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OLG Hamm Urteil vom 26.05.1998 - 9 U 12/98 - Zum Mitverschulden des in falscher Fahrtrichtung auf dem Radweg fahrenden Radfahrers an Kollision mit Kfz
OLG Hamm v. 26.05.1998: Zum Mitverschulden des in falscher Fahrtrichtung auf dem Radweg fahrenden Radfahrers an Kollision mit Kfz
Das OLG Hamm (Urteil vom 26.05.1998 - 9 U 12/98) hat entschieden:
Auch bei einem Vorfahrtrecht des den Radweg in falscher Richtung benutzenden Radfahrers muß er sich ein hälftiges Mitverschulden dann anrechnen lassen, wenn der Radweg von dem aus der untergeordneten Straße kommenden Fahrzeug vollständig versperrt ist und der Radfahrer versucht, nach Ausweichen auf die Fahrbahn die Einmündung noch vor diesem Fahrzeug zu passieren.
Siehe auch Radfahrer im Verkehrsrecht und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer
Zum Sachverhalt: Die Kl. befuhr mit ihrem Fahrrad den linken Radweg einer Vorfahrtstraße und wollte eine einmündende Straße überqueren. Dabei kollidierte sie mit einem vom Zeugen H geführten Geländewagen der Bekl. H wollte mit diesem nach rechts in die Vorfahrtstraße einbiegen.
Die Kl. begehrte materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie Feststellung der Ersatzpflicht für Zukunftsschäden auf der Basis einer Mithaftung von 25%.
Das OLG hat auf hälftige Schadensteilung erkannt.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... 1. Der Zeuge H hat den Unfall dadurch fahrlässig verursacht, daß er nach dem Halt an der Sichtlinie und unmittelbar vor dem Anfahren nicht nach rechts geschaut und deshalb die sich mit dem Fahrrad nähernde Kl. nicht bemerkt hat. Diese Fahrweise ist gern. § 1 II StVO als fahrlässig verkehrswidrig einzustufen, wie die Bekl. auch nicht in Abrede stellt. Der Zeuge H hätte vor dem Anfahren nach rechts schauen müssen, weil er mit Radfahrern von rechts rechnen mußte, denn es ist - wie jeder Kraftfahrer weiß oder wissen muß - nicht selten zu beobachten, daß Radfahrer den für sie linken Radweg benutzen. Diese Verpflichtung besteht für den Kraftfahrer schon deswegen, weil Radwege durch das Verkehrszeichen 237 zur StVO für beide Fahrtrichtungen freigegeben werden können. Aber auch dann, wenn das nicht der Fall ist, muß ein nach rechts abbiegender Kraftfahrer mit Radfahrern von rechts rechnen, weil die Erfahrung lehrt, daß gerade Radfahrer die Verkehrsregeln häufig nicht beachten und den linken Radweg in der falschen Richtung befahren. Hätte der Zeuge H vor dem Anfahren nach rechts geschaut, hätte er die Kl. rechtzeitig sehen und den Anfahrvorgang zurückstellen können, so daß die Kollision mit der Kl. vermieden worden wäre.
2. Die Kl. hat den Unfall dadurch fahrlässig mitverursacht, daß sie entgegen der Vorschrift des § 2 IV 2 StVO den für ihre Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg verbotenerweise in der falschen Richtung befahren hat. Eine Ausnahme von dem Gebot des § 2 IV 2 StVO durch ein Schild gern. Zeichen 237 bestand unstreitig für den linken Radweg nicht. Die Kl. hätte daher bedenken müssen, daß Kraftfahrer beim Einbiegen auf eine Vorfahrtstraße nach rechts mit Verkehr von rechts häufig nicht rechnen, zumal dann, wenn durch angebrachte Fahrlinien das Benutzen der linken Fahrspur - wie im Streitfall - für den Verkehr von rechts nicht erlaubt ist. Da die Kl. verkehrswidrig den linken Radweg benutzte, hätte sie besonders vorsichtig sein und Blickkontakt mit dem Zeugen H aufnehmen müssen, um sicher zu gehen, daß der Zeuge H sie bemerkt hatte. Da sie aber keinen Blickkontakt mit dem Zeugen H aufgenommen hat, wie sie bei ihrer Anhörung vor dem Senat eingeräumt hat, hätte sie anhalten und warten müssen oder aber hinter dem Jeep ihre Fahrt fortsetzen müssen, denn sie konnte in der gegebenen Verkehrssituation nicht damit rechnen, daß der Zeuge H sie erkannt hatte und ihr die Vorbeifahrt gewähren würde.
