Das Verkehrslexikon

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OLG Karlsruhe Beschluss vom 07.11.2006 - 2 Ss 24/05 - Zum Charakter der "Fahrradstraße" als Sonderweg und zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf höchstens 30 km/h

OLG Karlsruhe v. 07.11.2006: Zur einzuhaltenden Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h auf "Fahrradstraßen"


Das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 07.11.2006 - 2 Ss 24/05) hat entschieden:
Unabhängig davon, ob sich in einer Fahrradstraße gerade ein Radfahrer befindet oder nicht, wird dem Charakter der "Fahrradstraße" als Sonderweg nur eine allgemeingültige und von der konkreten Verkehrssituation unabhängige Geschwindigkeitsbegrenzung auf höchstens 30 km/h gerecht.


Siehe auch Fahrradstraße


Entscheidungsgründe:

Mit Bußgeldbescheid der Stadt vom 4.6.2004 wurde gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 15 € festgesetzt. Auf seinen Einspruch hat das Amtsgericht ihn mit der angegriffenen Entscheidung freigesprochen. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die zur Fortbildung des Rechts zuzulassen und deren Entscheidung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen war, führt zur Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils und zur Verurteilung des Betroffenen.

Das Amtsgericht ist zwar in Übereinstimmung mit dem Bußgeldbescheid davon ausgegangen, dass der Betroffene mit seinem Kraftfahrzeug eine Fahrradstraße mit einer Geschwindigkeit von 43 km/h befahren hat. Abweichend von der Bußgeldbehörde, die ihrem Bescheid eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von maximal 30 km/h zugrundegelegt hat, hat es diese jedoch nicht als überhöht gewertet. Diese Rechtsansicht hält der Überprüfung durch den Senat nicht stand.

Für sog. Fahrradstraßen regelt § 41 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StVO mit dem Zeichen 244 abweichend von den grundsätzlich auch dort geltenden Vorschriften über die Benutzung von Fahrbahnen, dass diese von anderen Fahrzeugführern als Radfahrern nur benutzt werden dürfen, wenn es – wie vorliegend – durch ein Zusatzschild zugelassen ist, alle Fahrzeuge eine mäßige Geschwindigkeit einhalten müssen und Radfahrer nebeneinander fahren dürfen. Gegen dieses Gebot der mäßigen Geschwindigkeit hat der Betroffene mit der Geschwindigkeit von 43 km/h verstoßen.

1. Der Begriff der „mäßigen Geschwindigkeit“ findet sich – neben § 41 Abs. 2 Nr. 5 – in den §§ 5 Abs. 8, 8 Abs. 2, 19 Abs. 1 S. 2 und 26 Abs. 1 S. 2 StVO, ohne dass die Straßenverkehrsordnung allerdings eine allgemeine Definition der „mäßigen Geschwindigkeit“ oder allgemeingültige Kriterien zur Bestimmung ihrer erlaubten Höhe kennt. Diese richtet sich vielmehr nach dem Zusammenhang der jeweiligen Vorschrift und den Gefahren, die sie vermeiden soll. Während nämlich der Begriff der „mäßigen Geschwindigkeit“ in § 8 Abs. 2 und § 26 Abs. 1 S. 2 StVO abstrakt, d.h. ohne Ansehen der Straßenverhältnisse und der konkreten Verkehrssituation allein im Hinblick auf die Bremsmöglichkeit gedeutet wird (Hentschel zu § 5 StVO Rn 56; zu § 26 StVO Rn 16 m.w.Nachw; OLG Düsseldorf NZV 1988, 111), wird bei § 19 Abs. 1 S. 2 StVO auf die straßenbaulich bedingten Sichtverhältnisse und etwaige Warnsignale abgestellt (Hentschel zu § 19 StVO Rn 15; BayObLG NJW 1985, 1568; OLG Stuttgart VRS 80, 410). In § 5 Abs. 8 StVO soll es dagegen auf die konkreten Verkehrsverhältnisse und die sich daraus ergebende Beherrschbarkeit der beim Überholen entstehenden Gefahren ankommen (OLG Hamm NZV 2000, 126). Entsprechend muss auch die erlaubte Höhe der „mäßigen Geschwindigkeit“ in Fahrradstraßen im Wege der Auslegung aus dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift und der Gefahrenlage, der sie Rechnung tragen soll, bestimmt werden.

