Das Verkehrslexikon

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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 14.09.2009 - 1 U 309/08 - Zur Verkehrssicherungspflicht und zum immateriellen Schaden beim Tod naher Angehöriger

OLG Frankfurt am Main v. 14.09.2009: Zur Verkehrssicherungspflicht und zum fehlenden Feststellungsinteresse für ein allgemeines Angehörigenschmerzensgeld


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 14.09.2009 - 1 U 309/08) hat entschieden:
  1. Unabhängig von der Existenz detaillierter technischer Regelwerke kann es eine Verletzung der Pflicht zur Straßenverkehrssicherung begründen, wenn eine mit Bitumenmaterial erstellte oder ausgebesserte Straße durch Verlust ihrer Splittanteile bei Nässe vergleichbar glatt wie eine Straßenbahnschiene ist und dieser Zustand längere Zeit andauert. In einem derartigen Fall reicht die Aufstellung von Warnschildern nicht aus.

  2. Die auf die Ersatzpflicht hinsichtlich zukünftiger immaterieller Schäden gerichtete Feststellungsklage des den Unfall nicht selbst erlebenden Angehörigen eines Unfallopfers ist unzulässig, wenn der Angehörige nicht atypische Folgewirkungen mit eigenständigem Krankheitswert behauptet. Ein Angehörigen-Schmerzensgeld kennt das deutsche Recht nicht.

Siehe auch Fahrgeschwindigkeit und zivilrechtliche Haftung und Feststellungsinteresse - Feststellungsklage - Zukunftsschaden


Gründe:

A.

Die Parteien streiten um Schmerzensgeld und um den Ersatz des materiellen Schadens aus einem Verkehrsunfall vom 27.4.2002, bei dem ein Motorradfahrer tödlich gestürzt ist, der Ehemann der Klägerin zu 1. und der Vater des damals rund 1 ½ Jahre alten Klägers zu 2. Der Sturz beruhte jedenfalls auch darauf, dass die Fahrbahn an der Unfallstelle ganz außergewöhnlich glatt war. Die Kläger nehmen das beklagte Land (nachfolgend als „Beklagter“ bezeichnet) mit der Begründung in Anspruch, seine zuständigen Mitarbeiter hätten die Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt. Die Straße hätte entweder einen deutlich griffigeren Belag erhalten oder für Motorradfahrer gesperrt werden müssen, das Aufstellen verschiedener Warnschilder – Einzelheiten waren insoweit streitig – habe nicht ausgereicht.

Die Kläger haben beantragt,
  1. den Beklagten zu verurteilen, an die Kläger als Gesamtgläubiger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen, mindestens aber 6.000,00 EUR,

  2. den Beklagten zu verurteilen, an die Kläger als Gesamtgläubiger 9.813,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuches ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

  3. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger zu 2. 7.686,58 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuches an Geldrente zu zahlen für den Zeitraum vom 1.5.2002 bis zum 30.4.2004,

  4. den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger zu 2. ab dem 1.5.2004 eine monatliche Geldrente in Höhe von 319,09 EUR monatlich im Voraus bis zum 30.10.2018 zu zahlen,

  5. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern alle weiteren zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die aus dem Verkehrsunfall vom 27.4.2002 entstehen, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergehen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der Details des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf das landgerichtliche Urteil Bezug.

