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OLG Brandenburg Urteil v. 17.01.2008 - 12 U 94/07 - Das unkontrollierte Annähern eines Schäferhundes ist geeignet, eine Schreckreaktion bei einem Radfahrer hervorzurufen
OLG Brandenburg v. 17.01.2008: Das unkontrollierte Annähern eines Schäferhundes ist geeignet, eine Schreckreaktion bei einem Radfahrer hervorzurufen
Das OLG Brandenburg (Urteil vom 17.01.2008 - 12 U 94/07) hat entschieden:
Das unkontrollierte Annähern eines ausgewachsenen Schäferhundes bis auf einen Abstand von drei Metern ist geeignet, eine Schreckreaktion bei einem Radfahrer hervorzurufen, umso mehr wenn der Radfahrer - wie die Geschädigte - das 78. Lebensjahr bereits vollendet hat.
Siehe auch Radfahrer im Verkehrsrecht und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer
Aus den Entscheidungsgründen:
"... In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Der Beklagte haftet der Klägerin aus übergegangenem Recht gem. § 833 S. 2 BGB in Verbindung mit § 116 SGB X wegen vermutetem Verschulden in Höhe von 8 986,68 €. Bei dem Hund des Beklagten, der sich der Geschädigten genähert hat, handelt es sich um ein Haustier, das dem Beruf, der Erwerbstätigkeit bzw. dem Unterhalt des Beklagten zu dienen bestimmt ist. Erfasst von dieser Vorschrift ist auch der Hütehund eines Schäfers (Sprau in Palandt, BGB, Kommentar, 66. Aufl., § 833, Rn. 17). Vorliegend hat der Beklagte erstinstanzlich unwidersprochen vorgetragen, dass er hauptberuflich als Schäfer tätig ist und der Hund, der sich der Geschädigten genähert hat, speziell als Hütehund ausgebildet ist sowie entsprechend eingesetzt wird. Das erstmals in der Berufungsinstanz erfolgte Bestreiten dieses Vortrags durch die Klägerin ist mangels Darlegung der Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO nicht mehr beachtlich. Insbesondere ein Fall des § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist nicht gegeben, da das Landgericht von der Anwendbarkeit des § 833 S. 2 BGB ausgegangen ist, wenngleich es den Entlastungsbeweis im Ergebnis verneint hat.
Der Sturz der Geschädigten M…, der zu den unfallbedingten Verletzungen geführt hat, ist durch ein Verhalten des vom Beklagten gehaltenen Hundes verursacht worden, in welchem sich zugleich eine spezifische Tiergefahr realisiert hat. Erforderlich ist hierzu, dass ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbares und selbständiges Verhalten vorliegt (BGH NJW-RR 2006, S. 813; NJW 1999, S. 3119; NJW 1976, S. 2130; std. Rspr.). Dabei muss das tierische Verhalten nicht die einzige Ursache des Schadens sein, eine adäquate Mitverursachung ist ausreichend (BGH NJW-RR 2006 a.a.O.). Auch ist eine unmittelbare Schadenherbeiführung nicht erforderlich; es genügt ein mittelbarer Zusammenhang (OLG Schleswig VersR 1988, S. 700; Belling/Eberl-Borges in Staudinger, BGB, Kommentar, 13. Bearb., § 833, Rn. 24; Spindler in Bamberger/Roth, BGB, Kommentar, § 833, Rn. 11). Ein solcher mittelbarer ursächlicher Zusammenhang liegt z.B. vor, wenn ein Mensch durch das Verhalten eines Tieres in Angst und Schrecken versetzt wird, infolge dessen stürzt und sich verletzt (OLG Schleswig, a.a.O.; OLG Nürnberg NJW-RR 1991, S. 741; OLG Nürnberg NJW 1965, S. 694; OLG Köln VersR 1999, S. 1293; Belling/Eberl-Borges, a.a.O., Rn. 26; Spindler, a.a.O., Rn. 11). Der Zurechnungszusammenhang ist erst unterbrochen, wenn die Reaktion des Betroffenen als nicht mehr durch das Gebaren des Tieres verursacht angesehen werden kann, weil sie völlig ungewöhnlich und damit durch das haftungsbegründende Ereignis nicht mehr herausgefordert ist (OLG Köln, a.a.O.; OLG Koblenz VersR 1999, S. 508). Abzustellen ist dabei auf die Bevölkerungsgruppe, der der Verletzte angehört, insbesondere bei Kindern, Kranken oder sehr alten Menschen kann bereits das Anbellen durch einen Hund adäquat kausal für eine zum Schaden führende Schreckreaktion sein (Belling/Eberl-Borges, a.a.O., Rn. 26). Der Zurechnungszusammenhang ist auch nicht unterbrochen, wenn zwar das tierische Verhalten, das Auslöser für die Schreckreaktion gewesen ist, nicht mehr anhält, die Schrecksituation selbst aber noch nachwirkt (BGH NJW 1999, S. 3119, zum Sturz eines durch das Verhalten des Pferdes verunsicherten Reitanfängers, nachdem das Pferd bereits zum Stehen gekommen war; Belling/Eberl-Borges, a.a.O., Rn. 24; Spindler, a.a.O., Rn. 11).
