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OLG Celle Beschluss vom 12.06.2009 - 311 SsRs 54/09 - Zur Stellung des Antrags auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen erst zu Beginn der Hauptverhandlung
OLG Celle v. 12.06.2009: Zur Stellung des Antrags auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen erst zu Beginn der Hauptverhandlung
Das OLG Celle (Beschluss vom 12.06.2009 - 311 SsRs 54/09) hat entschieden:
Ein Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG kann noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden.
Siehe auch Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen und Bußgeldverfahren / Ordnungswidrigkeitenverfahren
Entscheidungsgründe:
"1. Mit Urteil des Amtsgerichts N. vom 9. Februar 2009 wurde der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde – Region H. ‚Team‘ Ordnungswidrigkeiten – vom 12. August 2008 nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der Begründung verworfen, der ordnungsgemäß geladene, von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene Betroffene sei ohne ausreichende Gründe der Hauptverhandlung ferngeblieben. Der in der Hauptverhandlung gestellte Entbindungsantrag sei zu spät gestellt worden. Das Amtsgericht hatte mit dieser Begründung den in der Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrag abgelehnt.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner als Zulassungsantrag gestellten Rechtsbeschwerde, die er zwar nicht ausdrücklich, der Sache nach aber erkennbar auf die Verletzung formellen Rechts stützt. Mit seiner Verfahrensrüge macht er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend, wobei er sein Rechtsmittel namentlich auf die Auffassung stützt, das Amtsgericht habe den in der Hauptverhandlung erst gestellten Entbindungsantrag nicht als verspätet ablehnen dürfen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, nach Zulassung der Rechtsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht N. zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Auch sie sieht eine Verletzung rechtlichen Gehörs für gegeben.
2. Die zur Entscheidung zugelassene Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg. Das angefochtene Urteil konnte keinen Bestand haben. Mit seiner in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge hat der Betroffene zu Recht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör im Sinne von § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, Art. 102 Abs. 1 GG geltend gemacht.
a) Die Generalstaatsanwaltschaft hat im Rahmen ihrer Zuschrift hierzu ausgeführt:
„1. Die Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs ist gem. §§ 80 Abs. 3 S. 1, 79 Abs. 4 OWiG, §§ 341, 345 StPO fristgerecht erhoben und genügt meines Erachtens den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, der auch auf diese Rüge Anwendung findet (vgl. OLG Köln NStZRR 1998, 345. OLG Hamm, StraFo 2006, 425. Senge in: KKOWiG, 3. Auflage, § 80 Rdnr. 41b, 42 m.w.N.).
Eine Verwerfung des Einspruchs, die unter Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG erfolgt ist, verletzt dann den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie dazu geführt hat, dass eine sachliche Einlassung des Betroffenen unberücksichtigt geblieben ist ( KG Berlin NZV 2003, 586). Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und wird daraufhin der Einspruch des Betroffenen durch Urteil gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, so kann die Einspruchsverwerfung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzen, wenn einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zu persönlichem Erscheinen nicht entsprochen worden ist ( OLG Hamm, StraFo 2006, 425).
Die die Gehörsverletzung begründenden Tatsachen hat der Betroffene in der Begründung seines Zulassungsantrages vorgetragen. Er hat nicht nur Zeitpunkt und Begründung seines Entbindungsantrages sowie die Entscheidung des Amtsgerichtes dargestellt (Bl. 109 d.A.), sondern auch den genauen Tatvorwurf (Bl. 108 d.A.) und im Wesentlichen dessen Beweislage (Bl. 108, 113 d.A.) darlegen lassen. Schließlich enthält der Antrag sogar eine substantiierte Darlegung dessen, was der Betroffene bzw. sein Verteidiger im Fall seiner Anhörung in der Hauptverhandlung zur Sache vorgebracht hätten.
2. Darüber hinaus ist die Nachprüfung des Urteils auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Fortbildung des Rechts geboten. Bei der vom Amtsgericht ablehnend entschiedenen Rechtsfrage, ob ein Entbindungsantrag noch in der Hauptverhandlung gestellt werden kann, handelt es sich die Auslegung einer entscheidungserheblichen Norm von erheblicher praktischer Bedeutung, die obergerichtlich noch nicht einheitlich entschieden wurde. Im Falle einer Fehlentscheidung in erster Instanz sind wegen der daraus resultierenden Verletzung des rechtlichen Gehörs erhebliche Eingriffe in die Rechte des Betroffenen zu verzeichnen.
III.
Ich halte den Zulassungsantrag auch für begründet, weil die Verfahrensweise des Amtsgerichts den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt hat. Diese Verletzung ergibt sich bereits daraus, dass das Amtsgericht dem Entbindungsantrag des Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG nicht stattgegeben hat, obwohl dieser rechtzeitig gestellt worden ist.
Der Antrag war durch den Verteidiger aufgrund einer entsprechend umfassenden. im Hauptverhandlungstermin vorgelegten Originalvollmacht (Bl. 71 d.A.) zulässigerweise noch zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt worden.
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob der Betroffene den Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 Abs. 2 OWiG auch noch zu Beginn der Hauptverhandlung nach Aufruf der Sache durch seinen Verteidiger stellen kann, wenn noch nicht zur Sache selbst verhandelt worden ist.
Eine Auffassung in der Literatur (Seitz in: Göhler, OWiG, 14. Auflage, § 73 Rn. 4) sieht nur einen vor der Hauptverhandlung eingegangenen Antrag auf Entbindung als zulässig an.
