Kommt es zu einem Rückstau in einer Fahrzeugkolonne und wird für einbiegenden oder kreuzenden an sich wartepflichtigen Verkehr eine Lücke gelassen, so darf der Wartepflichtige unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen ("Hineintasten") diese Lücke zum Einbiegen oder Überqueren nutzen.
Kommt es dann doch zu einer Kollision mit einem die Kolonne überholenden Fahrzeug, spricht man von einem sog. Lückenunfall, bei dem in der Regel eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten von ca. einem Viertel (meistens) bis zu maximal einem Drittel (selten) gegeben ist.
OLG Köln v. 13.02.1973:
Verzichtet der vorderste Fahrer einer auf einer vorfahrtberechtigten Straße rechts haltenden Kolonne einem von rechts kommenden Fahrer gegenüber durch einen entsprechenden Wink auf seine Vorfahrt, so ist der von rechts kommende Fahrer verpflichtet, sich in die Vorfahrtstraße so vorsichtig hineinzutasten, dass er Einblick in die zweite Fahrspur gewinnen und notfalls auf der Stelle halten kann.
OLG Düsseldorf v. 27.10.1980:
Wer als Wartepflichtiger beim Durchfahren einer Lücke in einer Autokolonne, die sich auf der Vorfahrtstraße gebildet hat, einem an der Kolonne vorbeifahrenden Wagen in die Seite fährt, muß den Unfallschaden wegen der von ihm begangenen Vorfahrtverletzung allein tragen.
KG Berlin v. 02.07.1981:
Der zu sogenannten Lückenfällen entwickelte Grundsatz, dass sich ein an zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonnen vorbeifahrender Kraftfahrer im Bereich von Straßenkreuzungen oder -einmündungen auf Querverkehr einrichten muß, ist grundsätzlich nicht auf Fälle anzuwenden, in denen ein Kraftfahrer an einem Mittelstreifendurchbruch unter Benutzung einer Lücke auf der entgegengesetzten Richtungsfahrbahn zu wenden versucht.
OLG Stuttgart v. 16.11.1993:
Der Pkw-Fahrer der im Berufsverkehr auf nasser Fahrbahn mit einem Gefälle von 7 % die innerorts zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 78 % (88 - 102 km/h) überschreitet und dadurch in einen Pkw fährt, der sich durch die Lücke einer Kolonne in die Vorfahrtstraße "hineintastet", haftet für die Unfallschäden allein.
KG Berlin v. 19.12.1994:
Die Grundsätze der Rechtsprechung in sog. Lückenfällen, wonach ein Kraftfahrer, welcher an einer haltenden Fahrzeugkolonne links vorbeifährt sich unter Umständen auf Querverkehr aus einer freigelassenen Lücke einrichten muß, sind auch auf Fälle anzuwenden, in denen der Vorfahrtberechtigte eine zum Stillstand gekommene Fahrzeugkolonne rechts überholt und mit einem aus dem Querverkehr von links oder aus dem Gegenverkehr links abbiegenden und eine für den Vorfahrtberechtigten deutlich erkennbare Lücke benutzenden Fahrzeug zusammenstößt.
KG Berlin v. 27.07.1998:
"Hineintasten" bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten. Der Wartepflichtige genügt seiner Pflicht nicht, wenn er die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise die Fahrspur eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers sperrt.
KG Berlin v. 21.06.2001:
Der Anscheinsbeweis zugunsten des Vorfahrtberechtigten spricht für das alleinige Verschulden des Wartepflichtigen.
OLG Hamm v. 23.04.2013:
Wer bei dichtem Verkehr an einer zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, muss bei erkennbaren Verkehrslücken in Höhe von Kreuzungen und Einmündungen trotz seiner Vorfahrt seine Fahrweise so einrichten, dass er auch vor unvorsichtig aus der Lücke herausfahrenden Fahrzeugen rechtzeitig anhalten kann.
LG Tübingen v. 10.12.2013:
Ein Motorradfahrer, der eine vor einer Ampel wartende Fahrzeugkolonne überholt, ohne dass hierfür eine weitere Fahrtrichtungsspur zur Verfügung steht, verstößt gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot. Unter Berücksichtigung dieses Verschuldens und der Betriebsgefahr trifft ihn bei der Kollision mit einem unter Verstoß gegen § 10 StVO durch eine für ihn eröffnete Lücke in der Kolonne einbiegenden PKW eine Mithaftung von einem Drittel.
LG Köln v. 08.07.2008:
Bei einem sog. Lückenunfall an einer kleinen einmündenden Stichstraße liegt die weit überwiegende Verursachung des Unfalls bei dem einbiegenden Fahrzeug, welches zwar geringere Möglichkeiten der Einsichtnahme in die zweite Spur der Vorfahrtstraße hat; gerade dies zwingt aber den Einbiegenden zu einem Höchstmaß an Vorsicht, welches vorliegend nicht gewahrt wurde. Bei dieser Sachlage erscheint eine Quotelung von 75 %-25 % angemessen.
AG Kassel v. 03.07.2014:
Ein Fahrzeugführer, der von einer vorfahrtsverpflichteten in eine vorfahrtsberechtigte Straße rechts einbiegen will, darf aus einer Lücke, die ein an sich vorfahrtsberechtigter Fahrzeugführer im stockenden Verkehr lässt, nicht ohne weiteres schließen, dass dieser auf sein Vorfahrtsrecht verzichten will. Er muss sich vielmehr mit diesem gem. § 11 Abs. 3 StVO über die Vorfahrt verständigen.
