Das Verkehrslexikon

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OLG Hamm (Beschluss vom 26.02.2007 - 4 Ss OWi 146/07 - Zum Umfang der Pflichten eines Lkw-Fahrers zur Bremskontrolle vor Fahrtantritt

OLG Hamm v. 26.02.2007: Zur fahrlässigen Überladung eines Lkw und zum Umfang der Bremskontrollen vor Fahrtantritt


Das OLG Hamm (Beschluss vom 26.02.2007 - 4 Ss OWi 146/07) hat entschieden:
  1. Der Führer eines Sattelzuges handelt hinsichtlich einer Überladung des Fahrzeugs fahrlässig und nicht mit bedingtem Vorsatz, wenn er die ihm übergebene Wiegekarte vor Fahrtantritt nicht einsieht.

  2. Ein Kraftfahrzeugführer muss sich grundsätzlich vor Fahrtantritt von der Vorschriftsmäßigkeit und Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs überzeugen, wobei die Sorgfaltsanforderungen nicht überspannt werden dürfen. Ein Lastzugführer ist in Bezug auf die Bremsen allenfalls gehalten, vor Fahrtantritt Bremsproben zu machen, was angesichts der heute regelmäßig vorhandenen elektronischen Überwachungseinrichtungen für Bremsanlagen in Lastkraftfahrzeugen allerdings auch nicht mehr uneingeschränkt gelten kann.

Siehe auch Bremsen - Bremsanlage - Mängel - Kontrolle der Bremsen und Stichwörter zum Thema Transportrecht - Frachtverrtragsrecht - Güterkraftverkehr


Zum Sachverhalt:

Durch das angefochtene Urteil ist der Betroffene wegen "fahrlässiger Inbetriebnahme eines LKWs mit mangelhaften Bremsen und vorsätzlicher Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichts um 3,38%" zu einer Geldbuße von 300,00 Euro verurteilt worden.

Das Amtsgericht hat zum objektiven Geschehensablauf folgende Feststellungen getroffen:
"Der Betroffene befuhr am 15.04.2006 gegen 05:00 Uhr in F die BAB A 445 mit einem Sattelzug mit Anhänger, amtliches Kennzeichen HU - F ...7. Das Fahrzeug wies erhebliche Mängel auf, wodurch die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt wurde. Der Bremsmantel (Bremsscheibe vorne) war gerissen. Darüber hinaus war die Fahrzeugkombination um 1.350 kg (3,38%) überschritten. Das festgestellte Gesamtgewicht betrug dementsprechend 41.350 kg, wogegen das zulässige Gesamtgewicht lediglich 40.000 kg beträgt."
Hiergegen richtete sich die form- und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die in zulässiger Weise mit verschiedenen Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge begründet worden ist.

Das Rechtsmittel hatte - vorläufigen - Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Dem zulässigen Rechtsmittel ist ein jedenfalls vorläufiger Erfolg nicht zu versagen.

1. Dem angefochtenen Urteil ist schon nicht klar zu entnehmen, ob das Gericht von tateinheitlicher oder tatmehrheitlicher Begehungsweise ausgegangen ist. Ausführungen dazu fehlen in den Urteilsgründen. Während die Verhängung nur einer Geldbuße für die Annahme von Tateinheit spricht, legt die Abfassung des Tenors ("und") Tatmehrheit nahe. Tatsächlich sind die beiden Ordnungswidrigkeitentatbestände tateinheitlich begangen worden (vgl. Hentschel, StVR, 37. Auflage, § 41 StVZO Rdnr. 27), so daß die Rechtsbeschwerde insgesamt statthaft ist.

2. Einen durchgreifenden Rechtsfehler stellt dar, daß sich Tenor und Urteilsgründe hinsichtlich der Schuldform teilweise schon nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Die Wertung des Gerichts in den Urteilsgründen als jeweils vorsätzlich begangene Ordnungswidrigkeiten hält zudem der sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht Stand.

a) Während das Amtsgericht den Betroffenen wegen "fahrlässiger Inbetriebnahme eines LKWs mit mangelhaften Bremsen und vorsätzlicher Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichts um 3,38%" verurteilt hat, führt es in den Urteilsgründen aus, der Betroffene habe sich "damit zur Überzeugung des Gerichts eines vorsätzlichen Verstoßes gemäß der im Tenor genannten Vorschriften schuldig gemacht". Im Weiteren wird ausgeführt, daß der Betroffene hinsichtlich beider Bußgeldtatbestände zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe.

b) Soweit das Amtsgericht die Einlassung des Betroffenen, er habe nicht auf die beigeführte Wiegekarte geschaut und deshalb versehentlich überladen die Fahrt angetreten, als widerlegt angesehen hat und insoweit jedenfalls vom Vorliegen bedingten Vorsatzes (richtig: dolus eventualis, nicht Solus eventualis) ausgegangen ist, hält dies der sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht Stand.

