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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 03.09.2001 -1 U 73/00 - Zur Haftung beim Überholen einer Kolonne
OLG Frankfurt am Main v. 03.09.2001: Zur Haftung beim Überholen einer Kolonne
Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.09.2001 -1 U 73/00) hat entschieden:
Überholt ein Fahrzeugführer eine vor ihm fahrende Fahrzeugkolonne, obwohl er eine etwaige Linksabbiegeabsicht eines vorausfahrenden Fahrzeugs nicht verlässlich beurteilen kann, trotz dieser unklaren Verkehrslage entgegen StVO § 5 Abs 3 Nr 1, so ist seine Haftungsquote bei einer Kollision mit dem abbiegenden Fahrzeug mit 50% zu bewerten.
Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Beklagten für den Unfallschaden dem Grunde nach zu 50 % haften (§§ 7, 17, 18 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 3 PflVG). Sowohl der Beklagte zu 1) als auch der Kläger haben den Unfall schuldhaft verursacht.
Das schuldhafte Fahrverhalten des Beklagten zu 1) besteht darin, dass er entgegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO die vor ihm fahrende Fahrzeugkolonne aus mindestens drei Fahrzeugen trotz unklarer Verkehrslage überholen wollte. Eine unklare Verkehrslage bestand deshalb, weil der Beklagte zu 1) nicht verlässlich beurteilen konnte, was das vorausfahrende Fahrzeug des Klägers jetzt sogleich tun werde. Zwar kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1) bereits vor Beginn des Überholvorganges hätte erkennen können, dass der Kläger nach links abbiegen wollte. Gleichwohl musste der Beklagte zu 1) ein derartiges Fahrverhalten des Klägers jedenfalls deshalb in Betracht ziehen, weil das Fahrzeug des Klägers auf gerader und hindernisfreier Strecke vor einer Abbiegemöglichkeit nach links seine Geschwindigkeit reduzierte. Wer eine Kolonne überholen will, muss sicher sein, dass kein vorausfahrendes Fahrzeug links abbiegen will. Demgemäss trifft eine erhöhte Sorgfaltspflicht denjenigen, der mehrere Fahrzeuge hintereinander überholt (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., StVO § 5 Rn. 40, 34). Hier hatte der Beklagte zu 1) nach seiner eigenen Einlassung im Termin am 13.08.2001 nicht von Anfang an auch auf das Fahrzeug des Klägers geachtet. Danach hat er schuldhaft trotz unklarer Verkehrslage verbotswidrig überholt.
Dem Beklagten zu 1) kann nicht auch eine Mitverursachung des Unfalles durch überhöhte Geschwindigkeit zur Last gelegt werden. Seine Geschwindigkeit vor Einleitung der Vollbremsung betrug 100 km/h. Diese Tatsache ist zwischen den Parteien unstreitig, da der Kläger eine Geschwindigkeit des Beklagten zu 1) von 100 km/h bis 130 km/h behauptet und die Beklagten lediglich eine höhere Geschwindigkeit als 100 km/h bestreiten. Mit Rücksicht darauf, dass der Beklagte zu 1) eine übersichtliche Landstraße ohne Geschwindigkeitsbegrenzung befuhr, kann diese Geschwindigkeit nicht als ein Fehlverhalten angesehen werden, das zusätzlich neben der Verletzung der Pflichten beim Überholen nach § 5 StVO besteht.
