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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss vom 21.07.2009 - 9 L 564/09 - Zur Löschung der Punkte im VZR bei Verzicht auf die Fahrerlaubnis

VG Gelsenkirchen v. 21.07.2009: Zur Löschung der Punkte im VZR bei Verzicht auf die Fahrerlaubnis


Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Beschluss vom 21.07.2009 - 9 L 564/09) hat entschieden:
  1. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ist entsprechend auch auf solche Fälle anwendbar, in denen ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis im Rahmen eines Entziehungsverfahrens nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 StVG erfolgt und die Neuerteilung der Fahrerlaubnis unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 10 StVG neu erteilt wird.

  2. Die Kammer setzt in Anlehnung an die geänderte Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in Rechtsstreitigkeiten, in denen es um die Entziehung einer Fahrerlaubnis geht, in Hauptsacheverfahren den doppelten Auffangwert und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Hälfte dieses Betrags an, wenn ein Fall der qualifizierten beruflichen Nutzung der Fahrerlaubnis vorliegt.

Siehe auch Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht


Gründe:

Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu beurteilende Antrag, der auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 7 Satz 2 StVG) sofort vollziehbare Entziehung der Fahrerlaubnis gerichtet ist, ist zulässig und begründet.

Das vom Antragsteller geltend gemachte Interesse am Erhalt seiner Fahrerlaubnis überwiegt das von Gesetzes wegen zu vermutende öffentliche Interesse daran, ungeeignete Kraftfahrer sofort von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen, da sich der in der Hauptsache angefochtene Bescheid des Antragsgegners vom 5. Mai 2009 nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als voraussichtlich rechtswidrig erweist.

Als Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis kommt allein § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG in Betracht. Nach dieser Vorschrift hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich nach dem Punktesystem des § 4 StVG 18 oder mehr Punkte ergeben, weil das Gesetz den Betroffenen für diesen Fall als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ansieht. Der Antragsteller dürfte vorliegend diese 18-Punkte-Grenze nicht überschritten haben. Denn sein Punktestand hätte aufgrund seines Verzichts auf die Fahrerlaubnis am 24. November 2003 hinsichtlich der vor diesem Zeitpunkt begangenen Zuwiderhandlungen in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG gelöscht werden müssen und die von ihm nach seinem Verzicht begangenen Zuwiderhandlungen überschreiten bereits in ihrer Summe nicht die 18-Punkte-Grenze. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG bestimmt, dass bei Entziehung der Fahrerlaubnis oder einer Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB die Punkte für die vor dieser Entscheidung begangenen Zuwiderhandlungen gelöscht werden. Die Vorschrift ist entsprechend auch auf solche Fälle anwendbar, in denen ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis im Rahmen eines Entziehungsverfahrens nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 StVG erfolgt und die Neuerteilung der Fahrerlaubnis unter Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 10 StVG neu erteilt wird.

Eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG setzt voraus, dass im Falle des Verzichts auf die Fahrerlaubnis im Rahmen eines Entziehungsverfahrens eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage bestehen.

Zur Frage der Regelungslücke hat das Verwaltungsgericht Freiburg im Hinblick auf die mangelnden gesetzlichen Bestimmungen über die Rechtsfolgen eines Verzichts auf die Fahrerlaubnis zutreffend ausgeführt:
„Diese Fallkonstellation dürfte der Gesetzgeber nicht bedacht haben, so dass von einer Gesetzeslücke ausgegangen werden kann. Auch wenn solche Fälle in der Behördenpraxis möglicherweise häufiger vorkommen sollten, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Problematik gesehen und sich bewusst von vornherein gegen die Einbeziehung aller denkbaren Verzichtsfälle entschieden hätte. So regelt zwar § 4 Abs. 11 Satz 2 StVG ausdrücklich eine Verzichtskonstellation, jedoch nur die, in der der Fahrerlaubnisinhaber durch seinen Verzicht eine Anordnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG bzw. deren Erfüllung vermieden hat. Darin kommt folglich zum Ausdruck, dass der Verzicht des diesen bei späterer Wiedererteilung nicht besser stellen soll.“
VG Freiburg, Beschluss vom 11. September 2008 - 1 K 1546/08 -, zitiert nach juris.
Die Regelungslücke dürfte zudem auch planwidrig sein. Zwar ist eine Verzichtskonstellation - wie gezeigt - in § 4 Abs. 11 Satz 2 StVG ausdrücklich geregelt und auch der Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 2 StVG lässt sich entnehmen, dass der Verzicht auf die Fahrerlaubnis grundsätzlich nicht zur Löschung der Punkte führen sollte. Hierzu heißt es wörtlich:
„Zur Löschung der Punkte kommt es nur im Fall der Entziehung, nicht jedoch beim Verzicht auf die Fahrerlaubnis. Hier bleibt das Punktekonto (bis zur Tilgung der zugrundeliegenden Eintragungen) weiterhin bestehen.“
Vgl. BR-Drs 821/96, Seite 72.
Der Gesetzgeber dürfte hiermit indes solche Fälle im Blick gehabt haben, bei denen ein Verzicht mit der Möglichkeit der Manipulation des Punktesystems verbunden ist. Dies ist etwa für Fälle denkbar, in denen der Inhaber einer Fahrerlaubnis vor Erreichen der 18-Punkte-Grenze auf seine Fahrerlaubnis (etwa bei dem Erreichen von 17 Punkten) verzichtet, um hierdurch in den Genuss einer Löschung der Punkte zu kommen. Bei einer entsprechenden Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG auf diese Konstellationen würde in der Tat das - vom Gesetzgeber nicht gewünschte - Ergebnis eintreten, dass sich der Betroffene seiner Punkte vor der Entziehung der Fahrerlaubnis entledigen und die Neuerteilung von der Fahrerlaubnisbehörde nicht von einem Nachweis der Kraftfahreignung durch Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig gemacht werden könnte. Denn die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen könnte dann gerade nicht nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG vermutet werden. Diese Gefahr der Manipulation des Punktesystems besteht allerdings dann nicht, wenn die mangelnde Fahreignung aufgrund des (unstreitigen) Überschreitens der 18-Punkte-Grenze vermutet wird und die Fahrerlaubnis deshalb nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG zwingend zu entziehen wäre. Denn in diesem Fall kommt der Betroffene der Entziehung der Fahrerlaubnis durch den (kostengünstigeren) Verzicht lediglich zuvor. Deshalb verfängt auch das in der Literatur teilweise vertretene Argument nicht,
vgl. Bouska/Laeverenz, Fahrerlaubnisrecht, 3. Auflage, § 4 StVG Nr. 15a; Dauer, in: Hentschel/König Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 4 StVG Rn. 27,
eine Löschung der Punkte erfolge auch bei einem Verzicht auf die Fahrerlaubnis angesichts einer drohenden Entziehung der Fahrerlaubnis nicht, weil durch die Regelung Manipulationen des Punktesystems durch „taktisch geschickte“ Verzichte verhindert werden sollen. Eine Manipulation des Punkte- Systems ist in diesem Fall ausgeschlossen, weil die Punkte nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG im Falle der Entziehung wegen Überschreitens der Punktegrenze ohnehin zu löschen wären. Eine Bevorteilung desjenigen, der auf seine Fahrerlaubnis im Rahmen eines Entziehungsverfahrens verzichtet, wird vermieden, wenn die Neuerteilung der Fahrerlaubnis in solchen Fällen nur nach Maßgabe des § 4 Abs. 10 StVG erfolgt. Dem Betroffenen darf dann frühestens sechs Monate nach dem Verzicht eine neue Fahrerlaubnis erteilt werden und die Fahrerlaubnisbehörde hat zum Nachweis, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiederhergestellt ist, in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anzuordnen (§ 4 Abs. 10 StVG).