Das Amtsgericht hat insoweit ausgeführt:
"Hinsichtlich der nicht Einsichtnahme in die mitgeführte Wiegekarte erscheint schon seine Einlassung unglaubwürdig. Ein Berufskraftfahrer, wie der Betroffene, würde wohl kaum eine Fahrt antreten und darauf verzichten, auf die mitgeführte Wiegekarte einen Blick zu werfen. Falls dies tatsächlich so gewesen sein sollte, handelte es sich gleichwohl um eine Vorsatztat, da der Betroffene mindestens billigend in Kauf nahm, dass sein Fahrzeug überladen ist. Es ist die selbstverständliche Übung und Pflicht eines Berufskraftfahrers vor Fahrtantritt festzustellen, ob eine Überladung vorliegt. Der Verzicht auf die Einsichtnahme einer mitgeführten Wiegekarte erscheint dem Gericht als eine erhebliche Dreistigkeit und der Betroffene weiß oder muss wissen, dass er damit möglicherweise mit einem überladenen Fahrzeug seine Fahrt antritt (Dolus eventualis)."
Die gerichtliche Annahme, ein Berufskraftfahrer wie der Betroffene würde wohl kaum vor Fahrtantritt darauf verzichten, auf eine mitgeführte Wiegekarte zu schauen, stellt - jedenfalls nach den bisherigen Feststellungen und Erwägungen - eine durch nichts gestützte Spekulation des Gerichts dar, die nicht geeignet ist, die Einlassung des Betroffenen zu widerlegen. Das Amtsgericht hat weder verwertbare Feststellungen zur üblichen Sorgfalt des Betroffenen noch zur Sorgfalt in diesem speziellen Fall getroffen. Es ist auch nicht ermittelt worden, unter welchen näheren Umständen der Betroffene die Wiegekarte erhalten hat. Das Gericht hätte zudem bedenken müssen, daß sich aus der Wiegekarte ein Gesamtgewicht von 41.350 kg ergeben hat und die nach Ansicht des Amtsgerichts daraus resultierende Überladung von 1.350 kg bzw. 3,38% damit nur gering und jedenfalls wohl kaum augenscheinlich war. Bei dieser Sachlage erscheint es durchaus denkbar, daß gerade ein erfahrener Kraftfahrer nach Schätzung des Gewichts der Ladung als sicher davon ausging, sein Fahrzeug sei nicht überladen und deshalb von der Einsichtnahme in die Wiegekarte abgesehen hat. Falls der Betroffene tatsächlich ein überladenes Fahrzeug geführt haben sollte, was nach den bisher getroffenen Feststellungen allerdings noch nicht belegt ist, wäre allerdings schon deshalb von Fahrlässigkeit auszugehen, weil dem Betroffenen die Wiegekarte übergeben worden war. In der neuen Hauptverhandlung dürfte allerdings zunächst noch zu ermitteln sein, in welcher Höhe ein angemessener Abzug vom festgestellten Wägeergebnis für eventuelle Meßtoleranzen zugunsten des Betroffenen zu berücksichtigen ist. Das ist, sollte ordnungsgemäß eine geeichte Waage verwendet worden sein, die Verkehrsfehlergrenze als das Doppelte der Eichfehlergrenze (vgl. z.B. BayObLG, NStZ-RR 2001, 183; OLG Koblenz, DAR 2006, 341).

c) Auch die Verurteilung des Betroffenen wegen vorsätzlichen Führens des Lkw mit wesentlichen Mängeln an den Bremsen gemäß §§ 30, 41, 69 a Abs. 3 Nr. 1 StVZO ist nicht frei von durchgreifenden Rechtsfehlern, denn die Annahme eines vorsätzlichen Verstoßes hat das Amtsgericht nicht rechtsfehlerfrei aus dem Beweisergebnis hergeleitet und wirkt jedenfalls objektiv willkürlich.