Das Landgericht hat ein Grund- und Teilurteil erlassen, den ganz überwiegenden Teil des Fahrzeug- und des sonstigen Vermögensschadens und antragsgemäß ein Schmerzensgeld von 6.000 € (aus übergegangenem Recht des Motorradfahrers) zugesprochen sowie die Ersatzpflicht des Beklagten hinsichtlich aller materiellen und immateriellen Unfallschäden festgestellt. Über die vom Kläger zu 2. begehrte Unterhaltsrente (Klageanträge zu 3. und 4.) hat es noch nicht entschieden. Der Beklagte rügt mit seiner Berufung, ein Grundurteil hätte jedenfalls in der vorliegenden Form nicht ergehen dürfen. Die etwaigen Ansprüche stünden der Erbengemeinschaft und nicht den Klägern als Gesamtgläubigern zu. Die Kosten des „Griffigkeitsgutachtens“ könnten als Rechtsverfolgungskosten nicht Gegenstand des Hauptsacheanspruchs sein. Der Feststellungsausspruch sei zu weit gefasst, insbesondere, weil keine zukünftigen immateriellen Ansprüche in Betracht kämen und weil es insoweit der Sache nach nur um den Unterhaltsschaden des Klägers zu 2. gehe. Das Landgericht habe die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht überspannt. Es habe zur Zeit des Unfalls keine verbindlichen Griffigkeitsparameter und Messvorschriften gegeben; das Landgericht stütze seinen Vorwurf ex post auf erst durch den Unfall gewonnene Erkenntnisse. Da die übrigen Motorradfahrer der Kolonne die Unfallstelle ohne Weiteres gemeistert hätten, sei auf einen Fahrfehler des Erblassers zu schließen (Sachverständigengutachten). Jedenfalls müsse die Betriebsgefahr des Motorrads berücksichtigt werden. Das Schmerzensgeld sei übersetzt angesichts dessen, dass der Erblasser den Unfall – was unstreitig ist – nur um knapp 2 Stunden überlebt habe.

Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des landgerichtlichen Grund- und Teilurteils die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt werden möge, an die Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes, mindestens 6.000 € betragendes Schmerzensgeld und 9.776,49 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins hieraus ab dem 2.6.2004 zu zahlen sowie festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger zu 2. alle weiteren künftigen materiellen und immateriellen Schäden, die aus dem Verkehrsunfall vom 27.4.2002 entstehen, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergehen.
Abgesehen von der Anpassung ihrer Klageanträge hinsichtlich der Zahlung an sich als Gesamtgläubiger (Anträge zu 1. und 2.) und hinsichtlich des Gläubigers der festzustellenden Ansprüche (Antrag zu 5.) verteidigen sie das landgerichtliche Urteil.

Die Akte 21 Js 54538/03 (= 23 UJs 79998/02) der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Limburg, Zweigstelle Wetzlar, war beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.


B.

Die Berufung ist zulässig und zu einem geringen Teil begründet.

I. Das Grundurteil war erforderlich, um einer Widerspruchsgefahr zwischen den Entscheidungen im Teilurteil und dem noch ausstehenden Schlussurteil zu begegnen. Der Sache nach hat es nach der abschließenden Entscheidung über die übrigen Anträge im Teilurteil jetzt nur noch Bedeutung für die Unterhaltsrente gemäß den Klageanträgen zu 3. und 4. (§ 844 Abs. 2 BGB). Insoweit genügt die – ersichtlich und unbestritten gegebene – Wahrscheinlichkeit, dass der Anspruch in irgendeiner Höhe besteht.


II. Der landgerichtliche Ausspruch zu den Klageanträgen 1. und 2. (Schmerzensgeld und Vermögensschaden aus übergegangenem Recht des Erblassers) ist insoweit fehlerhaft, als diese Ansprüche den Klägern nicht als Gesamtgläubigern, sondern in ihrer Verbundenheit als Erbengemeinschaft zustehen (§ 2039 S. 1 BGB). Das ist in der Berufung außer Streit und in den Berufungsanträgen der Kläger berücksichtigt.


III. Der Beklagte schuldet den Klägern wegen der Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht (§ 823 BGB) vollen Schadensersatz.

