Das Verkehrslexikon
OLG Frankfurt am Main Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Ss OWi 164/09 - Benutzung einer Verbotsstrecke für Durchgangsverkehr für ein erlaubtes Fahrtziel
OLG Frankfurt am Main v. 27.11.2009: Zur Benutzung einer Verbotsstrecke für Durchgangsverkehr für ein erlaubtes Fahrtziel
Das OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 27.11.2009 - 2 Ss OWi 164/09) hat entschieden:
Fahrten, die dem Erreichen oder dem Verlassen eines im Verbotsbereich gelegenen Grundstückes dienen, sind nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe a) StVO a.F. und der amtlichen Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der zu § 41 Abs. 1 StVO n.F. uneingeschränkt privilegiert. Eine einschränkende Auslegung der genannten Bestimmungen dahingehend, dass die Privilegierung allein dann greift, wenn der Verkehrsteilnehmer den Verbotsbereich auf dem Weg von oder zu dem Grundstück auf dem kürzest möglichen Weg passiert, kommt nicht in Betracht.
Siehe auch Mautsystem - Mautgebühren - Mautdaten und Güterkraftverkehr
Gründe:
I.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichtes fuhr der Betroffene am Morgen des …04.2008 von O1 kommend mit dem Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen … über die Bundesstraße … nach O2. Das bezeichnete Kraftfahrzeug verfügte über ein zulässiges Gesamtgewicht von mehr als 12 Tonnen. In O2 hielt der Betroffene, um Leergut zu entladen, Frachtpapiere abzugeben und solche in Empfang zu nehmen. Sodann fuhr er weiter auf der Bundesstraße … und nachfolgend auf der Bundesstraße … in Richtung Osten mit Ziel O3. Gegen 10:10 Uhr wurde er auf der Bundesstraße … in Höhe O4 von Polizeibeamten angehalten. Der gesamte Verlauf der Bundesstraßen … und … ist ab O1 durch das Zeichen 253 mit Zusatz „Durchgangsverkehr“, „12 t“ gekennzeichnet. Dies war dem Betroffenen bekannt.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen auf der Grundlage dieser Feststellungen der vorsätzlichen Benutzung eines durch das Verkehrszeichen 253 gesperrten Verkehrsbereiches mit einem Kraftfahrzeug im Sinne des § 3 Abs. 3 Nr. 2a) oder b) StVO für schuldig befunden ( § 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO ). Die Weiterfahrt des Betroffenen nach dem Halt in O2 sei als Durchgangsverkehr einzuordnen und damit unzulässig. Sie unterfalle keiner der in § 41 Abs. 2 StVO aufgeführten Ausnahmetatbestände. § 41 Abs. 2 Nr. 6b) StVO greife nicht, da das Fahrtziel O3 außerhalb des privilegierten 75-Kilometerkreises um O5 gelegen habe. § 41 Abs. 2 Nr. 6a) StVO sei nicht einschlägig, da die maßgebliche Fahrt nicht dazu gedient habe, den Verbotsbereich zu erreichen oder zu verlassen. Zwar habe der Betroffene in O5 unwiderlegt geladen (wohl: entladen). Nach Sinn und Zweck des Gesetzes (Anwohnerschutz) habe er den gesperrten Bereich sodann aber auf kürzestem Wege wieder verlassen müssen. Dies sei dem Betroffenen ohne weiteres durch die Rückfahrt nach O1 möglich gewesen, von wo aus er sein Fahrtziel über die BAB … und ab O6 über die BAB … habe erreichen können.
Hiergegen wendet sich die Zulassungsrechtsbeschwerde des Betroffenen. Dieser rügt die Verletzung materiellen Rechtes. Der Einzelrichter hat die Rechtsbeschwerde durch Beschluss des vom 16.11.2009 zur Fortbildung des Rechtes zugelassen und die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit 3 Richtern zur Entscheidung übertragen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der Betroffene ist freizusprechen, da er sich nach den Feststellungen keiner Verkehrsordnungswidrigkeit im Sinne des § 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO a.F. schuldig gemacht hat. Nach § 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO in seiner bei Tatbegehung gültigen Fassung vom 11.05.2006 handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 41 StVO eine durch ein Vorschriftzeichen gegebene Anordnung nicht befolgt. Die genannte Fassung ist nach § 4 Abs. 1 OWiG maßgeblich. Denn die ab dem 01.09.2009 gültige Neufassung dieser Vorschrift stellt im Verhältnis zur genannten älteren Fassung nicht das mildere Gesetz im Sinne des § 4 Abs. 3 OWiG dar. Vielmehr wurde hierdurch allein der am 01.09.2009 in Kraft getretenen Neugestaltung des § 41 StVO Rechnung getragen, durch welche die zuvor in § 41 Abs. 2 StVO aufgeführten Vorschriftzeichen in die Anlage 2 zu § 41 StVO n.F. überführt wurden.
