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OLG Saarbrücken Urteil vom 22.11.2000 - 5 U 424/00 - Zur vorsätzlichen Aufklärungsobliegenheit durch einen Nachtrunk

OLG Saarbrücken v. 22.11.2000: Zur vorsätzlichen Aufklärungsobliegenheit durch einen Nachtrunk in Erwarung der Polizei


Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 22.11.2000 - 5 U 424/00) hat entschieden:
Der Versicherungsnehmer verletzt seine Aufklärungsobliegenheit vorwerfbar, wenn er in der Erwartung eines polizeilichen Einsatzes Alkohol zu sich nimmt, um den Sachverhalt zu verschleiern, oder wenn er die Tatsache eines Nachtrunks zu einer solchen Verschleierung ausnutzt.


Siehe auch Nachtrunk - Alkoholkonsum nach dem relevanten Ereignisk


Zum Sachverhalt: Der Kläger unterhielt bei der Beklagten für seinen PKW mit dem amtlichen Kennzeichen ...eine Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und eine Fahrzeugvollversicherung, der die AKB 97 zugrunde lagen.

Am 12.6.1998 erlitt der Kläger auf der Heimfahrt nach einem Diskothekenbesuch gegen 4.30 Uhr auf der B 268 vor dem Ortseingang von Schmelz einen Verkehrsunfall. Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h geriet er - wie er behauptet nach dem plötzlichen Auftauchen eines Rehes - nach rechts von der Fahrbahn ab, überfuhr zwei Leitpfosten, lenkte den Wagen sodann nach links, überquerte die Fahrbahn, überfuhr einen Prismenkasten und einen kleinen, von drei Holzpfählen gehaltenen Straßenbaum, stürzte unmittelbar danach eine Böschung hinab, überschlug sich mehrfach und kam auf einem bestellten Feld zum Stehen. Der Kläger und sein Beifahrer verließen kurz darauf unverletzt die Unfallstelle, begaben sich zu Fuß nach Schmelz und wurden von dort nach Weiskirchen zur Wohnung des Klägers mitgenommen. Am nächsten Morgen meldete der Kläger gegen 10.25 Uhr - nachdem die Polizei zuvor vergeblich versucht hatte, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen - das Geschehen der Polizei. Eine um 12.17 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 0,46 %o, eine weitere um 12.32 Uhr entnommene einen Blutalkoholgehalt von 0,43 %o. Die Beklagte hat auf den ihr von dem Landesamt für Straßenwesen berechneten Schaden wegen der Beschädigung der Leitpfosten, des Prismenkastens und des Straßenbaums 1.570,94 DM gezahlt. Der Eigentümer des bestellten Feldes, auf dem der PKW des Klägers zum Stehen kam, hat einen Flurschaden bislang nicht geltend gemacht.

Der Kläger hat Ersatz des Wiederbeschaffungswertes seines Kraftfahrzeuges - abzüglich des Restwertes und einer Selbstbeteiligung - begehrt. Er hat behauptet, er habe die Beschädigung der Straßeneinrichtung nicht bemerkt. Gegen 8.00 Uhr habe er ein Glas Whisky zu sich genommen.

Die Beklagte hat wegen ihrer Aufwendungen Widerklage erhoben.

Das Landgericht Saarbrücken hat der Klage im wesentlichen stattgegeben und die Widerklage abgewiesen.

Hiergegen richtete sich die Berufung der Beklagten, die auch Erfolg hatte.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger nach dem Versicherungsvertrag der Parteien (§ 12 Nr. 1 II e, Nr. 1 I d AKB) den Schaden an seinem Kraftfahrzeug zu ersetzen und Haftpflichtversicherungsschutz - soweit Ansprüche Dritter 5.000 DM nicht übersteigen - zu gewähren (§ 10 Nr. 1 AKB). Denn sie ist von ihrer Verpflichtung zur Leistung frei, weil der Kläger seine Obliegenheit, alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestandes dienlich sein kann, vorwerfbar verletzt hat.