OLG Koblenz v. 12.01.1981:
Zur Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem aus einer Kasernenausfahrt auf die vorbeiführende Straße nach links einfahrenden Pkw-Fahrer, dem durch Anhalten der von links gekommenen Kraftfahrer für das Ausfahren eine Lücke eröffnet worden ist, mit einem die haltende Kolonne im Überholverbot links überholenden Motorradfahrer.
OLG Karlsruhe v. 14.07.1989:
Eine hälftige Haftungsverteilung kann gerechtfertigt sein, wenn ein Fahrzeug nach links durch eine Lücke in einer auf der linken Fahrspur des Gegenverkehrs ins Stocken geratenen Kolonne in eine Hofeinfahrt einbiegen will und dabei mit einem auf der rechten Fahrspur der Gegenfahrbahn mit überhöhter Geschwindigkeit (65 km/h statt innerorts generell erlaubter 50 km/h) herannahenden Pkw zusammenstößt. Das gilt auch dann, wenn die Fahrerin eines stehenden Kolonnenfahrzeugs durch Handzeichen zu verstehen gegeben hat, daß sie dem einbiegenden Fahrzeug das Überqueren der Fahrbahn ermöglichen wolle.
KG Berlin v. 12.02.1998:
Die Grundsätze über den Lückenunfall finden an Grundstücksausfahrten keine Anwendung. Das gilt selbst bei einem Überholverbot und beim Überfahren der durchgezogenen Mittellinie.
KG Berlin v. 25.11.2002:
Die Grundsätze der sogenannten "Lückenrechtsprechung" gelten nur, soweit in einer Kolonne in einer vorfahrtsberechtigten Straße eine Lücke zur Ein- oder Ausfahrt in eine Nebenstraße freigehalten wird. Sie gilt nicht für die Ausnutzung von Lücken zur Ein- oder Ausfahrt in oder aus normalen Grundstücksausfahrten, etwa Parkplatzausfahrten.
OLG Rostock v. 19.02.2010:
Wer eine wartende Fahrzeugreihe links überholt, muss an einer Kolonnenlücke vor einer Grundstücksausfahrt nicht mit Querverkehr durch die Lücke rechnen. Kommt es zwischen dem Überholenden und dem auf die Fahrbahn Einfahrenden zu einem Unfall, so kommt keine Mithaftung des Bevorrechtigten zum Zuge. Insbesondere findet der Grundsatz, dass derjenige, der eine wartende Fahrzeugsschlange überholt, für den Querverkehr freigelassene Lücken an Kreuzungen und Einmündungen beachten und dort mit Querverkehr rechnen muss, an Grundstücksausfahrten keine Anwendung.
OLG München v. 31.03.2017:
Ein Kraftfahrer, der an einer Einmündung durch eine ihm gewährte Lücke einer wartenden Schlange hindurch die Gegenfahrbahn befahren will, um nach links abzubiegen, muss allen Fahrzeugen auf allen dort befindlichen Fahrspuren die Vorfahrt gewähren. Kann er den nicht von der Kolonne in Anspruch genommenen Fahrbahnteil nicht zuverlässig einsehen, darf er sich nur langsam „hineintasten“. - Das bedeutet, dass er sehr langsam („zentimeterweise“, „unter Schrittgeschwindigkeit“), stets bremsbereit einfährt und bei gegebenem Anlass sofort bremst. Kommt es zu einer Kollision, steht eine festgestellte Kollisionsgeschwindigkeit des Einfahrenden von 12 km/h der Annahme eines „Hineintastens“ entgegen (Mithaftung des eine Koilonne Überholenden 1/3).
OLG Köln v. 11.11.1987:
Ein Verstoß gegen ein Überholverbot kann jedenfalls in Verbindung mit Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit zur überwiegenden Verantwortung für die Kollision mit einem an sich wartepflichtigen Fahrer führen, der es unternommen hat, durch eine Lücke in der Fahrzeugkolonne in die bevorrechtigte Straße einzubiegen (hier: Haftungsverteilung 2/3 zu 1/3 zugunsten des Einbiegenden).
KG Berlin v. 22.07.2002:
Die sog. Lücken-Rechtsprechung, die im übrigen lediglich zu einer Mithaftung des Vorfahrtberechtigten zu 1/4 führen würde, passt für Unfälle an ampelgeregelten Kreuzungen nicht. In einem solchen Fall besteht kein Bedürfnis danach, dem Wartepflichtigen zu gestatten, sich durch eine vorhandene Lücke in die bevorrechtigte Straße vorzutasten. Vielmehr kann ihm zugemutet werden, abzuwarten, bis die Ampel für seine Fahrtrichtung grünes Licht abstrahlt.
KG Berlin v. 19.02.2009:
Ist eine – nach ihrer baulichen Erscheinung nicht als ausschließlich den Fußgängerüberweg regelnde – LZA aus Sicht des bevorrechtigten Kraftfahrers vor einer Einmündung oder Kreuzung angebracht, bezieht sie sich aus dessen Sicht also auch auf den Querverkehr, braucht er bei für ihn grünem Ampellicht mit Querverkehr nicht rechnen; dies gilt auch dann, wenn sich der Verkehr im rechts daneben liegenden Fahrstreifen gestaut hat. Die „Lückenrechtsprechung“ gilt nicht für Unfälle an ampelgeregelten Kreuzungen.
OLG Düsseldorf v. 26.08.2014:
Kollidiert ein nach links abbiegendes Kraftfahrzeug unter Verletzung des Vorfahrtsrechts mit einem entgegenkommenden und nicht den vorgeschriebenen Radweg benutzenden Fahrradfahrer, so ist der Schaden des Fahrradfahrers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens lediglich in Höhe von drei Vierteln ersatzfähig.