Der Betroffene hat weder durch die Fahrt nach O2, noch durch die spätere Weiterfahrt mit Ziel O3 gegen die Anordnung des Vorschriftzeichens 253 in Verbindung mit den Zusatzzeichen „Durchgangsverkehr“ und „12 t“ verstoßen.
Das im Zeichen 253 verkörperte Verbot für Kraftfahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen wird durch die erwähnten Zusatzzeichen beschränkt auf den Durchgangsverkehr mit Nutzfahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 12 Tonnen. Diese durch die 15. Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrsordnung vom 22.12.2005 (BGBl. I S. 3714) eingeführte Zeichenkombination dient dem Schutz der Wohnbevölkerung vor den Immissionen des sogenannten Mautausweichverkehrs und der Verbesserung des Verkehrsablaufes im nachgeordneten Straßennetz (vgl. amtliche Begründung; BR-Drucksache 824/05, 37f; Hentschel/König/Dauer – Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. § 41 StVO Rdnr. 248f).
Keine der festgestellten Fahrten stellt sich als unzulässiger Durchgangsverkehr im Sinne dieser Vorschrift dar.
Nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe a) StVO a.F. (gleichlautend nunmehr: amtliche Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO n.F.) liegt Durchgangsverkehr nicht vor, wenn die jeweilige Fahrt dazu dient, ein Grundstück, welches an der vom Verkehrsverbot betroffenen Straße liegt oder allein über ein solche erschlossen ist, zu erreichen oder zu verlassen.
Sowohl die Einfahrt des Betroffenen in den beschränkten Bereich mit Zielrichtung O2 wie auch die nachfolgende Weiterfahrt des Betroffenen in Richtung Osten unterfallen dieser Ausnahmeregelung:
Das Amtsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Fahrt des Betroffenen nach O2 in der unwiderlegten und vorgefaßten Absicht, bei einem dort gelegenen Gewerbebetrieb Leergut zu entladen, Frachtpapiere abzugeben und solche in Empfang zu nehmen dem Erreichen eines im Verbotsgebiet gelegenen Grundstückes diente und damit nach obiger Definition nicht als Durchgangsverkehr zu bewerten war.
Letzteres gilt jedoch – abweichend von der Ansicht des Amtsgerichtes – auch für die spätere Weiterfahrt des Betroffenen von O2 in Richtung Osten. Diese Fahrt diente im Sinne des genannten Ausnahmetatbestandes dazu, ein im Verbotsgebiet gelegenes Grundstück zu verlassen, und stellt daher keinen verbotenen Durchgangsverkehr dar. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass der Betroffene das Verbotsgebiet hierbei nicht auf dem kürzesten Weg verließ, sondern den größeren Teil des Verbotsbereiches erst während der Weiterfahrt in Richtung Osten passierte.
Fahrten, die dem Erreichen oder dem Verlassen eines im Verbotsbereich gelegenen Grundstückes dienen, sind nach § 41 Abs. 2 Ziffer 6 Satz 5 Buchstabe a) StVO a.F. und der amtlichen Erläuterung Nr. 1a) zur lfd. Nr. 30.1 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO n.F. uneingeschränkt privilegiert. Eine einschränkende Auslegung der genannten Bestimmungen dahingehend, dass die Privilegierung allein dann greift, wenn der Verkehrsteilnehmer den Verbotsbereich auf dem Weg von oder zu dem Grundstück auf dem kürzest möglichen Weg passiert, kommt nicht in Betracht.
Nach Ansicht des Senates ist die vom Amtsgericht zumindest im Hinblick auf das Verlassen des Verbotsbereiches vertretene abweichende Auslegung bereits weder aus dem Wortlaut der Vorschrift noch dem oben bezeichneten Regelungsziel des Verordnungsgebers abzuleiten.