Es ist auch die für eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG erforderliche vergleichbare Interessenlage gegeben. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt derjenige, der die Punkte-Schwelle von 18 erreicht bzw. überschritten hat, als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Hat der Betroffene seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiederhergestellt und dies nach Maßgabe des § 4 Abs. 10 Satz 2 durch die Beibringung eines entsprechenden Gutachtens nachgewiesen, findet die Wiederherstellung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auch im Verkehrszentralregister durch die Löschung der bisherigen Eintragungen nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ihren Niederschlag. Die in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung, demjenigen, dem die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG entzogen wurde und der die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiedererlangt hat, Eintragungen vor der Entziehung nicht mehr als Grundlage von Maßnahmen nach dem Punktesystem entgegenzuhalten, korrespondiert auch mit den Fällen, in denen der Betroffene im Rahmen eines Entziehungsverfahrens „freiwillig“ auf seine Fahrerlaubnis verzichtet hat.
Vgl. hierzu auch VG Freiburg, Beschluss vom 11. September 2008 - 1 K 1546/08 -, zitiert nach juris.
Gemessen daran sind im Fall des Antragstellers die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG gegeben. Nachdem der Antragsteller (unstreitig) die 18-Punkte-Grenze des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG überschritten hatte, gab ihm der Antragsgegner mit Schreiben vom 13. November 2003 Gelegenheit, zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis wegen erheblicher Verstöße gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen und/oder Strafgesetze Stellung zu nehmen. Ausweislich einer Verhandlungsniederschrift vom 24. November 2003 erschien der Antragsteller daraufhin in den Diensträumen des Antragsgegners und erklärte seinen Verzicht auf die Fahrerlaubnis. Ferner überließ er dem Antragsgegner seinen Führerschein. Der Antragsteller legte sodann im September 2004 ein zuvor vom Antragsgegner mit Blick auf die Verstöße gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen gefordertes medizinisch-psychologisches Gutachten vor. Hiernach war nicht mehr zu erwarten, dass der Antragsteller erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Daraufhin erteilte ihm der Antragsgegner am 14. September 2004 - mithin nach Ablauf der Sperrfrist des § 4 Abs. 10 Satz 1 StVG von sechs Monaten - eine neue Fahrerlaubnis.

Dementsprechend sind alle Punkte für die vor dem Verzicht des Antragstellers begangenen Zuwiderhandlungen in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG zu löschen. Sein Punktestand war deshalb bei der Neuerteilung der Fahrerlaubnis am 14. September 2004 auf „Null“ reduziert. Demzufolge hat der Antragsteller bislang die 18-Punkte-Grenze unzweifelhaft nicht überschritten.

Vor diesem Hintergrund hat der Antragsgegner auch den Führerschein des Antragstellers an ihn herauszugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Dabei setzt die Kammer in Anlehnung an die geänderte Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Mai 2009 - 16 B 114/09 -,in Rechtsstreitigkeiten, in denen es um die Entziehung einer Fahrerlaubnis geht, in Hauptsacheverfahren den doppelten Auffangwert und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Hälfte dieses Betrags an, wenn ein Fall der qualifizierten beruflichen Nutzung der Fahrerlaubnis vorliegt. Ein solches streitwerterhöhendes besonderes Interesse ist vorliegend gegeben, da die berufliche Tätigkeit des Antragstellers als Berufkraftfahrer gerade im Führen eines Kraftfahrzeugs besteht.



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