Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Minden Beschluss vom 22.10.2009 - 2 L 444/09 - Ein Radfahrverbotsschild an einer gefährlichen Baustelle ist zulässig
VG Minden v. 22.10.2009: Zum Radfahrverbot an einer gefährlichen Baustelle
Das Verwaltungsgericht Minden (Beschluss vom 22.10.2009 - 2 L 444/09) hat entschieden:
Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt, § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO. Nach dieser Bestimmung setzt eine verkehrsbehördliche Anordnung das Vorhandensein besonderer, zu einer solchen Regelung zwingender Umstände voraus, wobei solche Umstände bezogen auf den fließenden Verkehr nur bei einer aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage gegeben sind. In diesem Rahmen ist auch ein Schild zulässig, das an einer Baustelle das Radfahren verbietet.
Siehe auch Anordnung der Radwegebenutzungspflicht und Radweg und Radwegbenutzungspflicht
Gründe:
Der Antrag des Antragstellers mit dem im Schriftsatz vom 12.10.2009 klargestellten Inhalt,
die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Aufstellung der Verkehrszeichen 254 auf der C. Brücke/L1.…straße in N. anzuordnen,
hat keinen Erfolg.
Er ist gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft. Bei der durch die Aufstellung der Verkehrszeichen 254 „Verbot für Radfahrer“ bekannt gegebene verkehrsregelnde Anordnung des Antragsgegners handelt es sich um eine Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW), die mit der Anfechtungsklage angefochten werden kann.
Die aufschiebende Wirkung der Klage entfällt entsprechend § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Nach ständiger Rechtsprechung ist § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf verkehrsregelnde Anordnungen entsprechend anwendbar, weil sich die von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen ausgehenden Gebote oder Verbote prinzipiell nicht von unaufschiebbaren Anordnungen oder Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten unterscheiden, an deren Stelle sie gleichsam treten.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.01.1988 – 7 B 189/87 –, NJW 1988, 2814; OVG NRW, Beschluss vom 22.10.2003 – 8 B 468/03 –.
Der Antragsteller ist auch im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt. Hierzu genügt es, dass er als Radfahrer ein durch die angefochtene Verkehrsregelung in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffener Verkehrsteilnehmer ist, ohne dass es dabei einer Regelmäßigkeit oder Nachhaltigkeit der Rechtsverletzung bedarf.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.08.2003 – 3 C 15/03 –, juris.
Das erscheint nach dem substanziierten Vorbringen des Antragstellers möglich. Dieser macht geltend, er benutze die Landesstraße L im Bereich der C. Brücke/ L1.…straße in N. regelmäßig mit dem Fahrrad, um zum Bahnhof zu gelangen. Der Antrag ist aber unbegründet. Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der angegriffenen Anordnung und dem privaten Interesse des Antragstellers, von der sofortigen Vollziehung vorerst verschont zu bleiben, fällt zu Ungunsten des Antragstellers aus, denn es bestehen bei summarischer Prüfung keine ernsthaften Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Aufstellung der Verkehrszeichen 254 (Verbot für Radfahrer).
Rechtsgrundlage für die Aufstellung der Verkehrszeichen ist § 39 Abs. 1 i.V.m. § 45 Abs. 2 Sätze 1, 2 und 4 und Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO. Gemäß § 45 Abs. 2 Sätze 1, 2 und 4 können die Straßenbaubehörden – hier der Antragsgegner, da es sich um eine Landesstraße handelt (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StVO i.V.m. § 56 Abs. 2 Nr. 1 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen -StrWG NRW-) zur Durchführung von Straßenbauarbeiten – vorbehaltlich anderer Maßnahmen der Straßenverkehrsbehörden – Verkehrsverbote und -beschränkungen anordnen, den Verkehr umleiten und ihn durch Markierungen und Leiteinrichtungen lenken, wobei alle Ge- oder Verbote durch Zeichen und Verkehrseinrichtungen nach der StVO anzuordnen sind. Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO sind Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Abgesehen von der Anordnung von Tempo 30-Zonen nach Abs. 1c oder Zonen-Geschwindigkeitsbeschränkungen nach Abs. 1d dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt, § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO. Nach dieser Bestimmung setzt eine verkehrsbehördliche Anordnung das Vorhandensein besonderer, zu einer solchen Regelung zwingender Umstände voraus, wobei solche Umstände bezogen auf den fließenden Verkehr nur bei einer aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage gegeben sind.
