Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Potsdam Beschluss vom 01.07.2004 - 10 K 3925/02 - Zum Zusammentreffen von Alkoholstraftat mit weniger als 1,6 ‰ mit hohem Aggressionspotential
VG Potsdam v. 01.07.2004: Zum Zusammentreffen von Alkoholstraftat mit weniger als 1,6 ‰ mit hohem Aggressionspotential
Das Verwaltungsgericht Potsdam (Beschluss vom 01.07.2004 - 10 K 3925/02) hat entschieden:
- Verkehrsordnungswidrigkeiten bieten in keiner Alternative einen Anlass zu klärungsbedürftigen Eignungszweifeln, es sei denn, es handelt sich um Ordnungswidrigkeiten, die im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen stehen und deshalb den §§ 13 oder 14 FeV unterfallen.
- Die Kammer teilt nicht die Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Urt. v. 7. Mai 2001 - 11 B 99.2527 - NZV 2001, 494), der zufolge § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV auch auf eine Straftat anwendbar sein soll, bei der keine besonderen Umstände gegeben sind und die BAK unter 1,6 Promille lag.
- Nach § 13 Nr. 2 Bst. c) FeV muss eine Begutachtung angeordnet werden, sobald sich eine Trunkenheitsfahrt mit 1,6 Promille oder mehr ereignet hat. Treten weitere Umstände hinzu, die nicht von § 13 FeV , sondern von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV erfasst werden, hat sich die verfahrensmäßige Gutachtenanordnung auf solche weitergehenden Eignungszweifel zu erstrecken. Es ändert sich dann also lediglich der Umfang des nach den konkreten Umständen erforderlichen Gutachtenauftrags.
- Bei einer Gemengelage zwischen Straftat, Alkoholkonsum und einem offenbar gewordenen hohen Aggressionspotential ist die Vorschrift des § 11 Abs. 3 FeV anwendbar, obwohl § 13 FeV an sich eine abschließende spezielle Regelung für Eignungszweifel bei Alkoholproblematik trifft.
Siehe auch Fahrerlaubnisrecht und Aggressionspotential und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein
Zum Sachverhalt:
Der Kläger strebte die Wiedererteilung der ihm entzogenen Fahrerlaubnis der früheren Klassen 1 und 2 an.
Am 8. August 2000 verurteilte das Amtsgericht Brandenburg an der Havel den Kläger wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr, entzog ihm die Fahrerlaubnis und setzte für die Neuerteilung eine Sperrfrist von 3 Monaten fest. Den Urteilsgründen zufolge hatte der Kläger am 17. November 1999 ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr mit überhöhter Geschwindigkeit und unter Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von 1,31 Promille geführt. Von einem Polizeifahrzeug verfolgt war er außerdem unter Missachtung des Gegenverkehrs abgebogen. Nachdem er gestellt worden war, hatte er die Polizeibeamten beschimpft und sich erregt und aggressiv verhalten. Nur gegen seinen Widerstand konnte er in den Streifenwagen verbracht und nach Anlegen von Handfesseln schließlich eine Blutprobe entnommen werden.
Das Landgericht Potsdam verwarf die Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts mit Urteil vom 13. März 2001. Es hielt den Kläger u. a. deshalb weiterhin für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, weil er sich für berechtigt hielt, sich als Verkehrsteilnehmer bei Polizeikontrollen aggressiv und beleidigend verhalten zu dürfen.
Am 29. März 2001 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klassen A und CE. Mit Schreiben vom 9. Oktober 2001 gab die Beklagte ihm auf, bis zum 5. April 2002 ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Untersuchungsstelle beizubringen. Zur Begründung stützte sich die Beklagte auf die Feststellungen im Strafurteil des Amtsgerichts Brandenburg und auf im Verkehrszentralregister eingetragene Verkehrsordnungswidrigkeiten.
Der Kläger entgegnete, der Aufforderung nicht nachkommen zu wollen, weil er und die Beklagte wüssten, dass er den Test nicht bestehen würde.
Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 2. September 2002 ab. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2002 als unbegründet zurück.
Mit seiner am 14. November 2002 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hält die strafgerichtlichen Feststellungen für unzutreffend und ist der Meinung, ihm müsse eine neue Fahrerlaubnis erteilt werden, ohne dass er sich einer Begutachtung wegen der strafgerichtlichen Verurteilung zu stellen brauche. Künftig werde er hinreichend zwischen Alkoholkonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeuges trennen können.