Die vom Amtsgericht erwogene Beschränkung des Ausnahmetatbestandes ist zur Vermeidung des Mautausweichverkehrs und der mit ihm einhergehenden Immissionsbelastungen der Straßenanlieger auch nicht erforderlich. Denn derjenige, der sich vor Beginn der Ausfahrt aus dem Verbotsbereich entweder als Anlieger oder – nach berechtigter Einfahrt zur Erreichung eines Grundstückes – gleichfalls befugt in diesem aufhält, handelt in der Regel nicht mit dem Ziel der Mautvermeidung. Der Gefahr der massenhaften missbräuchlichen Berufung auf den Privilegierungstatbestand etwa durch die unwahre Behauptung eines im Rahmen einer Verkehrskontrolle angehaltenen „Mautvermeiders“, seine Fahrt diene dem Verlassen eines im Verbotsbereich gelegenen und zuvor berechtigt angefahrenen Grundstückes, dürfte entgegenstehen, dass die entsprechenden Angaben in der Regel einer zeitnahen Überprüfung auf ihren Wahrheitsgehalt zugänglich sein werden. Sie wird ferner dadurch eingeschränkt, dass der Wille, ein bestimmtes im Verbotsbereich gelegenes Grundstück zu erreichen, bereits vor Einfahrt in den Wirkbereich des Verbotszeichens vorhanden und eigentlicher Beweggrund der Fahrt gewesen sein muss (so bereits OLG Schleswig a.a.O. zur Frage des berechtigten Anliegerverkehrs).
Es besteht keine Veranlassung, bei der Auslegung von den zum Regelungsgehalt des Verkehrszeichens 250 mit Zusatzschild „Anlieger frei“ – und damit einer ganz ähnlichen Fragestellung -entwickelten und gefestigten Rechtsprechungsgrundsätze abzuweichen. Hiernach wird demjenigen, der in den betroffenen Sperrbereich zunächst befugt eingefahren ist, gerade nicht auferlegt, diesen anschließend auf kürzestem Wege zu verlassen (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1992, 85 – zitiert aus juris, m.N.; OLG Bremen DAR 1960, 268; OLG Schleswig VRS 9, 58). Die Generalstaatsanwaltschaft weist zutreffend darauf hin, dass beide Verbotsregelungen zuvorderst dem Anwohnerschutz dienen. Schon die nahezu deckungsgleichen Regelungsziele beider Zeichen sprechen gegen eine divergierende Auslegung.
Hätte der Verordnungsgeber bei Erlass der Verordnung vom 22.05.2005 die Privilegierung des ein- und ausfahrenden Verkehrs auf die kürzest mögliche Strecke beschränken wollen, so hätte gerade angesichts der oben erwähnten abweichenden Rechtsprechungsgrundsätze eine ausdrücklich begrenzende Wortfassung nahegelegen. Auch das Unterbleiben einer solchen ausdrücklichen Beschränkung spricht hiernach bereits gegen eine entsprechende Intention des Verordnungsgebers.
Schließlich spricht auch die mangelnde Praktikabilität gegen die Auslegung des Amtsgerichtes. Denn diese führte zu einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfreiheit der ortsansässigen Gewerbetreibenden im Güterverkehr, die wiederum allein durch eine unterschiedliche Auslegung des Begriffe der Einfahrt und des Verlassens für die vor Ort ansässigen Anlieger einerseits und die sonstigen berechtigt Anwesenden andererseits zu umgehen wäre. Denn bei uneingeschränkter Anwendung wären auch die im Verbotsgebiet ansässigen Gewerbetreibenden unabhängig vom Ziel einer anstehenden Transportfahrt dauerhaft gezwungen, den Verbotsbereich ausschließlich auf der kürzesten Strecke zu verlassen. Gleiches würde auch für Fahrten in den Verbotsbereich zur Erreichung des eigenen Gewerbegeländes gelten. Auch diese wären hiernach allein auf dem kürzesten Wege zulässig, was – je nachdem von welcher Richtung aus sich der Betroffene dem Verbotsgebiet nähert – zu erheblichen Umwegen nötigte.
Angesichts der oftmals – wie auch im hier zu beurteilenden Fall – erheblichen Länge der Verbotsstrecke bedingte diese Auslegung für die ortsansässige Wirtschaft im Hinblick auf Fahrten jenseits des gesondert privilegierten regionalen Güterverkehrs erhebliche Umwege und hiermit verbundene zusätzliche Aufwendungen. Dies führte bei lebensnaher Betrachtung zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen für Gewerbeniederlassungen in oftmals ohnehin ungünstiger Lage abseits der Fernstraßen und verstärkte die Gefahr des Abwanderns des Wirtschaftslebens aus der Fläche. Dies wiederum stünde dem ersichtlichen Ziel des Verordnungsgebers, Mautausweichversuchen des überregionalen Schwerlastverkehrs unter möglichster Wahrung der Belange des regionalen Wirtschaftslebens entgegenzuwirken, diametral entgegen.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen waren angesichts des Freispruches in der Sache gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 StPO der Staatskasse aufzuerlegen.