Die Voraussetzungen liegen hier vor. Die angeordnete Verkehrsführung dient zur Durchführung von Straßenbauarbeiten – nämlich zum Neubau der Brücke im Zuge der L über die X. in N. (C1. Brücke). Im Rahmen dieser Verkehrsführung hat der Antragsgegner durch die Verkehrsanordnung vom 22.07.2009 in Verbindung mit dem dieser Anordnung beigefügten, in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Plan für den Bauabschnitt 1 des Neubaus der Brücke ein Fahrverbot für Radfahrer durch Aufstellen von entsprechenden Verbotsschildern (Verkehrszeichen 254) angeordnet. Auch die (strengen) Anforderungen des § 45 Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO sind hier erfüllt. Im vorliegend maßgeblichen Bereich der Baustelle auf der L besteht eine solche Gefahrenlage, die zur Anordnung eines Verbots für Radfahrer berechtigt.
Das ergibt sich für die Kammer gut nachvollziehbar und überzeugend aus den Stellungnahmen der Kreispolizeibehörde N. -M. vom 28.08.2009 und der Stadt N. vom 01.09.2009. Die C1. Brücke ist die wichtigste Verbindung von der N1. Innenstadt zu den Stadtteilen des rechten X1. und zum Bahnhof und ist demzufolge entsprechend stark frequentiert. Neben dem motorisierten Verkehr wird sie vor allem in der Spitzenzeit durch eine Vielzahl von Fahrradfahrern (Pendlern und Schülern mit Fahrrädern) genutzt. Aus den östlichen Stadtgebieten von N. wird nahezu der vollständige Schülerverkehr zu den weiterführenden Schulen über die C1. Brücke abgewickelt. Bereits vor Errichtung der Baustelle haben sich im betreffenden Bereich schon mehrere Verkehrsunfälle – auch mit Personenschäden – ereignet (im Jahr 2008 acht Verkehrsunfälle, davon einer mit einem verletzten Fahrradfahrer, einer mit einem verletzten Pkw-Fahrer und sechs Sachschadensunfälle; im Jahr 2009 neun Verkehrsunfälle, davon zwei verletzte Radfahrer, ein verletzter Pkw-Insasse und sechs Sachschadensunfälle). Die Gefahrenlage hat sich durch die Gegebenheiten in der Baustelle erheblich verschärft. In der Baustelle ist nur eine Fahrbahnbreite von 3,00 m je Fahrspur vorhanden. Angesichts dessen und der Vorgaben für die Mindestbreite der Fahrspur (2,75 m) sowie des Schutzstreifens (1,25 m) können Fahrradfahrer weder durch Radfahrstreifen noch durch Schutzstreifen gesichert werden. Sie können auch nicht mit dem erforderlichen Sicherheitsabstand überholt werden, so dass sie im Verkehrsfluss zwischen den Kraftfahrzeugen fahren müssen. Dies gelingt zwar verkehrsgewohnten erwachsenen Radfahrern, nicht aber ohne Weiteres den zu den Nutzern gehörenden Kindern im Schülerverkehr und betagten Senioren. Im Verkehr unsichere Radfahrer neigen zudem eher dazu, am rechten Rand des Fahrstreifens zu fahren, wodurch Pkw-Fahrer wiederum verleitet werden, den Radfahrer mit Unterschreitung des Sicherheitsabstandes zu überholen. Bei der Beurteilung, ob eine besondere Gefahrenlage besteht, hat die Behörde die Möglichkeit einbeziehen, dass auch ungeübte und unsichere Radfahrer den in den Blick genommenen Streckenabschnitt passieren.
Vgl. VG Freiburg, Urteil vom 15.03.2007 – 4 K 2130/05 –, juris.
Auch das verkehrswidrige Verhalten von Kraftfahrern muss in die Beurteilung der Gefahrensituation einbezogen werden, wenn es wie hier durch zumutbare Überwachungsmaßnahmen nicht unterbunden werden könnte. Radfahrer, die in der Baustelle den Fahrstreifen im Mischverkehr befahren sollen, müssen zudem sicher auf die Fahrbahn geleitet werden. Hierzu wäre eine Einfädelhilfe (Baken, Markierung) einzurichten, was im Bereich der Einmündung I.…straße wegen der Verkehrsflächensituation (geringe Fahrbahnbreite, Einmündung unmittelbar an der Baustellenfahrspur) nicht möglich ist. Die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h wird darüber hinaus in Zeiten mit geringem Verkehrsaufkommen oft überschritten. Diese aus Überwachungsmaßnahmen getroffene Erkenntnis muss ebenfalls bei der Einschätzung der Gefahrensituation berücksichtigt werden. Sie ist durch zumutbare Maßnahme nicht zu unterbinden. Hinzu kommt, dass sich der Verkehr in den Zeiten mit hohem Verkehrsaufkommen leicht zurückstaut. Das führt wiederum dazu, dass Fahrradfahrer verleitet werden, an den vor ihnen stehenden Kraftfahrzeugen – auch rechts – vorbeizufahren, um schneller die nächste Grünphase der Ampel zu passieren. Dies führt wiederum zu neuen Gefahrensituationen. Nach alledem ist im vorliegenden Fall eine aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO zu bejahen.
