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OLG Hamm Urteil vom 11.04.2008 - 9 U 156/07 - Amtshaftung bei fehlerhafter Absicherung einzelner, dem Hauptfeld folgender Rennfahrer an einem Kreuzungsbereich
OLG Hamm v. 11.04.2008: Amtshaftung bei fehlerhafter Absicherung einzelner, dem Hauptfeld folgender Rennfahrer an einem Kreuzungsbereich
Das OLG Hamm (Urteil vom 11.04.2008 - 9 U 156/07) hat entschieden:
- Sind bei einem Straßenradrennen an einer Kreuzung zur Regelung des Verkehrs „bei Bedarf“ Polizeibeamte eingesetzt, die in der ersten Runde das Rennfeld vor dem an sich bevorrechtigten (Quer)Verkehr der übergeordneten Straße abgeschirmt haben, darf ein Rennteilnehmer auch dann in späteren Runden eine eben solche Regelung erwarten, wenn er außerhalb eines geschlossenen Feldes als Einzelfahrer den Kreuzungsbereich durchfahren will.
- Umstände, die eine solche Erwartung in Frage stellen, können ein Mitverschulden des Rennteilnehmers an einem Unfall mit einem an sich bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer begründen.
- Zur Einzel- und Gesamtabwägung im Falle der Nebentäterschaft von Unfallbeteiligten und haftenden Anstellungskörperschaften.
Siehe auch Amtshaftung im Verkehrsrecht und Weisungen von Polizeibeamten - Verkehrskontrolle
Zum Sachverhalt: Die Parteien stritten um Ersatz des hälftigen Schadens, den der Kläger am 12. Februar 2005 gegen 13:20 Uhr als Teilnehmer eines Fahrradrennens in X bei einem Zusammenstoß mit dem Pkw der Zeugin G erlitten hat.
Er warf den Polizeibeamten des beklagten Landes vor, die Unfallkreuzung I-Straße/N-Straße pflichtwidrig nicht durch Verkehrsregelung, insbesondere Vorfahrteinräumung für ihn als Rennteilnehmer, gesichert zu haben.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Dagegen sichtete sich die Berufung des Klägers, die teilweise - dem Grunde nach zur Hälfte - Erfolg hatte.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch aus § 839 I BGB i.V.m. Art 34 GG zu, weil die Polizeibeamten des beklagten Landes gegen ihre hoheitliche Amtspflicht zur Verkehrsregelung in der Unfallkreuzung schuldhaft verstoßen haben (I.). Jedoch muss sich der Kläger ein Mitverschulden gemäß § 254 BGB entgegenhalten lassen (II.), weshalb sich seine Forderung aufgrund der Gesamtabwägung der Verursachungsbeiträge aller Unfallbeteiligten und unter Beachtung von § 839 I S. 2 BGB auf den als Hauptforderung zuerkannten Betrag verringert (III.).
I. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz bestand hier eine Pflicht der vom Beklagten eingesetzten Polizeibeamten C und N3 zur Verkehrsregelung an der Unfallkreuzung, und zwar des Inhalts, den Rennteilnehmern abweichend von der Beschilderung die Vorfahrt zu gewähren. Die Richtigkeit der Behauptung des Klägers ergibt sich schon aus der Stellungnahme des Beamten C Bl. 7 EA, der sich der Beamte N3 Bl. 8 EA angeschlossen hat: Danach wurde der Verkehr auf der Unfallkreuzung durch die Polizei verkehrsbedingt geregelt, wobei „bei Bedarf“ der Pkw-Verkehr auf der - sonst übergeordneten - N-Straße angehalten wurde, damit die aus der - sonst untergeordneten I kommenden - Radfahrer die N überqueren konnten. Auch nach der mündlichen Aussage des Zeugen C vor dem Amtsgericht Bl. 26 CA wollten die Beamten ankommende Rennteilnehmer „möglichst durchfahren“ lassen. Genauso ist es unstreitig bei der vorhergehenden Durchfahrt des Rennfeldes mit dem Kläger geschehen. Danach durfte der Kläger jedenfalls zunächst davon ausgehen, dass auch seine letzte Durchfahrt - zudem unmittelbar vor dem Zieleinlauf - ebenso durch polizeiliche Regelung der Vorfahrt gesichert werden würde, unabhängig davon, ob er als Einzelfahrer oder im Feld ankam. In allen Fällen erforderte die allein zweckentsprechende Bedarfsverkehrsregelung, dass auch Einzelfahrern die vorrangige, sichere Passage ermöglicht wurde. Bei „Bedarf“ hieß hier: Immer wenn ein Rennteilnehmer die Kreuzung passierte und Fahrzeuge auf der übergeordneten Straße herannahten. In diese Regelungsaufgabe fügt sich auch, dass der Polizeiwagen mit Blaulicht die Kreuzung zu einer Seite der sonst bevorrechtigten Straße hin abschirmte. Demgegenüber vermag auch der Beklagte, der diese Verkehrsregelungsaufgabe in Abrede stellt, nicht zu sagen, zu welchem Zweck sonst die Beamten, die keineswegs „zufällig“ an der Kreuzung standen, sich dort aufhielten.
Dass die Rennregeln die Geltung der StVO anordneten, hatte nur subsidiäre Bedeutung. Soweit an einer Kreuzung auf der Strecke eine Regelung durch Polizeibeamte erfolgte, ging diese auch nach der StVO der Beschilderung vor. Hier fehlte zwar bei der Annäherung des Klägers die polizeiliche Regelung, nach der Rennorganistion und den Erfahrungen seiner vorausgegangenen Passage durfte er sie aber - im Sinne seiner Vorfahrt - erwarten.