Das folgt allerdings nicht daraus, dass dem Kläger vorzuwerfen wäre, sich - im Sinne von § 142 Abs. 1 StGB - unerlaubt vom Unfallort entfernt zu haben. Zwar stellt das unerlaubte Entfernen vom Unfallort im Sinne von § 142 Abs. 1 StGB eine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und in der Fahrzeugvollversicherung dar (BGH U. v. 1.12.1999 - IV ZR 71/99-ZfS 2000, 68). Das ist jedoch nur der Fall, wenn das Verhalten des Versicherungsnehmers den objektiven und den subjektiven Tatbestand der Strafvorschrift erfüllt. Das darzulegen und zu beweisen - vor allem also die Kenntnis des Versicherungsnehmers von dem Entstehen eines nicht nur ganz unerheblichen Schadens an fremden Rechtsgütern - obliegt entgegen der Annahme der Berufung dem Versicherer, also der Beklagten (OLG Hamm U. v. 6.12.1991 - 20 U 228/91 - VersR 1993, 91; Römer/Langheid, VVG, § 6 Rdn. 87; Prölls/Martin/Knappmann, VVG, 26. Aufl., § 7 AKB Rdn. 19). Das ist der Beklagten - auch wenn angesichts der Art der Beschädigung, vor allem angesichts des Umstandes, dass der Kläger einen von drei Holzpfählen gehaltenen kleinen Straßenbaum umgefahren hat, manches für ihren Vortrag spricht - nicht gelungen (wird weiter ausgeführt).

...

Der Kläger hat seine Obliegenheit, alles zu tun, was zur Aufklärung des Tatbestandes dienlich sein kann, jedoch dadurch verletzt, dass er zu einem unbestimmten Zeitpunkt in unbestimmter Menge unmittelbar nach dem Unfall Alkohol zu sich genommen haben will.

Insoweit genügen allerdings die in der Tat unklaren und widerspruchsvollen Angaben des Klägers zu seinem Nachtrunk vor der Polizei und im Verlauf des Rechtsstreits nicht, die vorwerfbare Verletzung der Aufklärungsobliegenheit in einer falschen Unterrichtung der Beklagten zu sehen. Denn die Beklagte hat in ihrem Schadenanzeigeformular nach einem Nachtrunk nicht - unter einer entsprechenden Belehrung - gefragt; ihr gegenüber hat sich der Kläger erst nach ihrer Ablehnung jeglicher Leistungen geäußert.

Die Rechtsprechung erkennt allerdings im Einzelfall in einem Nachtrunk selbst eine vorwerfbare Verletzung der Aufklärungsobliegenheit des Versicherungsnehmers. Anders als in den Fällen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort besteht allerdings keine strafrechtlich sanktionierte Rechtspflicht, sich nach einem Unfall nicht zu betrinken. Auch obliegt es dem Versicherungsnehmer, der die Beteiligung eines Dritten an dem Unfall oder seine Schädigung durch ihn nicht erkennt, nicht, sich für eine Feststellung seines Blutalkoholgehalts bereitzuhalten (BGH U. v. 12.11.1975 IV ZR 4/74 - VersR 1976, 84; BGH U. v. 15.12.1982 - IV A ZR 33/81 - VersR 1983, 258). Jedoch verhält sich ein Versicherungsnehmer dem Versicherer gegenüber illoyal - und verletzt dadurch seine Aufklärungsobliegenheit vorwerfbar -, wenn er in der Erwartung eines polizeilichen Einsatzes Alkohol zu sich nimmt, um den Sachverhalt zu verschleiern, oder wenn er die Tatsache eines Nachtrunks zu einer solchen Verschleierung ausnutzt, wenn der Nachtrunk des Versicherungsnehmers also vernünftigerweise nur mit dessen Bestreben zu erklären ist, sich den auf ihn zukommenden Aufklärungsmaßnahmen planmäßig zu entziehen (BGH U. v. 12.11.2975 - IV ZR 5/74 - VersR 1976, 84; OLG Hamm U. v. 4.9.1991 - 20 U 112/91 - NJW-RR 1992, 165; OLG Düsseldorf U. v. 30.6.1992 - 4 U 205/91 - VersR 1993, 1141).

