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OLG Düsseldorf Urteil vom 07.06.2004 - 1 U 12/04 - Bei der fiktiven Abrechnung muss der Restwert auch bei Reparaturkosten unterhalb von 70% des Wiederbeschaffungswerts berücksichtigt werden
OLG Düsseldorf v. 07.06.2004: Bei der fiktiven Abrechnung muss der erzielbare Restwert bei der Vergleichsrechnung berücksichtigt werden, auch wenn die Reparaturkosten nicht 70 % des Wiederbeschaffungswerts erreichen.
Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 07.06.2004 - 1 U 12/04) hat in seiner Entscheidung zur 70%-Grenze und zur Anrechenbarkeit des Restwerts folgendes ausgeführt:
Selbst wenn die sachverständig geschätzten Reparaturkosten gemeinsam mit dem merkantilen Minderwert weniger als 70% des Wiederbeschaffungswertes ausmachen und der Kfz-Sachverständige daher von der Ermittlung des Restwertes abgesehen hat, kann bei fiktiver Schadenabrechnung auf Gutachtenbasis eine Entschädigungskürzung auf die Ersatzbeschaffungskosten in Betracht kommen. Dies ist der Fall, wenn der Geschädigte sein Fahrzeug unrepariert verkauft, nachdem ihm die gegnerische Versicherung ein akzeptables Restwertangebot hat zukommen lassen.
Siehe auch Abstrakte bzw. sog. fiktive Schadensabrechnung - Abrechnung auf Gutachtenbasis
Aus den Entscheidungsgründen:
" ... Verursacht bei mehreren zum Schadensausgleich führenden Möglichkeiten eine den geringeren Aufwand, ist der Geschädigte grundsätzlich auf diese beschränkt. Nur der für diese Art der Schadensbeseitigung nötige Geldbetrag ist zur Herstellung i.S.v. § 249 BGB erforderlich (BGH NJW 2003, 2085 m.w.N.). Dabei ist die Auswahl nicht abstrakt und auch nicht im Nachhinein, sondern unter denjenigen Wegen der Schadensbehebung zu treffen, die sich dem Geschädigten in seiner besonderen Lage erkennbar anbieten. Den wirtschaftlichsten Weg einzuschlagen, muss zudem für den Geschädigten zumutbar sein. Dieses sich jetzt aus § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ergebende Wirtschaftlichkeitsgebot gilt indessen nicht absolut. In einer Reihe von Fallgestaltungen wird es durch andere schadensrechtliche Grundsätze eingeschränkt. Bedeutung kann insoweit insbesondere das Interesse des Geschädigten an der Instandsetzung und Weiterbenutzung seines Fahrzeugs (Integritätsinteresse) gewinnen. Auch der Grundsatz der Dispositionsfreiheit des Geschädigten kann zu einer Korrektur einer allein an den Kosten ausgerichteten Schadensabrechnung nötigen.
bb) Der Gesichtspunkt des Integritätsinteresses fällt im Streitfall nicht zu Gunsten des Klägers ins Gewicht. Denn der Senat hat davon auszugehen, dass der Kläger sich von seinem Fahrzeug ohne vorherige Reparatur getrennt hat. Um ihm Gelegenheit zu geben, zum Verbleib des Unfallwagens nähere Angaben zu machen, hat der Senat den Kläger bereits mit der Terminsladung und sodann im Verhandlungstermin auf die Bedeutung dieser Frage und auf die Folgen eines etwaigen Schweigens hingewiesen. Der Kläger hat bewusst davon abgesehen, sich in dieser Frage zu erklären. Auch von der Möglichkeit, sich in einem nachgelassenen Schriftsatz zu äußern, hat er keinen Gebrauch gemacht. Der Senat schließt aus dem Schweigen des Klägers, dass er sein Unfallfahrzeug nicht behalten, also veräußert hat. Wäre es anders, gäbe es keinen Grund, in diesem Punkt zu schweigen. Dass der Kläger bei der Veräußerung einen Erlös erzielt hat, der über dem Kaufangebot der Fa. L. gelegen hat, erscheint möglich, wird vom Senat aber nicht unterstellt. Zu Lasten des Klägers wird lediglich angenommen, dass er den Unfallwagen, an wen auch immer, ohne vorherige Instandsetzung veräußert hat.