Die Klage blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die angegriffenen Bescheide haben es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, dem Kläger die gewünschte Fahrerlaubnis zu erteilen und verletzen ihn daher nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf erneute Entscheidung über seinen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis vom 29. März 2001 (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis gelten gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 Bst. r) des Straßenverkehrsgesetzes -StVG- i.V.m. § 20 Abs. 1 der Fahrerlaubnisverordnung -FeV- die Vorschriften über die Ersterteilung. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 StVG darf die Fahrerlaubnis nur demjenigen erteilt werden, der zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Dazu muss der Bewerber die notwendigen körperlichen und geistigen Anorderungen erfüllen und darf nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen haben (vgl. § 2 Abs. 4 Nr. 1 StVG i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 3 FeV). Bestehen wegen früherer Vorkommnisse Bedenken an der Kraftfahreignung, ist ihnen durch weitere Sachaufklärung nachzugehen, insbesondere mittels fachärztlicher oder medizinisch-psychologischer Gutachten (vgl. § 11 Abs. 2 und 3 FeV). Weigert sich der Betroffene, trotz berechtigter Bedenken an der Kraftfahreignung an der gebotenen Begutachtung mitzuwirken, darf aus diesem Verhalten geschlossen werden, dass er ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist (§ 11 Abs. 8 FeV).
Diesen Voraussetzungen zufolge gilt der Kläger derzeit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, denn er verweigert eine medizinisch-psychologische Begutachtung, obwohl aus der strafgerichtlichen Verurteilung vom 8. August 2000 klärungsbedürftige Eignungszweifel resultieren.
Allerdings musste der Kläger nicht schon der behördlichen Aufforderung vom 9. Oktober 2001 nachkommen, denn sie wollte zu Unrecht auch Verkehrsordnungswidrigkeiten zum Gegenstand der Untersuchung machen. Hierfür bestand keine Rechtsgrundlage. § 11 Abs. 3 FeV nennt abschließend die Möglichkeiten, nach denen ein Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) eingeholt werden darf, um Eignungszweifel zu klären. Soweit § 11 Abs. 3 FeV die Voraussetzungen nicht ausdrücklich selbst regelt, verweist er im Übrigen auf sämtliche sonst in Betracht kommenden Vorschriften. Verkehrsordnungswidrigkeiten bieten danach in keiner Alternative einen Anlass zu klärungsbedürftigen Eignungszweifeln, es sei denn, es handelt sich um Ordnungswidrigkeiten, die im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen stehen und deshalb den §§ 13 oder 14 FeV unterfallen.
Da der Kläger jedoch über Verkehrsordnungswidrigkeiten hinaus die am 8. August 2000 abgeurteilte Straftat begangen hat, ist jedenfalls den daraus resultierenden Eignungszweifeln nachzugehen. Der Kläger hat jedoch klargestellt, dass er auch nicht bereit ist, einer im gerichtlichen Verfahren nachzuholenden Sachaufklärung im rechtlich gebotenen Umfang Folge zu leisten. Damit hat er - ohne dass es noch eines Beweisbeschlusses bedurfte - die erforderliche Sachaufklärung vereitelt. Die erforderliche medizinisch-psychologische Begutachtung, die sich ausschließlich mit den aus der Straftat resultierenden Eignungszweifeln hätte auseinandersetzen müssen, kann ohne Mitwirkung des Klägers nicht durchgeführt werden. Damit sind auch im gerichtlichen Verfahren im Wege materieller Beweiswürdigung die in § 11 Abs. 8 FeV vorgesehenen Schlüsse zu ziehen, wonach der Kläger als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist.
Die Notwendigkeit einer Begutachtung bezogen auf die begangene Straftat ergibt sich aus § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Bst. b) FeV. Danach darf auch bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Kraftfahreignung angeordnet werden, wenn der Entzug der Fahrerlaubnis auf einem Grund nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV , also auf einer Straftat, beruhte.
Diese Vorschrift ist allerdings wegen des gesetzessystematischen Zusammenhangs für diejenigen Fälle nicht anwendbar, für die § 13 Nr. 2 Bst. c) FeV eine spezielle Regelung vorsieht. Nach der ersten Alternative des § 13 Nr. 2 Bst. c) ergeben sich nämlich erst dann Eignungszweifel, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt wurde. Ein solches Verhalten kann selbst bei geringerer BAK aber gleichzeitig eine Straftat nach § 316 StGB darstellen, ohne dass weitere Umstände erfüllt sein müssten. Würde schon das Vorliegen einer solchen Straftat genügen, um nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV ein Gutachten zu verlangen, bliebe für § 13 Nr. 2 Bst. c) 1. Alt. FeV kein eigenständiger Anwendungsbereich mehr und die Grenzziehung von 1,6 Promille würde umgangen.