Davon muss ausgegangen werden. Der Kläger hat, ohne dass ihm dies widerlegt werden könnte, ausgeführt, unmittelbar nach dem Unfall in seiner Wohnung ein Wasserglas Whisky zu sich genommen zu haben. Diese Angabe hat er erstmals gemacht, nachdem ihm bei seiner Meldung bei der Polizei und einem freiwilligen Atemalkoholtest die Entnahme einer Blutprobe angekündigt worden war. Die dabei erfolgte Angabe, es habe sich um drei bis vier Gläser Schnaps gehandelt, hat er später damit erklärt, er habe lediglich die in dem Wasserglas Whisky vorhandene Flüssigkeitsmenge beschreiben wollen. Bei dem von ihm behaupteten und ihm nicht widerlegbaren Nachtrunk war ein Zeuge nicht zugegen. Der Zeuge S der sich - anders als der Kläger dies in seiner Anhörung dargestellt hat - kurz in seiner Wohnung aufgehalten hatte, war zu diesem Zeitpunkt schon gegangen. Die für eine verlässliche, auf den Unfallzeitpunkt bezogene Blutalkoholbestimmung notwendige genaue Erhebung von Zeitpunkt, Art und Menge des genossenen Alkohols ist dadurch nicht möglich gewesen. Als Grund für seinen Nachtrunk hat der Kläger genannt, er habe sich "zuerst geärgert". Das Maß dieses - gewiss vorhandenen - Ärgers kann allerdings nicht so groß gewesen sein, dass es im Vordergrund der Motivation des Klägers gestanden hätte: Immerhin hatte er sich mit dem Zeugen S einige Minuten unterhalten, ohne dass er etwas getrunken hätte. In seiner Anhörung hat der Kläger zudem erkennen lassen, wie sehr er bemüht ist, eine alkoholische Beeinflussung zum Unfallzeitpunkt zu bestreiten. Er hat die Bedeutung des Alkoholgenusses in der Diskothek zu relativieren versucht - innerhalb von fünf Stunden will er lediglich drei 0,33 Literflaschen Bier zu sich genommen haben und diese Alkoholaufnahme auch noch eher dem Beginn seines Diskothekenaufenthaltes zugeordnet, der Nachtrunk hingegen soll - anders als aus den Bekundungen des Zeugen zum Ablauf des Geschehens erschlossen werden müsste - eher in zeitlicher Nähe zu der Meldung des Klägers bei der Polizei erfolgt sein. Alle diese Umstände können vernünftigerweise nur mit dem Bestreben des Klägers erklärt werden, seine alkoholische Beeinflussung zum Unfallzeitpunkt zu verschleiern.

Insoweit kann auch den Erwägungen des angefochtenen Urteils nicht gefolgt werden, nach denen auch dann, wenn der Nachtrunk unberücksichtigt gelassen würde, keine unfallursächliche alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorgelegen haben würde, durch den Nachtrunk also Feststellungen nicht zum Nachteil der Beklagten verschleiert worden seien. Hat der Kläger, wie er selbst angibt, Alkohol "eher am Anfang" des Diskothekenbesuchs getrunken, war die Resorptionsphase wesentlich früher als die angefochtene Entscheidung annimmt abgeschlossen. Abgesehen davon ergäbe sich, hätte der Kläger nicht, wie ihm nicht zu widerlegen ist, zu einem unbestimmten Zeitpunkt Alkohol unbestimmter Art und Menge zu sich genommen, eine alkoholische Beeinflussung des Klägers während des Unfallgeschehens, die in jedem Fall unmittelbar an das Vorliegen absoluter Fahruntüchtigkeit heranreichen würde. Da nach den eigenen Angaben des Klägers zum Unfallzeitpunkt Nässe und bei Dunkelheit schlechte Sichtverhältnisse herrschten und er in Sichtweite der bebauten Ortslage, einer Geschwindigkeitsbegrenzung und eines Überholverbotsschildes mit 100 km/h aufgrund einer letztlich unklaren Wahrnehmung jegliche Herrschaft über sein Kraftfahrzeug verlor, ist nicht auszuschließen, dass seine alkoholische Beeinflussung sein Fahrverhalten nachhaltig beeinflusst hat. Im Grenzbereich absoluter Fahruntüchtigkeit muss daher davon ausgegangen werden, dass der vom Kläger behauptete und ihm nicht zu widerlegende Nachtrunk Feststellungen des Versicherers über die Ursache für die Herbeiführung des Unfalls durch grobe Fahrlässigkeit tatsächlich vereitelt hat.

Die Obliegenheitsverletzung des Klägers - der Nachtrunk - ist vorsätzlich erfolgt. Sie hatte Folgen, weil die Beklagte Leistungen erbracht hat und genaue Feststellungen zur Unfallursache nicht möglich waren. Daher ist sie für die Beklagte auch relevant geworden.

Die Leistungsfreiheit der Beklagten besteht uneingeschränkt in der Fahrzeugvollversicherung, in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung in den Grenzen des § 7 V Nr. 2 AKB 97. ..."



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