Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Schleswig Urteil vom 23.9.2003 - 3 A 275/02 - Die Radwegbenutzungspflicht darf nur bei erheblich gesteigerter Gefahr für Radfahrer angeordnet werden
VG Schleswig-Holstein v. 23.9.2003: Die Radwegbenutzungspflicht darf nur bei erheblich gesteigerter Gefahr für Radfahrer angeordnet werden
Das Verwaltungsgericht Schleswig (Urteil vom 23.9.2003 - 3 A 275/02) hat zur Anordnung der Radwegebenutzungspflicht folgende Grundsätze aufgestellt:
- Radfahrern steht es nach § 2 IV StVO im Grundsatz frei, ob sie den Radweg oder die Straße benutzen. Die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht bedarf eines erhöhten Begründungsaufwandes.
- Nach § 45 IX StVO darf eine Radwegebenutzungspflicht nur angeordnet werden, wenn eine gegenüber dem Normalmaß erheblich gesteigerte Gefahr für Radfahrer bzw. für andere Verkehrsteilnehmer vorliegt, die nicht nur den Bau eines Radweges, sondern darüber hinaus auch die Verpflichtung zur Benutzung desselben notwendig macht.
- Fehlt es an solchen zwingenden Umständen, bedarf es keiner Entscheidung der Frage, ob der streitgegenständliche Radweg den Anforderungen der VwV zu § 2 StVO entspricht.
Siehe auch Anordnung der Radwegebenutzungspflicht und Radweg und Radwegbenutzungspflicht
Zum Sachverhalt: Der Kl. begehrt die Aufhebung einer Radwegebenutzungspflicht. Zwischen 1999 und 2001 baute der Bekl. die K 47 auf einer Länge von 3,5 km beginnend in Groß Schenkenburg über Rothenhausen hinaus aus. Im Rahmen dieses Ausbaus wurde einseitig ein gemeinsamer Rad- und Gehweg mit einer Breite von 2,5 m innerhalb der Ortsdurchfahrten und einer Breite von 2,00 m auf freier Strecke erstellt. Im Juni 2001 wurde für den gemeinsamen Rad- und Gehweg das Verkehrszeichen 240 angebracht.
Mit Schreiben vom 11. 10. 2001 wandte sich der Kl. gegen die durch das Verkehrszeichen 240 angeordnete Benutzungspflicht des Radweges und führte zur Begründung aus, die allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO sehe einen Radweg nur dann als benutzungspflichtig an, wenn er im Hinblick auf Breite, baulichen Zustand und Linienführung bestimmte Mindestkriterien erfülle. Diese Mindestkriterien seien, abgesehen von der erforderlichen Breite, nicht eingehalten. Der Kl. moniert insbesondere Bodenwellen durch Grundstückszufahrten, unübersichtliche und enge S-Kurven sowie das Vorbeiführen des Radweges an unübersichtlichen Grundstückszufahrten und an zwei stark von Fußgängern frequentierten Bushaltestellen. Im Übrigen sei die Radwegebenutzungspflicht nicht erforderlich, da der Autoverkehr auf der Kreisstraße sehr gering sei und sich seiner Kenntnis nach in den letzten Jahren keine fahrradbedingten Unfälle ergeben hätten.
Mit Bescheid vom 6. 12. 2001 lehnte der Bekl. das Begehren des Kl. ab. Seinen hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Landesamt für Straßenbau und Verkehr Schleswig-Holstein mit Bescheid vom 21.8.2002 – zugestellt am 24.8.2002 – zurück und führte zur Begründung aus: Durch die Trennung der Verkehrsarten könnten die aus den Schwankungen des Fahrrades resultierenden Gefährdungen für die Radfahrer zumindest weitgehend gemindert werden. Viele Fahrradfahrer gingen ohnehin davon aus, dass Radwege ihrer Sicherheit dienten. Insbesondere außerorts führe die Vermischung der Verkehrsarten zu höheren Gefahren. Im konkreten Fall sei der Verlauf der K 47 außerorts teilweise kurvig und deshalb als unübersichtlich anzusehen. Die Kriterien der Verwaltungsvorschrift zu § 2 StVO seien bei dem Rad- und Gehweg eingehalten. Eine geringe Verkehrsbelastung schließe die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht nicht von vornherein aus.
Die Klage erwies sich als begründet.
Aus den Gründen:
Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Dem Kl. steht die gemäß § 42 II VwGO erforderliche Klagebefugnis zu. Diese ist immer dann zu bejahen, wenn das Klagevorbringen es zumindest als möglich erscheinen lässt, dass die angefochtene Maßnahme eigene Rechte des KI. verletzt. Hierzu genügt es, dass der Kl. als Radfahrer durch die angefochtene Verkehrsregelung betroffener Verkehrsteilnehmer ist. Dieser kann geltend machen, dass die rechtmäßigen Voraussetzungen für die angefochtene Verkehrsregelung nicht gegeben seien. Vorliegend macht der Kl. geltend, er benutze die von ihm angegriffene, der Radwegebenutzungspflicht unterliegende Strecke täglich auf dem Weg zur Arbeit und zurück.
Die Klage ist auch begründet. Die angeordnete Radwegebenutzungspflicht und die ihre Aufhebung ablehnenden Bescheide vom 6. 12. 2001 und vom 21.8.2002 sind rechtswidrig und verletzen den Kl. in seinen Rechten (§ 113 I 1 VwGO).