Vorliegend ist der Sturz der Geschädigten durch ein der spezifischen Tiergefahr des Hütehundes des Beklagten zuzurechnendes Verhalten verursacht worden. Dabei kann dahinstehen, ob sich das Geschehen wie von der Klägerin geschildert oder entsprechend den Angaben des Beklagten zugetragen hat. Soweit die Geschädigte - wie von der Klägerin behauptet - zu Fall gekommen ist, weil sie der Hund des Beklagten angesprungen hat, ist eine Schadensverursachung durch den Hund wie auch - durch das Anspringen - eine Verwirklichung der Tiergefahr offensichtlich. Auch die Darstellung des Geschehens durch den Beklagten führt nicht zu einer Unterbrechung des Haftungszusammenhangs. So hat der Beklagte eingeräumt, dass der Hund - bei dem es sich um einen ausgewachsenen Schäferhund handelt - in Richtung der Geschädigten gelaufen ist und sich dieser bis auf eine Entfernung von ca. drei Metern genähert hat. Erst in diesem Augenblick will der Beklagte eingeschritten sein und den Hund zurückgerufen haben. Das unkontrollierte Annähern eines ausgewachsenen Schäferhundes bis auf einen Abstand von drei Metern ist jedoch durchaus geeignet eine Schreckreaktion bei einem Radfahrer hervorzurufen, umso mehr wenn der Radfahrer - wie die Geschädigte - das 78. Lebensjahr bereits vollendet hat. Der Zurechnungszusammenhang zwischen der insoweit realisierten Tiergefahr und dem Erschrecken wird auch nicht dadurch unterbrochen, dass der Hund nach Darstellung des Beklagten das Hofgelände nicht verlassen hat und der Beklagte selbst auf dem Gelände zu sehen war. Da das Hofgelände im damaligen Zeitpunkt zur Strasse hin nicht eingezäunt gewesen ist und der Beklagte den Hund bis in die unmittelbare Nähe der Geschädigten hat laufen lassen, bestand keinerlei Anhaltspunkt für die Annahme, der Hund werde die Geschädigte nicht anspringen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Beklagten, die Geschädigte habe seine Hunde gekannt und auch gewusst, dass diese sich öfter frei auf dem Gelände bewegten. Hieraus lässt sich nicht ableiten, dass die Geschädigte hätte erkennen müssen, dass der Hund abstoppen würde, bevor er sie erreichte. Tatsächlich ist die Annäherung des Hundes auch erst durch das Einschreiten des Beklagten beendet worden. Der Kausalzusammenhang zwischen der Annäherung des Hundes und dem Sturz der Geschädigten ist auch nicht dadurch unterbrochen, dass die Geschädigte - nach Darstellung des Beklagten in seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht - noch eine Strecke von fünf bis sechs Metern weitergefahren ist, bevor sie angehalten hat und bei dem Versuch abzusteigen gestürzt ist. Unzweifelhaft stand das weitere Fahrverhalten der Geschädigten mit dem vorangegangenen Vorfall in Zusammenhang, insbesondere ist kein anderer Grund für ein Anhalten der Geschädigten ersichtlich, als die in unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehende Annäherung des Hundes. Das Anhalten eines Radfahrers nach einer vorangegangenen bedrohlichen Situation stellt auch keine überzogene Reaktion dar, sei es um sich von dem Schreck zu erholen, sei es um den Tierhalter zur Rede zu stellen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang ferner, ob die Geschädigte zuvor tatsächlich dem Beklagten zugerufen hat, der Vorfall sei nicht so schlimm gewesen, wie der Beklagte erstmals im Rahmen seiner Anhörung vor dem Senat behauptet hat. Schließlich ist der Haftungszusammenhang weder unter dem Gesichtspunkt der Adäquanz zu verneinen noch liegt er außerhalb des Schutzbereichs der Norm. Dass ein älterer Mensch nachdem er einen Schreck erlitten hat, bei dem Versuch sein Fahrrad anzuhalten, stürzt, ist keineswegs unwahrscheinlich. Auch bezweckt § 833 BGB einen umfassenden Schutz vor den Auswirkungen der Tiergefahr, die vorliegend für die Verletzungen der Geschädigten ursächlich war.