§ 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO regelt die sog. Sonderwege, die grundsätzlich nur von den für sie vorgesehenen Verkehrsmitteln benutzt werden dürfen. Das Zeichen 244 in § 41 StVO bestimmt folglich mit der Fahrradstraße einen Sonderweg, der von anderen Fahrzeugführern als Radfahrern nur befahren werden darf, wenn dies ausdrücklich zugelassen ist. Das bedeutet, dass der Fahrradverkehr dort die Regel, der Autoverkehr die Ausnahme ist (vgl. Kettler NZV 1997, 497; Hentschel NJW 1998, 346; Bouska DAR 1997, 337). Schon daraus folgt, dass sich der Kraftfahrzeugverkehr in den vorherrschenden Fahrradverkehr einpassen und an dessen Geschwindigkeit anpassen muss. Eine Geschwindigkeit, die den von der Fahrradgeschwindigkeit geprägten Verkehrsverhältnissen entspricht, darf nicht überschritten werden (Hentschel zu § 41 StVO Rn 248). Für diese Auslegung spricht auch der systematische Zusammenhang, in dem sich das Zeichen 244 im Anschluss an das Zeichen 242 findet, das den sog. Fußgängerbereich regelt, in dem „Schrittgeschwindigkeit“, also eine dem Fußgängerverkehr angepasste Geschwindigkeit, eingehalten werden muss. Nur eine dem Fahrradverkehr entsprechende Geschwindigkeit ist auch geeignet, die Gefahren, denen mit dem Gebot der „mäßigen Geschwindigkeit“ vorgebeugt werden soll, zu vermeiden. Denn die Nutzer der Fahrradstraße müssen sich im Hinblick auf den Charakter dieser Straße als Sonderweg darauf einstellen, dass Fahrradfahrer mit der ihnen möglichen Geschwindigkeit die Fahrradstraße befahren. Auch noch nicht sichtbare Fahrradfahrer können jederzeit – etwa aus einer Seitenstraße oder aus einer Ausfahrt - in diese einfahren (vgl. OLG Karlsruhe NZV 2004, 421 zur „Spielstraße“), wobei sie - auch wenn sie bei Einfahrt in die Fahrradstraße die Vorfahrtsregeln beachten müssen - regelmäßig darauf vertrauen werden, dass in der Fahrradstraße eine „mäßige“ Geschwindigkeit herrscht.

Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts kann es für die Höhe der erlaubten Geschwindigkeit auch nicht darauf ankommen, ob ein Fahrradfahrer sich konkret im Straßenbereich befindet. Dem Charakter der Fahrradstraße als Sonderweg, der grundsätzlich Radfahrern vorbehalten ist, wird nur eine allgemeingültige, von der konkreten Verkehrssituation unabhängige Geschwindigkeitsbegrenzung gerecht, die dem Umstand Rechnung trägt, dass andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Radverkehr, in ihrem Fahrverhalten auf die Einhaltung einer dem Fahrradverkehr angepassten Geschwindigkeit vertrauen.

Damit ist als mäßig im Sinne der Vorschrift des § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO, Zeichen 244 eine Geschwindigkeit anzusehen, die sich der des Fahrradverkehrs anpasst. Maßgebend für die Obergrenze der erlaubten Geschwindigkeit ist dabei allerdings nicht die - sehr niedrig - auf 14-17 km/h geschätzte Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrradfahrern (so aber Welge, Der Städtetag 1997, 716), da der Fahrradverkehr durchaus auch von schnelleren Radfahrern geprägt ist. Der Senat wertet vielmehr die von der Stadt veranschlagte Höchstgeschwindigkeit von maximal 30 km/h (vgl. auch Bouska DAR 1997, 337; Hentschel NJW 1998, 346; zu § 41 StVO Rn 248) als mäßig im Sinne des § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO, soweit die konkreten Verkehrsverhältnisse (§ 3 StVO) und damit auch der jeweils herrschende Fahrradverkehr eine solche Geschwindigkeit erlauben.

2. Die Verhängung eines Bußgeldes wegen Nichteinhalten der mäßigen Geschwindigkeit verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, das nach § 3 OWiG auch in Bußgeldsachen gilt (vgl. BVerfGE 71, 108; BGHSt 42, 79). Zwar muss danach die Beschreibung des Tatbestands die mit Bußgeld bedrohte Handlung so genau kennzeichnen, dass es dem Bürger vorausschauend erkennbar ist, ob sein Handeln mit Geldbuße geahndet werden könnte. Doch schließt dies nicht die Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. Vielmehr ist es im Hinblick auf die Allgemeinheit und Abstraktheit von Straf- und Ordnungswidrigkeitennormen, mit denen der Normgeber der „Vielgestaltigkeit des Lebens“ Rechnung tragen muss, unvermeidlich, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten unter einen gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht (BVerfGE 71, 108; BGHSt 42, 79; KK-Rogall, OWiG, § 3 Rn 31). Insbesondere in Bußgeldsachen dürfen die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot wegen der weniger einschneidenden Folgen eines Verstoßes nicht überspannt werden (BVerfG DAR 1968, 329; BGHSt 27, 321; Göhler, OWiG, zu § 3 Rn. 5). Verfassungsrechtliche Bedenken scheiden daher dann aus, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Normzusammenhangs, eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Bestimmung gewinnen lässt (BGHSt 42, 79) und die Vorschriften in ihrem Sinngehalt vom Normadressaten noch erfasst werden können (KK-Rogall, OWiG, § 3 Rn 33). Diesen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots ist vorliegend ausreichend Rechnung getragen. Der in der Straßenverkehrsordnung mehrfach benutzte Begriff der jeweils im konkreten Regelungszusammenhang auszulegenden mäßigen Geschwindigkeit lässt sich auch im Bereich der Fahrradstraßen aus dem dort vorherrschenden Verkehr im Wege der Auslegung für jeden Verkehrsteilnehmer vorausschauend ohne weiteres erschließen (vgl. OLG Köln VRS 68, 382 zum Begriff der Schrittgeschwindigkeit).

Das Urteil des Amtsgerichts war deshalb aufzuheben und der Betroffene wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit zu einer Geldbuße von 15 € zu verurteilen (§ 79 Abs. 6 OWiG).



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