3. Im Rahmen der gern. § 9 StVG, § 254 BGB vorzunehmenden Abwägung stellt der Verkehrsverstoß der Kl. die entscheidende Unfallursache dar. Sie hat durch ihr sorgloses Verhalten in grober Weise gegen ihre eigenen Sicherheitsinteressen verstoßen und deshalb den Unfall im hohen Maße mitverschuldet.
a) Bei der Bewertung des Mitverschuldens der Kl. kann der Senat die in der Rechtsprechung streitige Frage, ob ein Radfahrer auf der Vorfahrtstraße auch dann die Vorfahrt gegenüber kreuzenden oder einbiegenden Fahrzeugen behält, wenn er den linken von zwei vorhandenen Radwegen benutzt, der nicht nach § 2 IV 2 StVO für die Gegenrichtung freigegeben ist (so BGH, 4. Strafsenat, NJW 1986, 2651; OLG Hamm, 9. Zivilsenat, ZfS 1996, 284 und OLG Hamm, 6. Zivilsenat, NZV 1997, 123 und OLGR 1992, 392), oder ob ein solcher Radfahrer keine Vorfahrt hat, weil ein Recht zur Vorfahrt begrifflich ausgeschlossen sei, wenn es schon an einem Recht zum Fahren mangele (so OLG Bremen, DAR 1997, 272 im Anschluß an BGH, VI. Zivilsenat, NJW 1982, 334 - Einbahnstraßenfahrt; OLG Celle, NJW 1986, 2065; Jagusch/Hentschel, StraßenverkehrsR, 33. Aufl., § 8 StVO Rdnr. 30) dahingestellt sein lassen. Selbst wenn zugunsten der Kl. von einem Vorfahrtrecht ausgegangen wird, ist ihr Mitverschulden aufgrund der besonderen Umstände des Falles gegenüber der durch ein leichtes Verschulden des Zeugen H erhöhten Betriebsgefahr von des zu Geländewagens jedenfalls mit einer Haftungsquote von 50% zu bewerten, weil die Kl. dann ihr Vorfahrtrecht mißbräuchlich ausgenutzt hätte und damit ebenfalls gegen § 1 II StVO verstoßen hat.
b) Aufgrund er ergänzenden Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, daß der Zeuge H mit dem Geländewagen der Bundeswehr nicht - wie die Kl. behauptet - vor dem durch weiße Linien gekennzeichneten Radweg, sondern erst vor der Sichtlinie in leichter Schrägstellung nach rechts angehalten hat, so daß der Radweg in seiner ganzen Breite von dem Geländewagen der Bundeswehr versperrt war. ...
Das bedeutet, daß die Kl. trotz verbotswidriger Benutzung des in ihrer Richtung nicht freigegebenen Radweges ihre Fahrt fortgesetzt hat, obwohl der Radweg in der Einmündung völlig durch den haltenden Jeep versperrt war. Statt in einer solchen Verkehrssituation anzuhalten oder links hinter dem Geländewagen herzufahren, hat sie sich dann entschlossen, nach rechts auf die Fahrbahn auszuweichen, um noch vor dem Geländewagen die Einmündung zu passieren. Diese Fahrweise muß - selbst wenn der Kl. auf dem Radweg die Vorfahrt zugebilligt wird - als grob verkehrswidrig bezeichnet werden. Das Vorfahrtrecht schuf angesichts dieser Verkehrssituation keine besondere Vertrauensgrundlage. Bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte die K1. erkennen können und müssen, daß der Zeuge H sich nach links orientierte und sie nicht bemerken würde. Ohne Herstellung des Blickkontaktes durfte sie jedenfalls nicht darauf vertrauen, daß der Zeuge H ihr die Vorbeifahrt gewähren würde. Ihr Fehlverhalten wiegt daher schwer.
Dagegen ist das die Betriebsgefahr erhöhende Verschulden des Zeugen H deutlich geringer einzustufen. Ihm ist nur vorzuwerfen, daß er vor dem Anfahren nicht nochmals nach rechts geschaut und deshalb die Kl. nicht rechtzeitig erkannt hat. Da aber aufgrund der vorgezogenen Halteposition eine Gefährdung der sich von rechts nähernden Radfahrer eher unwahrscheinlich war, ist sein Fehlverhalten gering einzustufen. Unter Abwägung der genannten Umstände trägt nach Auffassung des Senats eine hälftige Haftungsverteilung den beiderseits gesetzten Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen angemessen Rechnung. Eine höhere Haftung des Bekl. käme allenfalls in Betracht, wenn der Zeuge H vor dem Radweg gehalten und damit zu erkennen gegeben hätte, möglichen von rechts kommenden Radverkehr zu beachten. ..."