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OLG Rostock Urteil vom 02.09.1999 - 1 U 311/9 - Schadensteilung bei ungeklärter Ampelschaltung; Haftung des Geradeausfahrers zu 3/4 bei frühem Rot
OLG Rostock v. 02.09.1999: Schadensteilung bei ungeklärter Ampelschaltung; Haftung des Geradeausfahrers zu 3/4 bei frühem Rot
Das OLG Rostock (Urteil vom 02.09.1999 - 1 U 311/97) hat entschieden:
- Lässt sich nicht feststellen, ob bei einem Zusammenstoß eines links abbiegenden mit einem geradeausfahrenden Pkw auf einer mit Linksabbiegepfeil versehenen ampelgeregelten Kreuzung der Linksabbieger erst nach Aufleuchten des Abbiegepfeils in die Kreuzung eingefahren ist, dann ist der Schaden grundsätzlich hälftig zu teilen.
- Ist in diesem Fall die Betriebsgefahr des geradeausfahrenden Pkw erhöht, weil dessen Fahrer einen einfachen Rotlichtverstoß begeht (hier: rotes Ampellicht seit 0,59 Sekunden), dann haftet der Geradeausfahrende in Höhe von 3/4.
- Eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 km/h führt jedenfalls dann nicht zu einer höheren Haftung des Geradeausfahrers als 3/4, wenn der Linksabbieger, der in der ersten Rotlichtsekunde mit Nachzüglern rechnen und diesen den Vorrang einräumen muss, bei sorgfältiger Beobachtung der Fahrbahn erkennen konnte, dass sich der Geradeausfahrer mit höherer Geschwindigkeit näherte.
Siehe auch Kollision mit Abbiegepfeil und Linksabbiegen
Aus den Entscheidungsgründen:
"A.
Die Berufung des Klägers ist zulässig und teilweise begründet.
Dem Kläger steht gegen die Beklagten aus § 3 Abs. 1 PflVG und §§ 7 , 17 Abs. 1 StVG ein Anspruch auf Ersatz von 3/4 seines Unfallschadens, mithin auf Zahlung von insgesamt DM 12.089,47 zu.
1. Eine Alleinhaftung der Beklagten setzte den Beweis dafür voraus, dass der Kläger seinen Abbiegevorgang bei aufleuchtendem grünen Linksabbiegerpfeil begonnen hat (vgl. KG, NZV 1994, S. 31; DAR 1994, S. 153, 154; NZV 1991, S. 271).
Der Kläger hat diese von ihm behauptete Tatsache nicht bewiesen. Sie wurde von dem im Parallelverfahren des Amtsgerichts Rostock - Az.: 48 C 586/96 - vernommenen Zeugen P. nicht bestätigt.
Die urkundlich zu verwertende Aussage dieses Zeugen ergibt nur, dass der Linksabbiegerpfeil "zum Zeitpunkt des Unfalls" grün aufleuchtete. Der Zusammenstoß ereignete sich jedoch erst, nachdem der Kläger mit dem Abbiegen begonnen hatte. Ob der Grünpfeil schon bei Einleitung des Abbiegevorgangs leuchtete - nur dies rechtfertigt das Vertrauen des Linksabbiegers -, steht aufgrund der Aussage des Zeugen P. nicht fest.