Bei der rechtlichen Beurteilung ist zunächst davon auszugehen, dass es nach Aufhebung der grundsätzlichen Radwegebenutzungspflicht durch die seit dem 1. 10. 1998 geltende Neufassung des § 2 IV StVO (24. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 7.8.1997 BGBl. I S. 2028) grundsätzlich zulässig ist, dass Radfahrer nicht einen vorhandenen Radweg, sondern die Fahrbahn benutzen. Radwege müssen die Radfahrer dagegen nur benutzen, wenn die jeweilige Fahrtrichtung mit Zeichen 237, 240 oder 241 gekennzeichnet ist (§ 2 IV 2 StVO). Andere rechte Radwege dürfen sie benutzen (§ 2 IV 3 StVO). Die im vorliegenden Fall streitige Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht durch Zeichen 240 stellt sich damit nicht nur als Gebotsregelung, sondern zugleich als Verbotsregelung und damit als eine die Straßenbenutzung durch den fließenden Fahrradverkehr beschränkende Maßnahme dar. Denn die durch Zeichen 240 StVO angeordnete Radwegebenutzungspflicht verbietet dem zuvor zulässigerweise die Fahrbahn benutzenden Radfahrer, diese weiter zu befahren. Hinsichtlich der Fahrbahnbenutzung steht sie damit dem stets als Verkehrsbeschränkung anzusehenden Zeichen 254 StVO gleich.
Rechtsgrundlage für die Aufstellung der Zeichen 240 ist damit zunächst neben § 39 I StVO auch § 45 I 1 StVO. Danach können die Verkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten. Hinsichtlich der Anforderungen, die an die Eingriffstatbestände des § 45 I bis 1 d StVO zu stellen sind, ist durch die 24. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in § 45 StVO der Absatz 9 eingefügt worden, der dann durch die 33. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 11. 12. 2000 (BGBl. I S. 1690) noch eine Änderung erfahren hat. Nach § 45 IX 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Abgesehen von der Anordnung von Tempo-30-Zonen nach Abs. 1 c oder Zonen – Geschwindigkeitsbeschränkungen nach Abs. 1 d dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das "allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.
Nach dieser Bestimmung setzt eine verkehrsbehördliche Anordnung, die wie die hier angefochtene Radwegebenutzungspflicht (vgl. § 2 IV 2 StVO) eine sonst zulässige Benutzung bestimmter Straßenstrecken für Radfahrer beschränkt, das Vorhandensein besonderer, zu einer solchen Regelung zwingender Umstände voraus. Solche Umstände sind nach § 45 IX 2 StVO nur bei einer auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage gegeben. Der Ausnahmecharakter der Aufstellung von Verkehrszeichen wird mit Blick auf die Radwegebenutzungspflicht im besonderen Maße auch durch § 2 IV 2 und 3 StVO betont. Danach steht es Radfahrern im Grundsatz frei, ob sie den Radweg oder die Straße benutzen wollen. Nur bei Aufstellung entsprechender Verkehrszeichen besteht eine Pflicht zur Benutzung des Radweges. Auch nach § 2 IV 2 und 3 StVO bedarf damit die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht eines erhöhten Begründungsaufwandes.
Diese hohen normativen Anforderungen hat der Bekl. bei der angefochtenen Anordnung der Radwegebenutzung nicht beachtet. Es bestehen weder aus dem Vorbringen der Beteiligten noch aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen Anhaltspunkte dafür, dass die örtlichen Verhältnisse auf der streitigen Strecke der K 47 eine gegenüber dem Normalmaß erheblich gesteigerte Gefahr für Radfahrer bzw. für andere Verkehrsteilnehmer begründen könnten, welche nicht nur den Bau eines Radweges, sondern darüber .hinaus auch die Verpflichtung zur Benutzung desselben notwendig machte.
Einerseits stellt der insbesondere von der Widerspruchsbehörde angeführte unfallverhütende Entmischungsgrundsatz keinen Aspekt dar, der im besonderen Maße die örtlichen Gegebenheiten in dem hier streitigen Streckenabschnitt der K 47 berücksichtigt. Dieser Grundsatz lässt sich vielmehr praktisch auf alle bestehenden Radwege anwenden. Wäre ein solches allgemeines Argument zur Begründung der Benutzungspflicht ausreichend, würde das oben beschriebene Regel-Ausnahmeverhältnis des § 2 IV StVO ins Gegenteil verkehrt. Vergleichbares gilt, wenn der Bekl. die aus der großen Instabilität des Fahrrades herrührenden Gefährdungen anführt. Andererseits ergibt sich die besondere Gefährlichkeit der K 47 in diesem Streckenabschnitt auch nicht daraus, dass die Strecke – wie die Widerspruchsbehörde ausführt – an freier Strecke bzw. außerorts auf Grund der teilweise kurvigen Straßenführung unübersichtlich ist. Abgesehen davon, dass sich auch dieses Argument auf die Mehrzahl von inner- und außerstädtischen Radwegen anwenden ließe, wird es jedenfalls durch die vom Bekl. unbestrittene Darstellung des Kl. entkräftet, dass die Straße im Durchschnitt nur von etwa 24 Fahrzeugen pro Stunde genutzt wird. Die durch die kurvige Straßenführung möglicherweise erhöhte Gefahrenlage wird hierdurch zumindest erheblich relativiert. Eine iSd § 45 IX StVO erhebliche Steigerung der Gefährdungslage ist hieraus jedenfalls nicht zu ersehen.
Da somit die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht im vorliegenden Fall nicht gegeben sind, bedarf es keiner Entscheidung der zwischen den Beteiligten streitigen Fragen mehr, ob der Radweg vorliegend den Anforderungen der Verwaltungsvorschrift zu § 2 StVO entspricht.