Das Amtsgericht hat hierzu ausgeführt:
"Das Gericht geht weiter davon aus, dass auch die zuerst genannte Tat, nämlich ein Fahrzeug mit Mängel geführt zu haben, vorsätzlich im Sinne des Solus eventualis geschehen ist. Gerade weil der Betroffene wusste, dass Bremsscheiben vor Fahrtantritt durch die Löcher in den Felgen zu kontrollieren sind, ist es unverständlich, dass der Betroffene offenbar zu bequem war, sein Fahrzeug ein Stück vorzurücken und nochmals die Bremsscheiben zu kontrollieren, um so die gesamte Bremsscheibe auf Mängel zu untersuchen.

Dem Betroffenen war auch bewusst, dass er nur einen Teil der Bremsscheibe bei dem stehenden Fahrzeug nur übersehen konnte. Offenbar war der Betroffene zu bequem um sein Fahrzeug kurz vorzurücken und nochmals die Bremsscheiben zu kontrollieren. Dies wäre aber eine ihm erkennbare und auch bewusste Pflicht gewesen. Der Betroffene hat so billigend in Kauf genommen, dass er mit einem Riss in einer Bremsscheibe seine Fahrt antritt."
Soweit das Amtsgericht in diesem Zusammenhang davon ausgeht, ein Fahrer habe - offenbar vor jedem - Fahrtantritt die Bremsscheiben durch ggfls. mehrmaliges Vorrücken abschnittsweise zu kontrollieren, werden schon die Sorgfaltsanforderungen an einen Lastzugfahrer bei weitem überspannt. Richtig ist zwar, daß sich ein Fahrer vor Fahrtantritt von der Vorschriftsmäßigkeit und Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs überzeugen muß. Lastzugführer sind jedoch allenfalls gehalten, vor Fahrtantritt Bremsproben zu machen (vgl. Hentschel, StVR, 37. Auflage, § 23 StVO Rdnr. 25 mit Nachweisen aus älterer Rechtsprechung), wobei der Senat offenläßt, ob diese Anforderungen angesichts der heute regelmäßig vorhandenen elektronischen Überwachungseinrichtungen für Bremsanlagen in Lastkraftfahrzeugen überhaupt noch uneingeschränkt aufrecht zu erhalten sind. Die Begründung des Amtsgerichts für das Vorliegen bedingten Vorsatzes ist indes jedenfalls völlig unhaltbar und objektiv willkürlich. Die Erwägungen des Amtsgerichts, wenn sie denn zutreffend gewesen wären, rechtfertigen allenfalls die Annahme grober Fahrlässigkeit.

