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OLG Schleswig Urteil vom 20.11.1973 - 9 U 50/73 - Zum Verschulden eines eine Kolonne überholenden Kfz-Führers
OLG Schleswig v. 20.11.1973: Zum Verschulden eines eine Kolonne überholenden Kfz-Führers
Das OLG Schleswig (Urteil vom 20.11.1973 - 9 U 50/73) hat entschieden:
- Ein angezeigtes Abbiegen ist zu unterlassen, wenn hierdurch ein nachfolgender Kraftfahrer gefährdet werden könnte.
- Ein Pkw-Fahrer, der mit hoher Geschwindigkeit eine Fahrzeugkolonne überholt und dabei auf einen nach links abgebogenen LKW auffährt, der sich rechtzeitig zur Mitte eingeordnet und das linke Blinklicht eingeschaltet hat, handelt grob fahrlässig.
Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger
Zum Sachverhalt:
Der Kl. verlangte von den Bekl. Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 14.5.1971 gegen 13.30 Uhr auf einer Bundesstraße ereignet hatte.
Der PKW des Kl. wurde von seinem Sohn gelenkt. Der Bekl. zu (2) fuhr einem LKW, der bei der Bekl. zu (1) haftpflichtversichert war. Beide Fahrzeuge stießen zusammen, als der Sohn des Kl. den LKW überholen wollte.
Der Bekl. zu (2) befuhr die Bundesstraße mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 km/st. Er wollte nach links in eine Kiesgrube einbiegen. Vor ihm fuhr der Zeuge B. ebenfalls mit einem LKW. Dieser war im Unfallzeitpunkt bereits in die Kiesgrube abgebogen. Hinter dem Bekl. zu (2) fuhr in einem Abstand von 20 bis 30 m die Zeugin C. mit einem kleinen PKW und hinter dieser in einem Abstand von 80 bis 100 m ein kleiner LKW. Der Bekl. zu (2) zeigte seine Fahrtrichtungsänderung an, ordnete sich zur Mitte ein und verlangsamte seine Geschwindigkeit. Als er sich der Einfahrt zur Kiesgrube genähert hatte, wollte der Sohn des Kl. mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/st die Kolonne überholen. Er bemerkte erst im letzten Augenblick - etwa auf Höhe des PKW der Frau C. -, dass der von dem Bekl. zu (2) gelenkte LKW nach links abbiegen wollte, und führte eine Vollbremsung durch. Er konnte einen Zusammenstoß beider Fahrzeuge nicht verhindern. Der PKW des Kl. überschlug sich und blieb hinter der Einfahrt mit Totalschaden auf dem Dach liegen. Die 7,5 m breite Bundesstraße verläuft an der Unfallstelle in einer langgestreckten Rechtskurve. Zur Unfallzeit herrschte sonniges Wetter.
Der Kl. verlangte von den Bekl. seinen vollen Schaden in Höhe von 2456,33 DM ersetzt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OLG der Klage in Höhe von 533,20 DM stattgegeben.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Der Bekl. zu (2) hat sich auch verkehrswidrig verhalten. Er durfte bei der gegebenen Verkehrslage nicht mehr abbiegen. Es ist allerdings nicht richtig, dass er dem überholenden Sohn des Kl. - wie die Berufung meint - schon deshalb die Durchfahrt gewähren musste, weil dieser sich, um zu überholen, bereits auf der linken Fahrbahn befunden habe. Damit erwirbt der Überholende kein Vortrittsrecht dem Eingeholten gegenüber. Es ist ihm vielmehr gemäß § 5 StVO verboten zu überholen, wenn sich irgendwelche Zweifel über die Absichten des Eingeholten ergeben (unklare Verkehrslage) oder wenn dieser gar links blinkt und zur Mitte eingeordnet fährt.