Die Polizeibeamten haben, ohne dass entlastende Momente vorgetragen sind, gegen ihre Pflicht zur Abschirmung des Rennverkehrs auf der Kreuzung verstoßen, indem sie vorübergehend ihre Aufmerksamkeit auf etwas Anderes richteten. So kam das Handzeichen zu spät, wie die Aussage des Zeugen C Bl. 26 CA erweist, der unfallbeteiligte Pkw sei nur noch anderthalb Fahrzeuglängen vom Kollisionspunkt entfernt gewesen, als er, C, den Kläger herankommen sah.
II. Gegenüber dieser Amtspflichtverletzung ist ein - eingeräumtes - Mitverschulden des Klägers abzuwägen. Er hätte, als er sehen konnte, dass seine Strecke an der Kreuzung nicht durch Polizeibeamte in regelrechter Grundstellung (§ 36 I StVO) seitlich abgesichert wurde, auch nach den Rennregeln die Vorfahrt der Fahrzeuge von der N-Straße/Bahnhofstraße her beachten müssen. In der gegebenen Situation hätte der Kläger dem Heben des Arms durch den Beamten C, obwohl es nicht vollständig und in der üblichen Weise ausgeführt wurde, ein Gefahrensignal für seine eigene Fahrt entnehmen können. Er hätte noch rechtzeitig anhalten können, wie er bei seiner Anhörung durch den Senat bekundet hat.
III. a) Da der Polizeibeamte und die Pkw-Führerin durch zwei selbständige Einzelhandlungen den schädlichen Erfolg herbeigeführt haben, ist hinsichtlich ihrer zunächst in Einzelabwägung zu bemessenden Haftung sodann eine Gesamtschau vorzunehmen. Haben mehrere Nebentäter, ohne eine Haftungseinheit zu bilden, durch verschiedene selbständige Handlungen einen Schaden herbeigeführt und nimmt der Geschädigte sie - wie hier - sämtlich in Anspruch, sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur kombinierten Einzelabwägung und Gesamtschau anzuwenden (vgl. dazu Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 25 Aufl. Kap. 2 Rz. 25 ff m.w.N.).
b) Die Polizeibeamten und Pkw-Führerin bilden keine Haftungseinheit im eigentlichen Sinn, denn ihre Ursachenbeiträge haben sich nicht in ein und demselben unfallbedingenden Umstand ausgewirkt, der dann erst mit dem Ursachenverlauf zusammengetroffen wäre, der dem Kläger zuzurechnen ist.
c) 1. Eine Einzelabwägung im Verhältnis Kläger: Pkw-Halter hat das Landgericht Arnsberg in dem Rechtsstreit 5 S 68/06 mit abgewogener Begründung bereits mit 75: 25 getroffen. Daran ist der Senat zwar nicht gebunden, weil dieses Urteil keine Rechtskraftwirkung gegenüber dem hiesigen Beklagten entfaltet. Der Senat schließt sich aber aus eigener Überzeugung dieser Haftungsverteilung an.
2. Im Verhältnis Kläger: Polizeibeamte ist das Verschulden gleich stark zu gewichten, so dass sich bei dieser Einzelabwägung das Verhältnis 50: 50 ergibt.
3. In der Gesamtschau wiegt der Verursachungsbeitrag der Polizeibeamten genau so schwer wie der des Klägers, dessen Beitrag wiederum dreimal so schwer wiegt wie der des Pkw-Halters. Das führt zu einem Haftungsverhältnis von 3: 3: 1, d.h., dass auf den Beklagten und den Kläger jeweils drei Siebtel und auf den Pkw-Halter ein Siebtel des Schadens entfallen. Dass der Kläger hiernach insgesamt mit 4/7 mehr bekommt als wenn ihm nur der Beklagte zu 50 % haftete, ist bei Beteiligung mehrerer Nebentäter gerade das Ziel der Gesamtschau, vgl. Knerr a.a.O. Rz. 25.
Dass hier in dem Klagebetrag auch noch ein mit 500 € (bei 100 % Haftung) zur Höhe unstreitiges Schmerzensgeld steckt, bei dessen Bemessung die Kombination von Einzelabwägung und Gesamtschau grundsätzlich nur eingeschränkt anwendbar ist (vgl. OLG Düsseldorf in OLGR 1994, 216), kann vorliegend vernachlässigt werden. Eine andere „billige“ Bemessung ergibt sich hier - wie auch im Fall des OLG Düsseldorf - nicht.
Danach hätte der Kläger hier vom beklagten Land 1 325,87 € (= 3/7) zu bekommen. Da ihm gegenüber dem Pkw-Halter jedoch schon 792,18 € (1/4) zugesprochen wurden und beide Schädiger zusammen nur auf 1 767,83 € (4/7) haften, wäre prinzipiell zur Abgrenzung von Gesamtschuld und den jeweiligen Einzelschulden von der Schuld des Beklagten noch der Anteil abzuziehen, den der Pkw-Halter mit „seinem“ Viertel über „sein“ Siebtel hinaus, also auf den Gesamtschuldanteil, erbringt.
4. Diese Abgrenzungsberechnung erübrigt sich indes im vorliegenden Fall, weil sie durch § 839 I S. 2 BGB verdrängt wird, wonach der Geschädigte von dem Beamten bzw. seiner Anstellungskörperschaft Schadensersatz nur verlangen kann, soweit er keine andere Ersatzmöglichkeit hat. Dies führt dazu, dass sich der Kläger von den als Schadensersatz zu beanspruchenden 1 767,83 € die gesamte von dem Pkw-Halter regressierte Summe von 792,18 abziehen lassen muss. Somit verbleibt der zuerkannte Betrag von 975,65 € zzgl. der gemäß §§ 286 I, 288 I BGB zu beanspruchenden Zinsen. ..."