3. Die getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts belegen aber auch in objektiver Hinsicht nicht die schuldhafte Inbetriebnahme eines Lkw mit mangelhaften Bremsen. Ob es sich bei dem festgestellten Riß an der vorderen Bremsscheibe um einen - wie erforderlich - die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigenden Mangel handelte, kann schon deshalb nicht beurteilt werden, weil das Amtsgericht keine näheren Feststellungen zu diesem Riß gemacht hat. Hinzu kommt, daß das Amtsgericht insoweit zu Unrecht mehrere Beweisanträge des Betroffenen zurückgewiesen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift an den Senat vom 20. Februar 2007 insoweit zutreffend ausgeführt:
"Hinsichtlich des Verstoßes gegen § 30 StVZO hat das Amtsgericht die Beweisanträge des Betroffenen zu Unrecht abgelehnt und eine weitere Sachaufklärung insoweit zu Unrecht unterlassen. In den Urteilsgründen ist lediglich festgestellt, dass der Bremsmantel (Bremsscheibe vorne) gerissen gewesen sei, wodurch die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt worden sei. Der Mangel ist in dem Urteil jedoch nicht näher beschrieben worden. Insbesondere enthält das Urteil nicht ansatzweise Ausführungen zu den Angaben der vernommenen Zeugin im Zusammenhang mit dem festgestellten Mangel. Mangels konkreter Feststellungen zum Ausmaß des Mangels ist eine Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit unter Zugrundelegung der Urteilsfeststellungen jedenfalls nicht ohne Weiteres anzunehmen. Auch hat sich das Amtsgericht weder in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss noch im Urteil mit der Behauptung des Betroffenen auseinandergesetzt, der Mangel könne auch erst nach der üblichen Abfahrtkontrolle aufgetreten sein und ein Mangel sei für ihn aufgrund des guten Zustandes der Bremsscheibe zuvor gar nicht erkennbar gewesen. Inwieweit die Aussage der vernommenen Zeugin gegenteilige Schlüsse zulassen könnte, bleibt mangels Wiedergabe ihrer Angaben offen."
4. Schließlich halten - selbst isoliert betrachtet - die Erwägungen des Amtsgerichts zur Höhe der verhängten Geldbuße der Rechtskontrolle nicht Stand. So fehlen bereits die bei derartigen Geldbußen zwingend erforderlichen Feststellungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen völlig. Zwar sind an die Urteilsgründe in Ordnungswidrigkeitenverfahren keine hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081; siehe auch die weiteren Nachweise bei Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 71 Rn. 42), gleichwohl sind von Gesetzes wegen Ausführungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nur bei geringfügigen Geldbußen entbehrlich. Deren Grenze ist jedenfalls bei Geldbußen von mehr als 250,00 Euro nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung überschritten (für eine Grenze von: 200,00 DM vgl. OLG Düsseldorf, NZV 2000, 51; für 250,00 DM vgl. OLG Hamm, 5. Senat, NZV 2001, 177; für 300,00 DM vgl. OLG Hamm, 3. Senat, DAR 1998, 151 = MDR 1998, 466 = NZV 1998, 214 = zfs 1998, 276 = VRS 95, 38; für 400,00 DM vgl. OLG Hamm, 4. Senat, Beschlüsse vom 25. Mai 2000 - 4 Ss OWi 358/00 - und vom 1. August 2000 - 4 Ss OWi 695/00 -; für 500,00 DM vgl. OLG Düsseldorf, VRS 99, 131 = DAR 2000, 534 = VM 2000, 84; für 250,00 Euro vgl. Saarländisches OLG, BA 2004, 173; Thüringer OLG, VRS 108, 269 und VRS 110, 443; OLG Köln DAR 2005, 699; OLG Hamburg NZV 2004, 269 = NJW 2004, 1813 = NStZ 2004, 350 = BA 2005, 484 sowie Senat, Beschluß vom 2. Februar 2005 - 4 Ss OWi 54/05 -). Allein der Umstand, daß der Betroffene zur Tatzeit Berufskraftfahrer war, reicht insoweit nicht aus.

Auch die konkrete Bemessung der Geldbuße kann nach den bisherigen Feststellungen nicht nachvollzogen werden. Die Bußgeldbehörde hatte in Anlehnung an Nrn. 198.1.1 und 214 BKatV eine Geldbuße von 80,00 Euro festgesetzt, wobei die Bußgeldkatalogverordnung für die Überladung (Nr. 198..1.1) eine Regelgeldbuße von 30,00 Euro und für die die Verkehrssicherheit wesentliche beeinträchtigende Inbetriebnahme eines Fahrzeugs mit Mängeln an den Bremsen (Nr. 214) eine Geldbuße von 50,00 Euro vorsieht. Eine gleichhohe Geldbuße ist nach Nr. 108 BKatV vorgesehen, wenn ein Fahrzeugführer nicht dafür gesorgt hat, dass das Fahrzeug vorschriftsmäßig und dadurch die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt war. Die für sich genommen äußerst geringe Überladung des Zuges dürfte die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, die durch den Defekt an den Bremsen bewirkt worden sein könnte, wohl kaum in nennenswertem Umfang erhöht haben. Insoweit ist - selbst unter Berücksichtigung der tateinheitlich begangenen Überladung (vgl. § 19 Abs. 2 OWiG) - eine Versechsfachung der Regelgeldbuße nicht nachvollziehbar und kaum zu rechtfertigen. Jedenfalls hätte die Verhängung einer derartig hohen Geldbuße zuvor entsprechender sachverständig untermauerter Feststellungen zum besonders hohen Grad der Gefährdung bedurft.

III.

Der Senat hat es abweichend von der üblichen Handhabung für erforderlich gehalten, die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Soest zurückzuverweisen, zumal sonst einem eventuellem Befangenheitsantrag der Erfolg wohl kaum zu versagen wäre. Der neue Richter wird auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu befinden haben, da der Erfolg des Rechtsmittels noch nicht feststeht. ..."