Die überwiegende Auffassung hält einen solchen Antrag für zulässig (offen gelassen von BGH VRS 103, 383. OLG Hamm, StraFo 2006, 425, OLG Brandenburg ZfSch 2004, 235. OLG Naumburg ZfSch 2002, 595 (596). Senge in KKOWiG, 3. Aufl., § 73 Rn. 19. offen gelassen von OLG Köln NZV 1999, 436. VRS 1997, 187. VRS 1995, 429 und OLG Karlsruhe, NZV 2000, 50, das zu dieser Ansicht neigt).
Die erstgenannte Auffassung verweist auf den Wortlaut des § 74 Abs. 2 OWiG (Seitz a.a.O.). Diese Begründung überzeugt allerdings nicht.
Die überzeugende Gegenansicht zieht zur Begründung die Gesetzesmaterialien zur Neufassung des § 73 OWiG heran (OLG Hamm a.a.O., OLG Naumburg, a.a.O., und OLG Brandenburg, a.a.O.). Danach kann der Richter „in bestimmten Fällen noch in der Hauptverhandlung einen Antrag zurückweisen“ (BTDrucksache 13/3691, S. 8).
Wenn der Tatrichter noch in der Hauptverhandlung eine Sachentscheidung über den Entbindungsantrag treffen kann, ist aber nicht nachvollziehbar, dass der bevollmächtigte Vertreter des Betroffenen einen -zulässigen – Entbindungsantrag nicht mehr nach Aufruf der Sache stellen können soll (vgl. auch OLG Hamm a.a.O.. OLG Naumburg, a.a.O.).
Eine entsprechende Verfahrensweise kann auch der Prozessökonomie dienen, nämlich z.B. in denjenigen Fällen, in denen der Betroffene zunächst unentschuldigt nicht erscheint, dem Gericht aber in den üblicherweise abzuwartenden 15 Minuten nach Aufruf der Sache Entschuldigungsgründe bekannt werden. In diesem Fall könnte bei entsprechender Erklärung des Verteidigers das Verfahren in Abwesenheit des Betroffenen gleichwohl fortgeführt werden, ohne dass es eines erneuten Termins bedarf.
Denkbar ist auch, dass der Betroffene zwar an der Hauptverhandlung teilnehmen wollte, er aber – möglicherweise selbst verschuldet – den anberaumten Termin nicht mehr rechtzeitig wahrnehmen kann. Hier erscheint zwar eine Verwerfung des Entbindungsantrages durch Beschluss als verspätet und Verwerfung des Einspruchs durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG auf den ersten Blick prozessfördernd, wird jedoch durch die Möglichkeit des Betroffenen, gemäß § 74 Abs. 4 OWiG Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumung der Hauptverhandlung zu stellen, relativiert. Den Betroffenen in diesem Fall anders zu stellen als bei genügender Entschuldigung oder als im Falle eines etwa unmittelbar vor Aufruf der Sache gestellten Entbindungsantrages, erscheint nicht sachgerecht.
Das angefochtene Urteil verletzt schon deshalb den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör, weil sich das Amtsgericht mit den Gründen, die der Betroffene für seinen Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen geltend gemacht hat, nicht ausreichend befasst hat. Die Ablehnung des Antrags des Betroffenen, ihn von der Verpflichtung zum Erscheinen zu entbinden, ist im Rechtsbeschwerdeverfahren aufgrund der Verfahrensrüge überprüfbar. das Gericht hat sich deshalb im Urteil mit der Frage auseinander zu setzen, warum es dem Antrag des Betroffenen nicht entsprochen hat ( OLG Hamm VersR 107, 124. BayObLG DAR 2001, 371. DAR 2000, 578. OLG Köln ZfSch 2002, 254. Seitz a.a.O., § 73 Rn. 16. KKOWiG/Senge, a.a.O., § 74 Rn. 39). Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Amtsgericht hat die Verwerfung lediglich – rechtsfehlerhaft – damit begründet, dass der Entbindungsantrag nicht rechtzeitig gestellt wurde. Dies verletzt den Betroffenen in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG (OLG Hamm a.a.O.).
Es ist nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil auf der so begründeten Zurückweisung des Antrages, den Betroffenen von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, beruht. Hätte das Amtsgericht diesen Antrag als rechtzeitig behandelt, wäre unter den Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG eine antragsgemäße Sachentscheidung darüber möglich gewesen und das Amtsgericht hätte die Hauptverhandlung zur Sache gemäß § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchführen können (vgl. zu einer ähnlich gelagerten Fallkonstellation BGH VersR 2002, 1386. OLG Naumburg a.a.O.).“
b) Diesen grundsätzlich zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei. Zwar hat er sich zu der hier maßgeblichen Rechtsfrage bislang nicht ausdrücklich geäußert. Die Annahme, dass ein Entbindungsantrag noch in der Hauptverhandlung gestellt werden kann, entspricht aber der ständigen Spruchpraxis der hiesigen Senate für Bußgeldsachen.
3. Der Senat hat trotz Zulassens der Rechtsbeschwerde in der Besetzung mit einem Richter entschieden, weil aufgrund der Verfahrensrüge eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in Rede steht (vgl. hierzu OLG Hamm a.a.O. m.w.N.).
4. Ein Rechtsmittel gegen die vorliegende Entscheidung ist nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 304 Abs. 4 StPO nicht eröffnet."