Von einer erneuten Vernehmung dieses Zeugen musste der Senat absehen. Den Aussagen und schriftlichen Erklärungen des Zeugen P. vor dem ersuchten Richter im Erstprozess wie auch gegenüber der Polizei lässt sich zweifelsfrei entnehmen, dass dieser den Grünpfeil nicht vor dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes wahrgenommen hat. Vor dem Amtsgericht München hat der Zeuge insbesondere bekundet, nicht gesehen zu haben, wann der Grünpfeil aufleuchtete. Von seiner wiederholten Befragung ist nicht zu erwarten, dass er nunmehr abweichende, dem Kläger günstigere Angaben machen wird. Für eine berechtigte Erwartung sind triftige Anhaltspunkte weder ersichtlich noch vom Kläger vorgebracht. Soweit dieser behauptet, es sei "naheliegend und nachvollziehbar", dass der Zeuge nicht erst beim Unfall, sondern bereits vorher auf den grünen Pfeil geachtet habe, weil er selbst hinter dem Kläger nach links habe abbiegen wollen, liefe dessen Vernehmung auf eine unzulässige Ausforschung hinaus. Der Kläger behauptet nicht, dass der Zeuge schon vor dem Zusammenstoß das Aufleuchten des Grünpfeils beobachtet hat. Er bringt lediglich seine Erwartung zum Ausdruck, dass der Zeuge dies möglicherweise bekunden werde. Hierbei handelt es sich nicht um eine zulässig behauptete Vermutung, sondern eine nach den gegebenen Umständen unberechtigte Hoffnung: der Zeuge hatte keinen Anlass, vor dem Unfall den Grünpfeil zu beachten. Im Unfallzeitpunkt befand er sich erst auf Höhe der Ampel. Zwischen ihm und dem Fahrzeug des Klägers befand sich mindestens ein weiteres Fahrzeug. Sein eigener Abbiegevorgang stand somit nicht unmittelbar bevor. Seine Beobachtung galt daher dem Diagonallicht. Nur insoweit konnte er zuverlässige Angaben bezogen auf den Zeitpunkt vor dem Zusammenstoß machen. dass ihm dies hinsichtlich des Grünpfeils nicht möglich gewesen ist, wird im Gesamtzusammenhang seiner Aussagen hinreichend deutlich.
Für seine Behauptung, erst nach dem Aufleuchten des Grünpfeil abgebogen zu sein, ist der Kläger somit beweisfällig geblieben.
2. Allerdings steht auch nicht die gegenteilige Behauptung mit der Folge fest, dass der Kläger grundsätzlich seinen Schaden wegen Verstoßes gegen § 9 Abs. 3 StVO allein zu tragen hätte, mithin sich seine Berufung als von vornherein unbegründet erweist.
Durch die Aussagen der Zeugin M. ist nicht bewiesen, dass der Zweitbeklagte die Haltelinie bei "Grünlicht" überfahren hat, der Kläger also vor Aufleuchten des Grünpfeils abgebogen ist. Die Zeugin M. hat bei ihrer Vernehmung vor dem Landgericht - entgegen früherer Angaben - eingeräumt, dass sie aus dem für sie als Rechtsabbiegerin grünen Ampellicht schlussfolgere, auch für den Zweitbeklagten habe die Ampel grün gezeigt . dass dies tatsächlich der Fall war, konnte sie aufgrund einer eigenen Wahrnehmung jedoch nicht bestätigen. Die Aussage dieser Zeugin ist daher unergiebig.
3. Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass durch die Beweisaufnahme ungeklärt geblieben ist, ob der Kläger bei grünem Räumungspfeil abgebogen ist. In einem solchen Fall ist grundsätzlich zwischen den Unfallbeteiligten der Schaden hälftig zu teilen. Dies entspricht einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (NZV 1992, S. 108; NZV 1996, S. 231; NZV 1997, S. 350) und verschiedener Oberlandesgerichte ( OLG Hamm, NZV 1990, S. 189 ; OLG Düsseldorf, NZV 1995, S. 311 , 312; OLG Schleswig, VersR 1984, S. 1098 ; OLG München, DAR 1985, S. 382 ; abweichend hiervon das KG, VM 1986, S. 61; VM 1987, S. 37; VM 1990, S. 51; NZV 1991, S. 271; VM 1993, S. 67; NZV 1994, S. 31; DAR 1994, S. 153: 2/3-Haftung zu Lasten des Linksabbiegers), wie auch der des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil vom 25.07.1996 - Az.: 1 U 230/95 ).