Die Verhaltensvorschriften des § 9 der neuen StVO, die in bezug auf den Linksabbieger in ein Grundstück in nichts von den alten Regeln (§ 17 StVO alt) abweichen, sind keine Vorfahrtregeln für in gleicher Richtung fahrende Fahrzeuge, sondern lediglich eine Konkretisierung und eine besonders eindringliche Wiederholung der sich aus § 1 StVO ohnehin ergebenden Pflicht (im einzelnen dazu Senatsurteil vom 14.8.1973 (1 U 13/73); BayObLG, Verk.Mitt. 72, 44 u. 73, 51) zu vorsichtigem Verhalten. Diese Schutzpflicht besteht gegenüber allen durch das Abbiegen möglicherweise gefährdeten Verkehrsteilnehmern, mögen sie nun schuldlos oder infolge eigenen verkehrswidrigen Verhaltens in die Gefahrenlage gekommen sein. Diese Schutzpflicht (§ 9 Abs. 5 StVO) hat der Bekl. zu (2) verletzt. Es genügt nicht, dass der Bekl. zu (2), wie es § 9 Abs. 1 StVO verlangt, vor dem Abbiegen eine zweite Rückschau vornimmt; er muss auch handeln, wenn er dabei erkennt, dass er beim Abbiegen einen Nachfolgenden gefährden würde. Der Bekl. zu (2) hat selbst eingeräumt, das er bei dieser zweiten Rückschau den Wagen des Kl. gesehen hat, und zwar in unmittelbarer Nähe. Das hat er in seinem polizeilichen Anhörbogen selbst zum Ausdruck gebracht. Er meint dort, der Wagen sei schon neben dem seinen gewesen. Das mag übertrieben sein und ungenau formuliert sein. Wäre es wörtlich zu nehmen, hätte der Bekl. die 2. Rückschau zu spät, nämlich erst während des Abbiegens vorgenommen. Aus der Aussage der Zeugin C. ergibt sich indes, dass sich der PKW neben ihrem Wagen befand, als der LKW die Mittellinie überfuhr. Er muss sich vor dem Beginn des Lenkeinschlages demnach etwas weiter zurück befunden haben, keineswegs aber so weit, dass er noch hätte anhalten können. Unter diesen Umständen gebot § 9 Abs. 5 StVO dem Bekl., seinerseits auf das Abbiegen und das Befahren der linken Fahrbahn zu verzichten.
Aber auch der Sohn des Kl. hat sich in grober Weise unaufmerksam verhalten. Er hat einen LKW zu überholen versucht, obwohl dessen Zeichengabe und dessen Verhalten eindeutig anzeigten, dass er abzubiegen beabsichtigte. Die Blinkleuchten waren weder verschmutzt noch schien die Sonne darauf. Sie waren auch nicht durch den Wagen der Frau C. verdeckt; denn diese fuhr bereits rechts gestaffelt. Wenn sich auch nicht nachweisen lässt, dass der Sohn des Kl. sich bewusst über das Gebot des § 5 Abs. 7 StVO hinwegsetzen wollte, ein solches Fahrzeug, das die Absicht nach links abzubiegen angezeigt hatte, nicht links, sondern rechts zu überholen, so hat er sich doch in so hohem Maß nachlässig verhalten, dass die Wertung grober Fahrlässigkeit gerechtfertigt ist. Das richtige und ohne weiteres einleuchtende Verhalten war ihm gewissermaßen durch Frau C. vorgezeigt.
Der Senat kommt bei der Abwägung des Verhaltens beider Fahrer zu dem Ergebnis, dass dasjenige des Sohnes des Kl. viermal so schwer wiegt wie das des Bekl. zu (2). Die Betriebsgefahren beider Fahrzeuge wiegen etwa gleich schwer. Beide haben zu der gefährlichen Annäherung in gleicher Weise beigetragen. Entscheidend für die Haftungsquote ist nur der Grad des beiderseitigen Verschuldens und der Umstand, wer hier in erster Linie sicherungspflichtig war. Beides geht zu Lasten des Sohnes des Kl. Er hat durch seinen verbotenen Überholversuch die Gefahrenlage primär heraufbeschworen. Sein Verschulden war - wie ausgeführt - erheblich. Er hat die Gefährlichkeit seines Verhaltens zudem noch dadurch vergrößert, dass er mit einem so großen Geschwindigkeitsüberschuss mehrere Fahrzeuge in einem Zug zu überholen versucht hat, dass es ihm nicht möglich war, wieder zwischen den Fahrzeugen einzuscheren, wenn sich ergab, dass eins der eingeholten Fahrzeuge beabsichtigte oder genötigt war, seinerseits die linke Fahrbahn zu benutzen.
Das Gebot, nur mit wesentlich höherer Geschwindigkeit zu überholen, als sie der Eingeholte einhält (§ 5 StVO), steht unter dem höherrangigen des § 3 StVO, dass ein Fahrzeugführer nur so schnell fahren darf, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Auch dieser Schuldvorwurf geht zu Lasten des Sohnes des Kl. und damit des Kl. selbst. Da das Verhalten des Bekl. zu (2) ebenfalls gegen Verkehrsvorschriften verstößt und Folgen hatte, kann es nicht als bedeutungslos behandelt werden. Der Bekl. zu (2) hätte bei größerer Anspannung seiner Kräfte, wie § 9 Abs. 5 StVO sie in diesem Fall von ihm verlangt, durchaus die Möglichkeit gehabt, den Unfall zu vermeiden. Sein Versehen ist aber trotz der Folgen, die es hatte, von geringerem Schuldgehalt, weil es sein Versagen in einer von einem anderen schuldhaft herbeigeführten Gefahrenlage war. Das rechtfertigt es, die Haftungsquote auf 1/4 zu begrenzen."