Das dem Antragsgegner nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 9 Sätze 1 und 2 StVO eingeräumte Ermessen hat dieser rechtsfehlerfrei ausgeübt. Das Gericht kann dabei nach § 114 VwGO die Maßnahmen der Behörde nur dahingehend überprüfen, ob durch die Allgemeinverfügung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Für die vorliegend angegriffenen Verkehrszeichen bestehen im Hinblick auf eine ermessensgerechte Entscheidung des Beklagten keine Zweifel. Die Anordnung des Verbots für Radfahrer durch das Aufstellen der Verkehrszeichen 254 rechtfertigt sich aus den Gründen, die der Antragsgegner im Rahmen des Vorliegens einer außergewöhnlichen Gefahrenlage angenommen hat und ist nicht zu beanstanden.
Die Entscheidung des Antragsgegners, die er unter Mitwirkung der Kreispolizeibehörde und der Stadt N. getroffen hat und bei der er die Belange aller Verkehrsteilnehmer berücksichtigt hat, ist insbesondere verhältnismäßig, um die Sicherheit des Verkehrs zu gewährleisten. Sie ist zur Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit geeignet, denn Unfälle zwischen Fahrradfahrern und Kraftfahrzeugen werden verhindert. Hierzu ist sie auch erforderlich. Ein Gebot für die Radfahrer, den verbliebenen Gehweg als kombinierten Rad/Gehweg zu nutzen, kommt vorliegend nicht in Betracht. Wie sich aus der Stellungnahme der Kreisverkehrsbehörde vom 28.08.2009 und der Stellungnahme der Stadt N. vom 01.09.2008 ergibt, ist der verbliebene 2,20 m breite Gehweg der nördlichen Brückenseite wegen der geringen Breite nicht geeignet, zusätzlich zum Fußgängerverkehr auch noch den – zeitweise sehr starken – Radverkehr beider Richtungen aufzunehmen (vgl. Verwaltungsvorschrift zur StVO zu § 2 Abs. 4 Satz 3 II). Die Umleitung des Schwerverkehrs (LKW und Busse) ist bereits nicht geeignet, die besondere Gefahrenlage zu beseitigen. Dies würde nämlich nicht zu einer bedeutenden Verringerung des motorisierten Verkehrs führen. Nach den plausiblen Ausführungen des Antragsgegners im Schriftsatz vom 23.09.2009 ergibt sich ein Anteil des Schwerverkehrs (ohne Busse) am Gesamtverkehr von 1,4 % sowie ein Anteil von Bussen (drei Stadtbus-Linien) am Gesamtverkehr von 1,9 %. Die Umleitung der Stadtbus-Linien über andere Brücken ist überdies wegen der Linienführung nicht umsetzbar. Die Aufstellung der Verkehrszeichen und das damit verbundene Verbot für Radfahrer ist auch angemessen. Insbesondere ist es den Fahrradfahrern im Interesse der Sicherheit des Verkehrs und der Gesundheit aller Verkehrsteilnehmer – die Radfahrer selbst gehören insoweit zu der am stärksten gefährdeten Gruppe – durchaus zuzumuten, die kurze Strecke von ca. 200 m für die begrenzte Dauer der Brückenbauarbeiten auf dem Gehweg zu Fuß (das Fahrrad schiebend) zurückzulegen. Hierdurch entsteht für die Fahrradfahrer allenfalls ein geringfügiger Mehraufwand an Zeit, der bei einem zeitweilig vorhandenen erheblichen Verkehrsrückstau auf der Fahrbahn sogar gegen null tendieren kann. Diese marginale Einschränkung rechtfertigt es nicht, sehr kostenintensive Maßnahmen, wie eine Parallelführung der Radfahrer auf einem separaten Brückenbauwerk in Betracht zu ziehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.