4. Hiervon abweichend haben die Beklagten dem Kläger 3/4 seines Schadens zu ersetzen.
a. Zu einer hälftigen Schadensteilung führt der ungeklärte Zustand des Grünpfeils nur dann, wenn die Betriebsgefahren der unfallbeteiligten Fahrzeuge gleich sind ( BGH, NZV 1996, S. 231 ; NZV 1997, S. 350). Die Erhöhung der Betriebsgefahr kann bei einem Unfall an einer Ampelanlage mit einem Linksabbiegerpfeil nicht mit den besonderen Sorgfaltspflichten des Linksabbiegers (vgl. BGH, NZV 1997, S. 350 ; a.A.: KG, DAR 1994, S. 153, 154) oder einer - regelmäßig - höheren (aber noch zulässigen) Geschwindigkeit des Geradeausfahrers (vgl. OLG Düsseldorf, NZV 1995, S. 311 , 312) begründet werden.
b. Vorliegend war die Betriebsgefahr des vom Zweitbeklagten geführten Fahrzeug erhöht, weil es die Haltelinie bei rotem Signallicht passierte. Der für die Unfallentstehung mitursächliche Rotlichtverstoß des Beklagten zu 2) ergibt sich aus dem unwidersprochenen Vortrag des Klägers. Danach leuchtet an der Unfallkreuzung der grüne Pfeil erst dann auf, wenn der Gegenverkehr mindestens 2 Sekunden angehalten ist. Unbestritten ist auch die weitere Behauptung, derzufolge die Entfernung von der Haltelinie bis zum Kollisionsort 19,5 Meter betragen hat. Hiervon ausgehend überfuhr der Zweitbeklagte - wie vom Kläger in der Berufungsbegründung zutreffend berechnet - bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h die Haltelinie zu einem Zeitpunkt, als das Ampellicht für ihn bereits seit 0,59 Sekunden "Rot" zeigte. Die genannte Fahrtgeschwindigkeit hat der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Der Kläger hat mit der Darlegung seiner Berechnung diese konkret bezifferte Geschwindigkeit des gegnerischen Fahrzeugs behauptet. Die Beklagten sind dieser Behauptung nicht dadurch wirksam entgegengetreten, dass sie eine Geschwindigkeit von "mindestens 70 km/h" bestritten haben.
c. Der schuldhafte Rotlichtverstoß des Beklagten zu 2) erhöhte die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges erheblich. Diesem Umstand wird mit einer Haftungsquote von 3/4 zu Lasten der Beklagten angemessen Rechnung getragen. Mit dieser Schadensverteilung sieht sich der Senat nicht in Abweichung zu der Entscheidung des OLG Hamm (VersR 1990, S. 99, 100), das den beklagten Geradeausfahrer trotz einfachen Rotlichtverstoßes (dort: 0,5 Sekunden) nur zu 50 % hat haften lassen. In dem dort zu beurteilenden Fall war die Ampelanlage nicht mit einem Grünpfeil ausgestattet. Das Vorhandensein des Grünpfeils entlastet hier den Kläger. Dieser muss sich nicht den für einen schuldhaften Verstoß gegen § 9 Abs. 3 StVO sprechenden Anscheinsbeweis entgegenhalten lassen. Die Voraussetzungen für die Anwendung des Anscheinsbeweises liegen beim Zusammenstoß eines Linksabbiegers mit einem entgegenkommenden KfZ in einer ampelgeregelten und mit einem Grünpfeil versehenen Kreuzung nicht vor ( BGH, NZV 1996, S. 231 ; anders, wenn Grünpfeil fehlt: OLG Hamm, VersR 1980, S. 722 ; VersR 1990, S. 99, 100). Ein vermutetes Verschulden kann daher nicht zu Lasten des Klägers in Ansatz gebracht werden.