Bei dieser Sachlage ist das oben näher beschriebene Integritätsinteresse kein Gesichtspunkt, der die Schadensbemessung zu Gunsten des Klägers beeinflussen kann. Allerdings hat der Kläger einen Ersatzwagen angeschafft, wenn auch ein fabrikneues Fahrzeug der gleichen Marke und des gleichen Typs. Auch eine Ersatzbeschaffung kann eine Maßnahme der Wiederherstellung (Naturalrestitution) sein und damit Ausdruck des Interesses des Geschädigten, den vor dem Unfall bestehenden Zustand zumindest wirtschaftlich wiederherzustellen. Die Wahrnehmung dieses Integritätsinteresses im weiteren Sinne genügt jedoch nicht, um zu Lasten des Schädigers/Versicherers den Grundsatz der kostengünstigsten Wiederherstellung einzuschränken.
cc) Auch der Grundsatz der Dispositionsfreiheit rechtfertigt im vorliegenden Fall keine Korrektur des Wirtschaftlichkeitsgebots.
Die Dispositionsfreiheit gestattet dem Kläger zwar, seinen Fahrzeugschaden auf der Basis einer fiktiven Reparatur abzurechnen. Diese Befugnis hat er durch die Veräußerung seines Fahrzeugs nicht verloren (vgl. BGHZ 66, 239 = NJW 1976, 1396). Daran hat sich durch die Reform des Schadensrechts zum 1.8.2002 nichts geändert. Von der Möglichkeit einer Abrechnung der Reparaturkosten auf Gutachtenbasis kann ein Geschädigter indessen nur in bestimmten Grenzen Gebrauch machen. Wiederholt hat der Bundesgerichtshof hervorgehoben, dass der Geschädigte, der Ersatz fiktiver Reparaturkosten verlangt, sich grundsätzlich innerhalb derjenige Grenze halten müsse, die durch die Ersatzbeschaffungskosten gebildet wird (vgl. NJW 1985, 2469; DAR 1985, 318; NJW 1992, 903).
Diese Rechtsprechung, der der erkennende Senat in ständiger Spruchpraxis folgt, hat der BGH durch sein Urteil vom 29. April 2003 (NJW 2003, 2085) nicht in Frage gestellt. Denn die Zulässigkeit einer Abrechnung fiktiver Reparaturkosten bis zur Grenze des Wiederbeschaffungswerts unter Ausklammerung des Restwertes hat er davon abhängig gemacht, dass der Geschädigte sein Fahrzeug behält und reparieren lässt. Hätte der Kläger sich ebenso verhalten, bestünden gegen eine Abrechnung seines Fahrzeugschadens auf der Grundlage der gutachterlich geschätzten Reparaturkosten keine Bedenken. Sie liegen nämlich deutlich unter dem Wiederbeschaffungswert.
In einem anderen Punkt ist der Streitfall dagegen entscheidend anders gelagert. Der Kläger hat, wie ausgeführt, sein Fahrzeug nicht behalten, geschweige denn wieder instandgesetzt. Durch die Veräußerung des unreparierten Unfallwagens hat er den verhältnismäßig hohen Wert, der in seinem noch jungen Fahrzeug steckte, realisiert. Damit ist der Restwert - anders als im Fall BGH NJW 2003, 2085 - kein nur hypothetischer Rechnungsposten. Dass der Betrag, der dem Kläger durch die Veräußerung zugeflossen ist, ungenannt geblieben ist, ändert daran nichts.
b) Fraglich ist allerdings, ob der Restwert aus der Schadensbilanz deshalb fernzuhalten ist, weil der Sachverständige Z. in seinem Gutachten für den Kläger keinerlei Angaben zum Restwert gemacht hat. Da die Summe von Reparaturkosten und merkantilem Minderwert den Wiederbeschaffungswert nicht übersteige, lägen gegen eine Reparatur keine Bedenken vor, heißt es abschließend im Schadensgutachten. Das trifft zu. An der Reparaturwürdigkeit des Unfallfahrzeugs haben in der Tat zu keinem Zeitpunkt Zweifel bestanden.