Der Beklagte hat den Entlastungsbeweis nach § 833 S. 2 BGB nicht geführt. Die Anforderungen an die Aufsichtspflicht des Tierhalters richten sich nach dem Gefahrenpotential des Tieres sowie den bedrohten Rechtsgütern; dabei ist insbesondere für eine Sicherung des auf angrenzenden öffentlichen Wegen stattfindenden Verkehrs zu sorgen (BGH VersR 1962, S. 807; Spindler, a.a.O., Rn 30). Selbst ein harmloser und gutmütiger Wachhund darf nicht ohne besondere Beaufsichtigung gelassen werden, wenn er Dritten allein schon durch seine Größe und sein Gewicht gefährlich werden kann (Belling/Eberl-Borges, a.a.O., Rn. 166). Vorliegend war eine hinreichende Beaufsichtigung nicht gegeben, wie sich schon daran zeigt, dass der Hund des Beklagten sich bis auf drei Meter der Geschädigten nähern konnte, bevor der Beklagte einschritt, also eine Schreckreaktion nicht verhindert wurde. Hinzu kommt - wie vom Landgericht zutreffend ausgeführt -, dass das Besitztum des Beklagten entgegen § 1 Abs. 1 HundehalterVO Brandenburg gegen ein unbeabsichtigtes Entweichen des Hundes nicht angemessen gesichert war. So fehlte jegliche Einzäunung des Gehöftes, obwohl sich die Hunde nach den eigenen Angaben des Beklagten häufiger frei dort bewegten und mit ihnen gearbeitet wurde. Selbst wenn dem Beklagten zuzugeben ist, dass es für einen Schäfer nur schwer realisierbar ist, einen Hütehund während der Arbeit angeleint zu halten, entlastet ihn dies nicht von anderen Sicherungsvorkehrungen, etwa der Abzäunung des Gehöftes gegenüber der Straße. Insoweit können etwaige Einschränkungen für den Beklagten, die darauf beruhen, dass sein Gehöft sich auf beiden Seiten der Straße erstreckt, nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Auch die nicht weiter spezifizierten Angaben des Beklagten, eine Einzäunung des Gehöftes sei vor dem hier gegenständlichen Vorfall am Widerstand von Teilen des Gemeinderats gescheitert, führen nicht zu seiner Entlastung. Der Beklagte hat schon nicht vorgetragen, welche Maßnahmen von ihm beabsichtigt waren und inwieweit er an der Umsetzung gehindert wurde. Zudem sind derartige Schwierigkeiten nicht geeignet die Sicherungspflichten des Beklagten gegenüber Dritten einzuschränken.
Der Geschädigten fällt auch ein Mitverschulden nicht zur Last. Allein aus dem Umstand, dass die Geschädigte gestürzt ist, folgt ein Fehlverhalten nicht, zumal - die Darstellung des Beklagten unterstellt - eine Fortwirkung des durch die Annäherung des Hundes ausgelösten Schrecks gegeben ist. Auch der Beklagte hat ein Fehlverhalten nicht konkret behauptet und unter Beweis gestellt. Allein die Spekulation, der Sturz könne im Zusammenhang mit dem hohen Alter der Geschädigten stehen, ist schon wegen des engen zeitlichen Zusammenhangs zu der Annäherung des Hundes nicht geeignet, ein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Die vom Beklagten vorgetragene Kenntnis der Geschädigten, dass sich die Hunde teilweise frei auf dem Gelände bewegten, führt ebenfalls nicht zu einem Mitverschulden. Es ergibt sich hieraus schon nicht, dass die Geschädigte, die eine öffentliche Strasse benutzte, damit rechnen musste, dass ein Hund direkt auf sie zulaufen und erst kurz vor ihr vom Beklagten zurückgerufen werden würde. ..."