5. Eine über 3/4 hinausgehende Haftung der Beklagten wegen einer erheblichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h durch den Beklagten zu 2) kommt aus mehreren Gründen nicht in Betracht:
a. Der Vortrag des Klägers, der Beklagte zu 2) sei mindestens 70 km/h gefahren, umfasst nicht die Behauptung, dass dieser Verkehrsverstoß für den Unfall ursächlich gewesen ist. Den Aussagen der Zeugen P. und M. - letztere hat den Unfall nicht gesehen - ist nicht zu entnehmen, dass der Beklagte zu 2) den Unfall bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h hätte vermeiden können. Dies hätte jedoch der Kläger darzulegen und zu beweisen (vgl. BGH, VersR 1982, S. 442 , 443).
b. Selbst bei bewiesener Unfallursächlichkeit führte eine für den Beklagten zu 2) festgestellte Geschwindigkeit von 70 km/h zu keiner höheren Haftung der Beklagten als zu 3/4. Als bevorrechtigter Verkehr gegenüber dem Linksabbieger ist auch noch der in der ersten Rotsekunde in die Ampelkreuzung einfahrende Gegenverkehr anzusehen; der Linksabbieger muss mit Nachzüglern rechnen und diesen den Vorrang einräumen ( OLG Hamm, VersR 1990, S. 99 , 100). Bei einer Geschwindigkeit von 70 km/h hätte der Beklagte zu 2) die Ampelanlage gerade noch innerhalb der ersten Rotsekunde passiert. Eine (mindestens) 40 %ige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (70 km/h statt 50 km/h) würde den Kläger zudem nur dann weiter entlasten, wenn er bei sorgfältiger Beachtung der Fahrbahn nicht erkannt hat oder erkennen musste, dass der Beklagte zu 2) sich mit einer höheren Geschwindigkeit näherte (vgl. BGH, DAR 1984, S. 220 , 221: für den Fall einer 60 %igen Überschreitung). Hiervon kann nicht ausgegangen werden. Der Kläger hat keine Erklärung dafür gegeben, weshalb er im Gegensatz zum Zeugen Pechstein die "sehr hohe" Geschwindigkeit des Beklagten zu 2) nicht erkennen konnte. Seine Schilderung, er habe unmittelbar vor dem Unfall nochmals in Richtung Gegenverkehr gesehen, um sich zu überzeugen, dass die Kreuzung frei ist, legt es nahe, dass der Kläger den Beklagten zu 2) übersehen hat.
c. Hiervon abgesehen steht nicht fest, dass der Beklagte zu 2) mindestens 70 km/h gefahren ist. Die Aussage des Zeugen Pechstein, derzufolge der Beklagte zu 2) die Kurve vor der Kreuzung habe wohl schneiden müssen, legt die Vermutung nahe, lässt aber nicht den sicheren Schluss zu, dass dieser erheblich schneller als 50 km/h gefahren ist. Dies gilt auch für die vom Zeugen Pechstein gegenüber der Polizei abgegebene Erklärung, in der er eine "hohe Seitenneigung in der Kurve" erwähnte. Ob sich die Geschwindigkeit des Beklagten zu 2), soweit für die Haftungsquote von Bedeutung, durch ein Sachverständigengutachten noch mit einer zur Überzeugungsbildung erforderlichen Gewissheit ermitteln ließe, kann aus den unter a. und b. genannten Gründen dahinstehen. Das angebotene Beweismittel erscheint dem Senat allerdings ungeeignet, um für den Beklagten zu 2) eine 70 km/h überschreitende - erst jenseits dieser Grenze haftungserhöhende - Fahrtgeschwindigkeit verlässlich feststellen zu können. Ein Sachverständiger benötigte ausreichende Ausgangsdaten, um sicher die Feststellung treffen zu können, dass der Beklagte zu 2) die zulässige Geschwindigkeit nicht nur geringfügig (vgl. KG, VM 1990, S. 51) überschritten hat. Tatsächlich stehen abgesehen von den Angaben des Zeugen Pechstein nur noch einige Lichtbilder zur Verfügung. Aus diesen sind zwar die Endstellungen und Beschädigungen der - im unveränderten Zustand offenbar nicht mehr vorhandenen - Fahrzeuge ersichtlich. Der Kollisionsort, etwaige Bremsmanöver beider Fahrer und die Geschwindigkeit des vom Kläger gesteuerten Fahrzeugs sind jedoch unbekannt. Aufgrund der Aussage des Zeugen Pechstein steht nicht einmal fest, ob der Kläger sein Fahrzeug weiter beschleunigt oder abgebremst hat. ..."