Dass der Sachverständige Z. den Restwert nicht ausgewiesen hat, beruht ersichtlich auf der weitverbreiteten Übung, den Restwert erst bei geschätzten Reparaturkosten von mehr als 70 % des Wiederbeschaffungswertes zu ermitteln. Diese Praxis geht zurück auf eine Empfehlung des Verkehrsgerichtstages aus dem Jahre 1990, wonach der Geschädigte bei Abrechnung fiktiver Reparaturkosten die vom BGH geforderte Vergleichskontrollrechnung nur dann vorzunehmen hat, wenn die Reparaturkosten 70 % des Wiederbeschaffungswertes übersteigen (vgl. DAR 1990, 157). Der Arbeitskreis IV des 40.Verkehrsgerichtstages (2002) hat diese Empfehlung ausdrücklich wiederholt. Hiernach muss kein Restwert ermittelt werden, wenn die Reparaturkosten - wie im Streitfall - 70 % des Wiederbeschaffungswertes nicht erreichen.
aa) Wie in Fällen mit geschätzten Reparaturkosten von weniger als 70 % des Wiederbeschaffungswertes fiktiv abzurechnen ist, ist in Rechtsprechung und Lehre umstritten (vgl. Ch. Huber, Das neue Schadenersatzrecht, § 1 Rn 118 ff; ders. MDR 2003, 1334, 1339; Lemcke, Anwaltshandbuch Verkehrsrecht, Teil 3, Rn 152 ff.; Pamer, NZV 2000, 490). Unter Hinweis auf die Empfehlungen des Verkehrsgerichtstages hat die Rechtsprechung verschiedentlich eine Abrechnung auf der Basis fiktiver Reparaturkosten bis zur 70 %-Grenze unabhängig davon gebilligt, ob der Geschädigte sein Fahrzeug behalten oder veräußert hat (vgl. LG Osnabrück DAR 1993, 265 - Veräußerung vor Bekanntgabe eines Restwertangebots durch die Versicherung; siehe auch AG Nordhorn DAR 2000, 413 und AG Sigmaringen MDR 2000, 1430). Der BGH hat zu dieser besonderen Abrechnungsproblematik noch nicht ausdrücklich Stellung genommen. Die Empfehlungen des Verkehrsgerichtstages hat er sich weder zu Eigen gemacht noch hat er sie verworfen. Einen Fall der vorliegenden Art hat auch der erkennende Senat noch nicht entschieden.
bb) Bei einer Fallgestaltung, wie sie hier gegeben ist, sprechen die besseren Gründe dafür, den Fahrzeugschaden nach den - vergleichsweise geringeren - Ersatzbeschaffungskosten zu bemessen (§ 287 ZPO).
Dass der Gesichtspunkt des Integritätsinteresses im Streitfall außer Betracht zu bleiben hat, ist bereits näher ausgeführt worden (I,1, a, bb). Auch anderweitig sieht der Senat keinen rechtfertigenden Grund, dem Kläger einen Ersatz in Höhe der geschätzten Reparaturkosten zzgl. des merkantilen Minderwerts zuzubilligen. Sein Argument, als Laie habe er sich darauf verlassen können, den Fahrzeugschaden nach Maßgabe der von dem Sachverständigen Z. ermittelten Reparaturkosten abrechnen zu dürfen, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Richtig daran ist, dass er bzw. sein Anwalt im Zeitpunkt der ersten Abrechnung vom 10. Januar 2003 keinen Kostenvergleich ("Vergleichskontrollrechnung") vorzunehmen brauchte. Dazu bestand seinerzeit keine konkrete Veranlassung. Vielmehr war der Kläger ursprünglich in der Annahme schutzwürdig, mit der Abrechnung nach den (Netto-)Reparaturkosten die wirtschaftlichere der beiden Arten der Schadensberechnung gewählt zu haben.
Auf der anderen Seite war es dem beklagten Haftpflichtversicherer unbenommen, seine finanzielle Belastung dadurch zu verringern, dass er dem Kläger die Möglichkeit einer günstigen Verwertung des Unfallfahrzeugs aufzeigt. Auf diese Weise die Schadensbemessung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, war jedoch unter anderem davon abhängig, dass der Kläger zu einem Verkauf an den ihm genannten Bieter überhaupt noch in der Lage ist. Der Kläger hätte weder gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 249 BGB noch gegen seine Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs.2 BGB) verstoßen, wenn er sich seines Fahrzeugs vor Zugang des Restwertangebots entäußert hätte. Eine Verpflichtung, die Versicherung von seiner Verkaufsabsicht zu benachrichtigen, bestand nicht. Ob und inwieweit der Kläger bei der Preisgestaltung auf die Interessen des Schädigers/Versicherers hätte Rücksicht nehmen müssen, braucht nicht entschieden zu werden, zumal der tatsächlich erzielte Erlös ungewiss ist.
