Das Verkehrslexikon

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Landgericht Mönchengladbach Urteil vom 14.10.2003 - 5 S 75/03 - Zur Frage einer Aufsichtspflichtverletzung gegenüber einem 5-jährigen radfahrenden Jungen

LG Mönchen-Gladbach v. 14.10.2002: Zur Frage einer Aufsichtspflichtverletzung gegenüber einem 5-jährigen radfahrenden Jungen


Das Landgericht Mönchengladbach (Urteil vom 14.10.2003 - 5 S 75/03) hat entschieden:
  1. Es stellt keine Aufsichtspflichtverletzung dar, wenn der Aufsichtspflichtige auf dem Radweg ca. 7 m vor seinem Kind herfährt.

  2. Eine unfallursächliche Aufsichtspflichtverletzung ist auch nicht darin zu sehen, dass das 5-jährige Kind entgegen § 2 Abs. 5 Satz 1 StVO statt auf dem Gehweg auf dem Radweg fährt, weil sich der Unfallgegner auf den Verstoß gegen § 2 Abs. 5 S. 1 StVO nicht berufen kann, da er vom Schutzbereich dieser Norm als Linksabbieger nicht erfasst wird.

Siehe auch Radfahrer im Verkehrsrecht und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer


Zum Sachverhalt: Der Kl. beabsichtigte von der V Str. in M. nach links in den B.weg abzubiegen. Nach dem Abbiegevorgang hielt er sein Fahrzeug vor dem parallel zur V. Str. verlaufenden Radweg an, um die Bekl. auf ihrem Fahrrad passieren zu lassen, die den Radweg in entgegengesetzter Richtung befuhr. Nachdem der Kl. wieder angefahren war, bemerkte er den von rechts kommenden 5-jährigen Sohn der Bekl., der in einem Abstand von ca. 7 m hinter seiner Mutter ebenfalls den Radweg befuhr. Der Kl., dessen Sicht wegen am Fahrbahnrand parkender Fahrzeuge eingeschränkt war, hielt quer zum Radweg an und der Sohn der Bekl. fuhr gegen dessen Fahrzeug. Die auf § 832 BGB gestützte Schadensersatzklage hat das AG abgewiesen, weil eine Aufsichtspflichtverletzung der Bekl. nicht festgestellt werden könne. Dagegen wendet sich der Kl. mit seiner Berufung, die zurückgewiesen worden ist.


Aus den Entscheidungsgründen:

Dem Kl. steht gegen die Bekl. aus Anlass des Verkehrsunfalls vom 28. 5. 2002 kein Schadensersatzanspruch aus § 832 Abs. 1 Satz 1 BGB zu. Denn auf der Grundlage des erstinstanzlich festgestellten Sachverhalts ist der Bekl. keine Aufsichtspflichtverletzung über ihren fünfjährigen Sohn vorzuwerfen, § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB. Der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen Dritter zu verhindern (OLG Hamm, MDR 2000, 454).

Es stellt keine Aufsichtspflichtverletzung der Kl. dar, dass diese in einem Abstand von sechs bis sieben Metern vor ihrem Sohn hergefahren ist. Grundsätzlich dürfen sich im öffentlichen Straßenverkehr nicht schulpflichtige Kinder nicht gänzlich unbeaufsichtigt bewegen. Es muss eine jederzeitige Eingriffsmöglichkeit der Eltern gewahrt sein. So bedarf es zur Erfüllung der Aufsichtspflicht der Eltern über ein selbständig fahrradfahrendes Kind eines ständigen Sichtkontaktes (LG Düsseldorf, VersR 1994, 484). Dagegen ist es dem Aufsichtspflichtigen nicht vorwerfbar, wenn er sich fünfzehn bis zwanzig Meter von einem auf dem Bürgersteig auf einem Fahrrad mit Stützrädern fahrenden Fünfjährigen entfernt (AG Darmstadt, zfs 1992, 3). Bereits bei einem dreieinhalb-jährigen Kind ist nicht zu verlangen, dass die Eltern permanent die Lenkstange halten (LG München, VersR 2000, 1022). Die Kammer vermag aus diesen Gründen keine Pflichtverletzung darin zu sehen, dass sich die Bekl. sechs bis sieben Meter von ihrem Sohn entfernt hat. Nicht zu beanstanden ist auch der Umstand, dass sie vorausgefahren ist. Eine gesetzliche Regelung, ob der Aufsichtspflichtige vor-oder nachzufahren hat, existiert nicht. Je nach Verkehrssituation ist die eine oder andere Handhabung geeigneter. Ein Vorausfahren hat in jedem Fall den Vorteil, dass im Falle einer kritischen Situation das Kind „aufläuft” und damit kurzfristig dem Zugriff des Aufsichtspflichtigen ausgesetzt ist.