Die Kammer teilt nicht die davon abweichende und von dem Beklagten zitierte Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Urt. v. 7. Mai 2001 - 11 B 99.2527 - NZV 2001, 494), der zufolge § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV auch auf eine Straftat anwendbar sein soll, bei der keine besonderen Umstände gegeben sind und die BAK unter 1,6 Promille lag. § 13 FeV will nach Auffassung der Kammer alle Eignungszweifel umfassend regeln, die auf einer Alkoholproblematik beruhen, und trifft deshalb spezielle Aussagen nicht nur für diejenigen Fälle, in denen die Voraussetzungen nach § 13 FeV erfüllt sind, sondern umgekehrt gerade auch dann, wenn die Eingriffsvoraussetzungen noch nicht erreicht wurden. Ein solches systematisches Verständnis ist grundsätzlich jeder Auslegung einer Spezialvorschrift immanent. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Gutachtenaufforderung nach § 11 Abs. 3 FeV anders als nach § 13 FeV im behördlichen Ermessen liegen soll. Dieser Ansicht ist schon entgegenzuhalten, dass die Gutachtenaufforderung keinen Verwaltungsakt, sondern eine unselbständige Verfahrenshandlung darstellt, die selbst im gerichtlichen Verfahren auf (Neu-)Erteilung einer Fahrerlaubnis im Rahmen der auch dort gebotenen Amtsermittlung nachgeholt werden darf und muss. Haben demnach auch die Verwaltungsgerichte von der Befugnis des § 11 Abs. 3 FeV ggf. Gebrauch zu machen, kann § 11 Abs. 3 FeV auf der Rechtsfolgenseite keinen nur eingeschränkt überprüfbaren (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) Entscheidungsspielraum der Fahrerlaubnisbehörden regeln. Darüber hinaus wäre selbst nach der Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht verständlich, weshalb der Verordnungsgeber ein vermeintliches Ermessen nicht in § 13 FeV selbst aufgenommen hat, wenn er es für diejenigen Fälle hätte eröffnen wollen, in denen die Promillegrenze von 1,6 unterschritten wird.
Der Rückgriff von einer speziellen auf eine allgemeinere Vorschrift (hier auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV) ist stets nur dann zulässig, wenn besondere Umstände vorliegen, die von der spezielleren Norm von vornherein nicht oder nicht umfassend berücksichtigt werden. Insofern ist zu beachten, dass § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV Zusammenhänge einer Straftat hinterfragen lassen will, die von § 13 FeV nicht abgedeckt sind. Liegen solche besonderen Bezüge vor, stellt § 13 FeV keine verdrängende Spezialvorschrift mehr dar. Insoweit ist der Einwand des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs unzutreffend, ein solches Verständnis hätte „die mit dem Sinn und Zweck der normativen Regelung nicht vereinbarte Folge, dass zwar bei lediglich einer Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 o / oo oder mehr die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden müsste, beim Hinzutreten weiterer Verkehrszuwiderhandlungen aber eine Ermessensentscheidung hierüber getroffen werden könnte.“ Vielmehr muss nach § 13 Nr. 2 Bst. c) FeV eine Begutachtung angeordnet werden, sobald sich eine Trunkenheitsfahrt mit 1,6 Promille oder mehr ereignet hat. Treten weitere Umstände hinzu, die nicht von § 13 FeV , sondern von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV erfasst werden, hat sich die verfahrensmäßige Gutachtenanordnung auf solche weitergehenden Eignungszweifel zu erstrecken. Es ändert sich dann also lediglich der Umfang des nach den konkreten Umständen erforderlichen Gutachtenauftrags.
Im vorliegenden Fall hatte der Kläger während der abgeurteilten Trunkenheitsfahrt nicht die Promillegrenze von 1,6 erreicht und auch sonst nicht die Voraussetzungen nach § 13 FeV erfüllt. Allerdings hat das Strafgericht hinreichende Tatsachen dargestellt, denen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential zu entnehmen sind. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV ist eine Begutachtung aber zulässig „bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr oder im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen oder bei denen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential bestehen.“ Wegen dieser Gemengelage zwischen Straftat, Alkoholkonsum und dem gezeigten hohen Aggressionspotential des Klägers ist die Vorschrift des § 11 Abs. 3 FeV demnach hier anwendbar, obwohl § 13 FeV an sich eine abschließende spezielle Regelung für Eignungszweifel bei Alkoholproblematik trifft.
Der Kläger muss die rechtskräftigen strafgerichtlichen Feststellungen auch im vorliegenden Verfahren gegen sich gelten lassen, denn es bestehen keine gewichtigen Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit (vgl. zum rechtlichen Ansatz: BVerwG, Beschl. v. 3. Sept. 1992 - 11 B 22/92 -, NZV 1992, 501 m.w.N.; OVG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 15. Juni 2004 - 4 B 320/03 -). Die strafgerichtliche Beweiswürdigung ist schlüssig und nachvollziehbar. Neue Gesichtspunkte, die zu einem abweichenden Ergebnis führen könnten, hat der Kläger nicht aufgezeigt. ..."