne im Einzelnen nicht vorgetragen; er hat auf Seite 5 des Schriftsatzes vom 18. November 2004 auch nicht vorgetragen, die Fahrzeugführerin seines Fahrzeuges habe nur die Fahrspur des Kolonnenverkehrs verwendet; dies ist zwar auf Seite 1 des Schriftsatzes vom 17. Mai 2005 behauptet worden zusammen mit der Erwiderung auf Seite 2 dieses Schriftsatzes, der Unfallort habe nicht - wie die Beklagten behaupten - ca. ein Meter vom Fluchtpunkt der Fahrzeugkolonne sich befunden, sondern „weit näher an der Fahrzeugkolonne“.
Unabhängig von der Frage der Substanz dieses Vorbringens hat das Landgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass der vom Überholer nach § 5 Abs. 4 StVO einzuhaltende Seitenabstand nicht den Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer bezweckt.
Ferner ist hervorzuheben, dass der Beklagte zu 1) zwar die verkehrsbedingt wartenden Fahrzeuge der Kolonne im Rechtssinne „überholt“ hat, nicht aber das Fahrzeug des Klägers. Denn „Überholen“ im Sinne des § 5 StVO ist der tatsächliche absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (vgl. Hentschel, a. a. O., StVO § 5 Rdnr. 16 m. w. N.). Das Fahrzeug des Klägers hat im Unfallzeitpunkt weder verkehrsbedingt gewartet noch sich in derselben Richtung wie das vom Beklagten zu 1) geführte Kraftfahrzeug bewegt, sondern ist mit seiner linken vorderen Ecke gegen die rechte Seite des vorbeifahrenden Kastenwagens gestoßen.
Auch bezwecken selbst Überholverbote nicht den Schutz des aus einem Grundstück durch eine Lücke in einer Kolonne in die Fahrbahn einfahrenden Verkehrsteilnehmers (vgl. Senat, Urteile vom 12. Februar 1998 - 12 U 5603/96 -, NZV 1998, 376 = VersR 1999, 1382 = VM 1998, 76 Nr. 94 = KGR 1998, 229).
Entsprechendes gilt erst recht gegenüber vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmern.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es die Fahrerin des klägerischen Fahrzeuges war, welche den Abstand zum vorbeifahrenden Kastenwagen verringert hat mit der Folge der Kollision; denn unstreitig hat der Pkw Peugeot des Klägers mit seiner linken vorderen Ecke die rechte Seite des VW T4 Kastenwagens in Höhe dessen B-Säule getroffen; damit steht fest, dass der Pkw die Kollisionsstellung noch nicht erreicht hatte, als der Transporter mit seiner Front den späteren Unfallort passierte.
b) Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht, § 1 Abs. 2 StVO
Auch für eine Mithaftung der Beklagten wegen Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht im Verkehr (§ 1 Abs. 2 StVO) sind Tatsachen nicht hinreichend feststellbar.
Der gemäß § 10 StVO bevorrechtigte fließende Verkehr, zu dem der Beklagte zu 1) zählte, darf regelmäßig auf die Beachtung seines Vorrangs vertrauen (vgl. Hentschel, a. a. O., StVO § 10 Rdnr. 8 m. w. N.).
Dieser Grundsatz ist eingeschränkt durch die so genannte Lückenrechtsprechung, auf die das Landgericht auf Seite 6 f. des angefochtenen Urteils zutreffend hingewiesen hat. Danach gilt: Wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken in Höhe von Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann; regelmäßig ist bei Verletzung dieser Sorgfaltspflicht, die ihre Grundlage in § 1 Abs. 2 StVO findet (vgl. BGH VersR 1969, 756; KG VersR 1975, 524; Senat, Urteil vom 20. Dezember 1993 - 12 U 6046/93 -) eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten zu 1/4 gerechtfertigt.
Ein derartiger Fall ist jedoch nicht gegeben; zutreffend hat das Landgericht darauf hingewiesen, dass diese Rechtsprechung nicht über die Fälle der Lücke vor Einmündungen und Kreuzungen ausgedehnt wird, und zwar nicht zugunsten von Fahrzeugen, die durch eine freigelassene Lücke aus einem Grundstück ausfahren (vgl. Senat NZV 1996, 365; NZV 1998, 376) oder in ein Grundstück einfahren (Senat NZV 2003, 182) wollen.
Die Rechtsprechung gilt auch erst recht nicht in Fällen, in denen eine Lücke zugunsten parkender Fahrzeuge zum Zwecke des Einfädelns freigehalten wird (BayObLG VRS 65, 152; Hentschel, a. a. O., StVO § 10 Rdnr. 9), wobei nicht entscheidend ist, ob der Ausparkende wenden will oder nicht; denn in derartigen Fällen braucht der Bevorrechtigte - im Gegensatz zu Lücken vor Kreuzungen und Einmündungen - nicht mit Fahrzeugen zu rechnen, die durch eine Lücke in einer Fahrzeugkolonne quer oder schräg zur Fahrtrichtung des Bevorrechtigten herausfahren.
Wenn der Kläger auf Seite 6 der Berufungsbegründung betont, die Fahrzeugführerin seines Pkw sei gerade nicht aus einer Grundstücksausfahrt herausgefahren, sondern vom Fahrbahnrand an losgefahren, so folgt auch daraus kein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 1 Abs. 2 StVO. Denn er braucht - wie bereits betont - nicht einmal damit zu rechnen, dass aus Lücken vor Grundstücksausfahrten Fahrzeuge quer oder schräg zu seiner Fahrtrichtung sich hinausbewegen; erst recht gilt dies für Fälle, in denen Lücken freigelassen werden, um einem Verkehrsteilnehmer das Anfahren vom Fahrbahnrand und das Einfädeln in eine Kolonne zu ermöglichen.
Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmer keine Bedeutung hat für andere, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigte Fahrzeuge (vgl. Senat, DAR, 237; MDR 1981, 1023 = VersR 1982, 583).
Wenn der Kläger auf Seite 7 der Berufungsbegründung rügt, das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass es für den Beklagten zu 1) erkennbar gewesen sei, dass jederzeit die Möglichkeit bestanden habe, dass eine Lücke für einen Ausparker gelassen werde, so rechtfertigt dies eine Abänderung des angefochtenen Urteils nicht.
Vielmehr ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagte - anders als bei Lücken vor deutlich erkennbaren Kreuzungen oder Einmündungen - nicht damit rechnen musste, dass ein Verkehrsteilnehmer durch eine freigelassene Lücke über die Kolonnenseite hinausfährt.
3. Im Übrigen hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherheit einer einheitlichen Rechtsprechung.
Es wird angeregt, die Rücknahme der Berufung zu erwägen. ..."