Es bestehen auch keinen besonderen Umstände, die hier zu einer gesteigerten Aufsichtspflicht der Bekl. geführt haben. Dies wäre nur dann der Fall, wenn für die Bekl. eine besondere Gefahrensituation erkennbar gewesen wäre. Eine solche war nicht gegeben. Die Bekl. und ihr Sohn befanden sich auf dem bevorrechtigten Fahrradweg. Der Kl. musste vor dem Linksabbiegen die beiden Fahrradfahrer durchfahren lassen. Gefahrerhöhend war allein der Umstand, dass durch parkende Autos die Sicht des Kl. auf den fünfjährigen Sohn verdeckt war. Diese Gefahrensituation war für die Bekl. erst erkennbar, als sie in den Kreuzungsbereich einfuhr und sah, dass der Kl. links abbiegen wollte. Nach Auffassung der Kammer hat sie auf diese Gefahrensituation adäquat reagiert, in dem sie noch versucht hat, den Kl. auf die Gefahrensituation aufmerksam zu machen und gleichzeitig ihren Sohn angerufen hat, dieser solle aufpassen.

Letztlich vermag die Kammer auch keine Aufsichtspflichtverletzung darin zu sehen, dass die Bekl. es geduldet hat, dass ihr fünfjähriger Sohn den Radweg benutzt hat. Zwar bestimmt § 2 Abs. 5 Satz 1 StVO, dass Kinder bis zum voll-endeten -achten Lebensjahr mit Fahrrädern Gehwege benutzen müssen. Auch vermag die Kammer nicht der Auffassung der Bekl. und Teilen der Rechtsliteratur (vgl. die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 2 StVO, Rdn. 29 a) zu folgen, nach der Kinder bis zum achten Lebensjahr entgegen dem Wortlaut des Abs. 5 in Begleitung Erwachsener auf der Fahrbahn fahren dürfen.

Der Kl. kann sich aber nicht auf einen Verstoß gegen § 2 Abs. 5 Satz 1 StVO berufen, da er als Linksabbieger nicht in den Schutzbereich dieser Norm fällt. Sinn und Zweck des § 2 Abs. 5 StVO ist es, die fahrradfahrenden Kinder vor schnelleren Verkehrsteilnehmern zu schützen. Dies gilt für den gleichgerichteten oder entgegenkommenden Verkehr. Es soll eine Entmischung und Entflechtung des Fahrzeugverkehrs gewährleistet werden (Hentschel, a.a.O., Rn. 16d). Bis zur Gesetzesänderung am 1. 9. 1997 bestimmte § 2 Abs. 5 Satz 2 StVO, dass Kinder bis zum achten Lebensjahr Radwege zu benutzen hatten, auch wenn Gehwege vorhanden waren. Diese Vorschrift ist im Hinblick auf die völlig unterschiedliche bauliche Ausgestaltung von Radwegen geändert worden. Die Unterscheidung zwischen baulichem Radweg und Radfahrstreifen sei nicht mehr vermittelbar (Hentschel, a.a.O., Rn. 16d). Vor diesem Hintergrund ist der entsprechende Passus im Gesetz 1997 gestrichen worden.

Besteht Sinn und Zweck des § 2 Abs. 5 Satz 1 StVO aber gerade in der Gewährleistung einer räumlichen Trennung der Kinder von dem gleichgerichteten oder entgegen-kommenden Verkehr, so kann der Kl. als Linksabbieger sich nicht auf eine Verletzung dieser Vorschrift berufen. Denn als Linksabbieger quert er die Fahrbahn des fahrradfahrenden Kindes, unabhängig davon, ob dieses auf dem Fahrradweg oder auf dem Gehweg fährt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass bei der hier gegebenen baulichen Situation, Straße/Fahrradweg/Gehweg, dem Linksabbieger eine größere Zeitspanne zum Erkennen des Fahrradfahrers bleibt, wenn das Kind auf dem Gehweg fährt. Denn umgekehrt ist die Zeitspanne für einen etwa aus einer Haus-einfahrt ausfahrenden Kraftfahrer geringer.