1. Das Landgericht hat auf der Grundlage zweier Sachverständigengutachten ausführlich und überzeugend begründet, dass der Fahrbahnbelag im Bereich der Unfallstelle unzureichend griffig und dass dies für die Bediensteten der Beklagten – die erforderliche Sachkunde vorausgesetzt – erkennbar war. Die mit gesplittetem Bitumenmaterial ausgebesserte Straße war wegen des Fehlens der nötigen Splittanteile bei Nässe vergleichbar glatt wie eine Straßenbahnschiene, eine außerordentliche Gefahrenquelle, die als solche für Verkehrsteilnehmer nicht ausreichend erkennbar war, auch nicht nach Warnhinweisen mit den Verkehrsschildern 101, 112 und – bestritten – 114. Auf die Einzelheiten der einschlägigen technischen Regelwerke und deren Entwicklung kommt es insoweit nicht an. Es war unabhängig von diesen Regelwerken Aufgabe der Bediensteten des Beklagten, seine Straßen auf außerordentliche Gefahren der hier festgestellten Art regelmäßig zu untersuchen und die erforderlichen Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Angesichts der Gefährlichkeit der Glättestelle reichte das Aufstellen von Warnschildern nicht aus. Der Beklagte hätte entweder zeitnah für die erforderliche Griffigkeit der Straße durch Erneuerung des Fahrbahnbelags sorgen oder – wie das alsbald nach dem Unfall geschehen ist – die Straße für Motorradfahrer sperren müssen. Der Pflichtenverstoß und das Verschulden der Bediensteten des Beklagten wiegt besonders schwer angesichts der Tatsache, dass ihnen der schlechte Zustand der Straße seit geraumer Zeit bekannt war, auch deshalb, weil es dort schon verschiedentlich zu Unfällen gekommen war und weil ein Straßenwärter nach einer Kontrollfahrt auf die Notwendigkeit hingewiesen hatte, den Straßenbelag mit Splitt zu ergänzen.

2. Ein Mitverschulden des Erblassers hat das Landgericht auf der Grundlage das Sachverständigengutachtens SV1 (Sonderband Gutachten zur beigezogenen Strafakte) zu Recht verneint. Dort ist ausgeführt, dass der Erblasser eher langsamer als 50 km/h fuhr und dass er den Sturz angesichts der Fahrbahnverhältnisse nur mit einer Geschwindigkeit von 31,7 km/h hätte vermeiden können. Die Berufung gibt keinen Anlass zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens. Insbesondere trifft die Erwägung des Beklagten nicht zu, die anderen Motorradfahrer der zehnköpfigen Gruppe hätten die Unfallstelle problemlos gemeistert, was zeige, dass der Erblasser einen Fahrfehler gemacht haben müsse. Aus den Zeugenaussagen in der Strafakte (Band II Bl. 107 ff.) ergibt sich vielmehr, dass jedenfalls ein Teil der anderen Motorradfahrer der Gruppe erhebliche Schwierigkeiten mit der glatten Fahrbahn hatte; deren Schleudern mag nur deshalb nicht zu einem Unfall geführt haben, weil mangels Gegenverkehrs eine Ausweichmöglichkeit bestand.

3. Die Betriebsgefahr des vom Erblasser gesteuerten Motorrades tritt hinter dem erheblichen Verschulden der Bediensteten des Beklagten zurück.


IV. Hinsichtlich der Höhe des Schadens hält das landgerichtliche Urteil den Angriffen der Berufung stand.

1. Der Ersatzanspruch umfasst auch die Kosten des Griffigkeitsgutachtens, das zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich war. Die Kläger sind nicht gehindert, diesen Schadensposten auf materiell-rechtlicher Grundlage als Bestandteil der Hauptforderung geltend zu machen; das Kostenfestsetzungsverfahren hat keinen abschließenden Vorrang in diesem Sinne.

2. Die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Schmerzensgeldes ist nicht zu beanstanden angesichts dessen, dass der Erblasser noch knapp 2 Stunden lebte, starke Schmerzen beklagte und – anders als vom Beklagten zu Vergleichszwecken herangezogene Unfallopfer – nicht gleich bewusstlos wurde.


V. Gegen den Ausspruch des Landgerichts zum Feststellungsantrag wendet sich der Beklagte teilweise zu Recht.

1. Mit dem Feststellungsantrag sollte von vornherein (s. S. 22 der Klageschrift, Bl. 22 d. A.) die Verjährung des dem Kläger zu 2. zustehenden Unterhaltsanspruchs ab dem Eintritt der Volljährigkeit verhindert werden. Als Ersatzberechtigter ist im klägerischen Berufungsantrag zur Feststellungsklage nun ausdrücklich nur noch der Kläger zu 2. genannt. Dem war im Tenor des Berufungsurteils Rechnung zu tragen. Ansonsten ist die Formulierung des Feststellungsausspruchs zur Ersatzpflicht hinsichtlich materieller Schäden nicht zu beanstanden.