Von einer Veräußerung vor Empfang des Restwertangebots der Fa. L. kann der Senat nicht ausgehen. Vielmehr hatte er zu unterstellen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt (17. Januar 2003) noch Besitzer und Eigentümer des Unfallfahrzeugs war. Insoweit bestehende Zweifel gehen zu Lasten des Klägers. Denn er hat darzulegen und zu beweisen, dass sich die verlangten Reparaturkosten in den Grenzen des Wirtschaftlichen halten (BGH NJW 1985, 2469, 2470 re. Sp.). Von dieser prozessualen Last ist er nicht dadurch befreit, dass sein Fahrzeug ersichtlich reparaturwürdig war. Die vornehmlich aus Praktikabilitätsgründen eingeführte 70 %-Grenze ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.
Unter den Umständen, von denen der Senat auszugehen hat, ist der Kläger, wie das Landgericht im Kern treffend bemerkt hat, in seiner "wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit" nicht unzumutbar beschränkt worden. Er konnte und durfte das ihm unterbreitete Kaufangebot unbeachtet lassen, sofern sein Fahrzeug am 17. Januar 2003 bereits veräußert war. Stand es zu diesem Zeitpunkt noch in seiner Verfügungsmacht, konnte er wählen, ob er es behält und reparieren lässt oder ob er es veräußert, etwa durch Inzahlunggabe bei der Anschaffung eines Ersatzwagens. Am 17. Januar 2003 hatte er ausweislich der vorgelegten Rechnung den Kaufvertrag über den Neuwagen noch nicht abgeschlossen. Als Kaufdatum wird nämlich der 28. Januar 2003 genannt. Der Kläger will den Unfallwagen auch gar nicht in Zahlung gegeben, sondern den Neuwagenpreis voll bezahlt haben.
Bei der vom Kläger ins Auge gefassten Schadensbehebung im Wege einer Ersatzanschaffung spielte allerdings auch die Höhe der zu erwartenden Entschädigung eine wesentliche Rolle. Doch auch unter diesem Aspekt wurde die Stellung des Klägers in seiner Eigenschaft als Herr des Restitutionsgeschehens nicht unzulässig beeinträchtigt. Wie noch auszuführen ist, war ihm zuzumuten, sein Fahrzeug für 13.110 EUR an die Fa. L. zu verkaufen. Zusammen mit der Entschädigungsleistung des Versicherers von 13.890 EUR hätte dem Kläger dann ein Betrag von 27. 000 EUR zur Deckung des Schadens zur Verfügung gestanden. Demgegenüber hat der Kläger auf Gutachtenbasis mit einer Entschädigungsleistung von 18. 579.10 EUR kalkuliert, wobei ihm der Wert des Unfallfahrzeugs, den er in erster Instanz mit maximal 8.000 EUR angegeben hat, verblieben wäre. Angesichts dieser Zahlen kann der Senats nicht erkennen, dass schutzwürdige Interessen des Klägers bei einer Abrechnung nach den Ersatzbeschaffungskosten verletzt werden.
Gründe der Praktikabilität zwingen nicht zu einer anderen Betrachtungsweise. Auch der Senat hält es für wünschenswert, den Restwert bei der Frage der Zulässigkeit der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten so weit wie möglich auszuklammern (vgl. DAR 2001, 125 = ZfS 2001, 111). Die empfohlene 70 %-Grenze mag unter dem Gesichtspunkt der raschen Ermittlung und Regulierung von Fahrzeugschäden sachgerecht sein. Sie hat aber keine normative Kraft dergestalt, dass geschätzte Reparaturkosten unterhalb dieses Grenzwertes in jedem Fall erstattungsfähig sind. Vielmehr ist danach zu unterscheiden, ob der Geschädigte sein Fahrzeug behalten hat oder ob er den darin verkörperten Restwert aus freien Stücken aktiviert hat. Letzterenfalls bedarf er nicht des Schutzes, der ihm durch die 70 %-Grenze zukommen soll (vgl. auch Ch. Huber, MDR 2003, 1334, 1340; Geigel/Rixecker, 24. Aufl., 1. Teil, 3. Kap. Rn 36). ..."