Auch der Kläger hat den Unfall schuldhaft mitverursacht. Allerdings kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger entgegen § 9 Abs. 1 StVO seine Abbiegeabsicht nicht rechtzeitig und deutlich ankündigte. Nach den glaubhaften Angaben der Zeugen S und D ist davon auszugehen, dass der Kläger den Blinker nach links gesetzt hatte. Aufgrund der persönlichen Angaben des Klägers im Termin am 13.08.2001 ist auch davon auszugehen, dass der Fahrtrichtungsanzeiger erhebliche Zeit vor dem Beginn des Abbiegens gesetzt wurde. Ein Verstoß gegen die Verpflichtung, sich auf der Fahrbahn bis zur Mitte möglichst links einzuordnen (§ 9 Abs. 1 S. 2 StVO), kann ebenfalls nicht festgestellt werden. Die schuldhafte Mitverursachung des Unfalles durch den Kläger ergibt sich indes daraus, dass er entgegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO nicht nochmals vor dem Abbiegen durch Rückschau auf den nachfolgenden Verkehr achtete. Es mag sein, dass der Kläger vor dem Abbiegen durch Blick in den Außenspiegel und Rückschau nochmals den nachfolgenden Verkehr beobachten wollte. Jedenfalls hat er es hierbei an der erforderlichen Sorgfalt fehlen lassen. Das ergibt sich daraus, dass er bei der nochmaligen Rückschau das Fahrzeug des Beklagten zu 1) nicht wahrnahm, das sich bereits auf der Gegenfahrbahn befand, um das dem Kläger als zweites Fahrzeug folgende Fahrzeug des Zeugen W zu überholen. Die Tatsache, dass der Kläger vor dem Abbiegen aufgrund von Unaufmerksamkeit nicht erkannte, dass der Beklagte zu 1) begonnen hatte, die vor ihm fahrende Fahrzeugkolonne zu überholen, ergibt sich daraus, dass sich der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug bereits mehrere Sekunden lang auf der Gegenfahrspur befand, als der Kläger begann, nach links abzubiegen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Beklagte zu 1) und das vorausfahrende Fahrzeug W eine Geschwindigkeit von 80 km/h inne hatten und der Beklagte zu 1) dem Fahrzeug W mit einem Abstand von 20 m bis 25 m folgte. Für eine Ausgangsgeschwindigkeit vor Beginn des Überholvorganges von 80 km/h spricht die Gesamtschau der Angaben über die gefahrene Geschwindigkeit, die der Zeuge W mit 80 km/h bis 90 km/h und der Beklagte zu 1) mit 70 km/h angaben. Die Annahme eines Abstandes zwischen dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) und dem des Zeugen W von 20 m bis 25 m vor Beginn des Überholvorganges erscheint deshalb gerechtfertigt, weil er dem vom Zeugen W berichteten Abstand zwischen den Fahrzeugen D und W entspricht und mit Rücksicht auf die Geschwindigkeit von 80 km/h zugunsten des Klägers eher gering bemessen ist. Da ferner davon auszugehen ist, dass der Beklagte zu 1) das mit 80 km/h fahrende Fahrzeug W mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h überholte, benötigte er zur Überwindung des Abstandes zu dem vorausfahrenden Fahrzeug mindestens 4 Sekunden. Selbst wenn die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen dem Fahrzeug W und dem überholenden Fahrzeug des Beklagten zu 1) 30 km/h betragen haben sollte, hätte der Beklagte zu 1) mehr als 3 Sekunden benötigt, um das vorausfahrende Fahrzeug einzuholen. Da der Beklagte zu 1) bei Beginn des Abbiegevorganges des Klägers das Fahrzeug W bereits überholt hatte, ist davon auszugehen, dass der Kläger dessen Fahrzeug bereits mindestens 3 Sekunden vor dem Beginn des Abbiegevorganges auf der Gegenfahrspur hätte wahrnehmen können.
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob der Kläger beim Beginn des Abbiegevorganges hätte erkennen können, dass der Beklagte zu 1) den Überholvorgang begonnen hatte, kommt nicht in Betracht. Die Auswertung der polizeilichen Unfallskizze mit Eintragung der Blockierspur, der Lichtbilder über den Endstand der Fahrzeuge und der Fahrzeugschäden erlaubt keinen Rückschluss darauf, von welchem Zeitpunkt an sich der Beklagte zu 1) auf der Gegenfahrbahn befunden haben muss und demgemäss für den Kläger wahrnehmbar war. Für die Beurteilung der Frage, wie lange sich das Fahrzeug des Beklagten zu 1) vor dem Beginn des Abbiegens des Klägers auf der Gegenfahrbahn befand, ist der ursprüngliche Abstand zwischen den Fahrzeugen des Zeugen W und des Beklagten sowie die Geschwindigkeitsdifferenz beim Überholen unter Berücksichtigung der Beschleunigung maßgeblich. Diese Frage lässt sich durch Auswertung der Fahrzeugschäden, der Endstellung der Fahrzeuge nach dem Anstoß und Auswertung der Unfallskizze nicht beantworten.
Danach haben beide Parteien den Unfall schuldhaft mitverursacht. Der Anteil des Klägers hat kein geringes Gewicht, weil er dann, wenn er den Überholvorgang des Beklagten zu 1) erkannt hätte, den Unfall durch Anhalten seines Fahrzeuges leicht hätte vermeiden können. Das ergibt sich daraus, dass er sein Fahrzeug vor dem Abbiegen nahezu oder sogar vollständig angehalten hatte. Auch das Verschulden des Beklagten zu 1) hat erhebliches Gewicht, da ihn beim Überholen der Kolonne eine erhöhte Sorgfaltspflicht traf. Danach erscheint es gerechtfertigt, den Anteil der schuldhaften Mitverursachung des Unfalles bei beiden Unfallbeteiligten mit jeweils 50 % zu bewerten. ..."