2. Eine Ersatzpflicht hinsichtlich immaterieller Schäden ist nicht festzustellen. Insoweit ist die Feststellungsklage unzulässig.

a) Soweit eine Klage auf die Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich für die Zukunft befürchteter Schäden gerichtet ist, werden die Zulässigkeitsanforderungen differenziert danach beurteilt, ob es um Folgeschäden aus einer feststehenden, haftungsbegründenden Rechtsgutsverletzung geht oder um den von einem Haftungstatbestand vorausgesetzten „Primärschaden“. Im erstgenannten Fall wird die Zulässigkeit der Feststellungsklage bereits durch die Möglichkeit eines Schadenseintritts begründet, die bei ernsthaften Verletzungen grundsätzlich angenommen wird; im zweitgenannten Fall ist die Feststellungsklage nur zulässig, wenn die Entstehung eines auf die Verletzungshandlung zurückzuführenden „Primärschadens“ wahrscheinlich ist (vgl. BGH NJW-RR 2007, 601; NJW 2006, 830, 832 f.; Zöller-Greger, 27. Aufl. 2009, § 256 Rn. 8a).

b) Danach ist die Feststellungsklage unzulässig, soweit sie auf ein Schmerzensgeld für eigene Beeinträchtigungen des Klägers zu 2. gerichtet ist. Es steht nicht fest, dass der Kläger zu 2. selbst eine Rechtsgutsverletzung erlitten hat. Ein haftungsbegründender „Primärschaden“ des Klägers zu 2. ist nicht ersichtlich.

(1) Nach der ständigen, insoweit restriktiven Rechtsprechung des BGH (vgl. BGHZ 56, 163, 164 ff.; 132, 341, 344; VersR 1976, 539 f.; NJW 1989, 2317 f.; 2006, 3268, 3270) und der ihm folgenden Obergerichte (vgl. OLG Hamm NZV 2002, 234; OLG Celle OLGR 2007, 548, 551; OLG Naumburg OLGR 2009, 422 f. [juris-Rn. 18 ff.]), der der Senat folgt, steht ein Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich nur dem Unfallopfer selbst zu, nicht seinen Angehörigen, auch dann nicht, wenn diese durch seine Verletzungen oder seinen Tod psychisch schwer belastet werden; eine Ausnahme kommt nach dieser Rechtsprechung nur dann in Betracht, wenn die psychische und die darauf beruhende körperliche Beeinträchtigung des Angehörigen über das hinausgeht, was nahe Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß erleiden müssen, d. h. wenn die Beeinträchtigung des Angehörigen ihrerseits nach allgemeiner Verkehrsauffassung Krankheitswert hat. Ein „Angehörigenschmerzensgeld“ ist im deutschen Recht nicht anerkannt. Der „normale“ Kummer über den Verlust des Angehörigen bleibt ohne Entschädigung.

(2) Der Kläger zu 2. ist durch den streitgegenständlichen Unfall nicht selbst verletzt worden, sondern sein Vater, den er durch den Unfall verloren hat. Für die Wahrscheinlichkeit außergewöhnlicher Beeinträchtigungen im o. g. Sinne ist nichts vorgetragen. Die Berufungserwiderung beschränkt sich insoweit auf die Erwägung (S. 2, Bl. 438 d. A.), negative Auswirkungen des Fehlens des Vaters auf die Psyche des Klägers zu 2. seien nicht auszuschließen. Das genügt nach den ausgeführten Grundsätzen nicht. Mangels einer primären Körperverletzung des Klägers begründet die bloße Möglichkeit nachteiliger Spätfolgen die Zulässigkeit der Feststellungsklage nicht. Die Beeinträchtigungen, die Kinder durch den frühen Tod eines Elternteils typischerweise erfahrungsgemäß erleiden, begründen keine Körperverletzung und damit keinen Anspruch auf Schmerzensgeld.


VI. Die Kosten des Berufungsverfahrens waren entsprechend §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 2 ZPO dem Beklagten aufzuerlegen, da sein Rechtsmittel wirtschaftlich betrachtet nur in geringem Umfang Erfolg hatte. Die übrigen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.



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