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OLG Oldenburg Beschluss vom 27.11.2009 - Ss Bs 186/09 - Zur Unzulässigkeit durchgehender Verkehrsaufzeichnungen zur Feststellung von Verstößen
OLG Oldenburg v. 27.11.2009: Zur Unzulässigkeit durchgehender Verkehrsaufzeichnungen zur Feststellung von Verstößen
Das OLG Oldenburg (Beschluss vom 27.11.2009 - Ss Bs 186/09) hat entschieden:
Die Aufzeichnung individueller Verkehrsvorgänge durch fest installierte Videoaufzeichnungsanlagen ist mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden. Die Aufzeichnung des Bildmaterials führt zur technischen Fixierung der beobachteten Vorgänge, die später zu Beweiszwecken abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden können, wobei eine Identifizierung von Fahrer und Fahrzeug beabsichtigt und technisch möglich ist. Derartige Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig, wenn hierfür eine gesetzliche Grundlage vorliegt. Eine solche Ermächtigungsgrundlage existiert nicht. Der Eingriff ist so schwer, dass daraus auch ein Beweisverwertungsverbot folgt.
Siehe auch Ungenehmigte Video-und Foto-Personenaufnahmen und deren Verwertung und Verwertungsverbote
Gründe:
Mit Beschluss vom 25.08.2009 hat das Amtsgericht Bersenbrück den Betroffenen wegen eines Vorwurfes einer Abstandsunterschreitung gem. § 4 Abs. 1 StVO freigesprochen.
Mit Bußgeldbescheid des Landkreises Osnabrück vom 04.06.2009 war dem Betroffenen zur Last gelegt worden, am 19.02.2009 um 12.14 Uhr in R.… auf der BAB 1 in Höhe des Kilometers 202,852 in Fahrtrichtung M.… als Führer des Pkws … bei einer Geschwindigkeit von 119 km/h den erforderlichen Abstand von 59,5 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht eingehalten zu haben. Der Abstand habe vielmehr lediglich 17 m und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes betragen.
Das Messergebnis, auf welches der Erlass des Bußgeldbescheides zurückzuführen war und welches als maßgebliches Beweismittel für die Überführung in Betracht gekommen wäre, wurde durch ein Verkehrskontrollsystem VKS 3.0 der Firma V.… ermittelt. Ausweislich der mit der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen amtsgerichtlichen Feststellungen werden bei Anwendung dieses Meßsystems in der Regel mindestens zwei Videoaufzeichnungen vorgenommen, nämlich eine sog. Tatvideoaufzeichnung, mit welcher die Abstands und Geschwindigkeitsmessung durchgeführt wird, sowie eine Fahrervideoaufzeichnung, welche der Identifikation der Fahrer und der Kennzeichenerfassung dient. Messung und Auswertung werden dergestalt gehandhabt, dass der auflaufende Verkehr in einem bestimmten Fahrbahnabschnitt mit einer Videokamera von einem festen, mindestens drei Meter über der Fahrbahnoberfläche liegenden Kamerastand aufgenommen wird. Während der Aufnahme wird das Videosignal kodiert. Der Kodierer zählt in dem Videosignal die einzelnen Videobilder (Voll und Halbbilder). Der zeitliche Abstand von zwei aufeinander folgenden Videobildern beträgt 1/50 Sekunden. Die Auswertung des so kodierten Videobandes wird mittels eines Computersystems durchgeführt. Bei der so gestalteten Verkehrsüberwachung wird eine durchgängige Aufnahme des fließenden Verkehrs in der Weise angefertigt, dass jeweils die auf der Überholspur befindlichen Fahrzeuge mit Kennzeichen erfasst werden und die Fahrer identifizierbar erkennbar sind.
Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009 (2 BvR 941/08) hat das Amtsgericht diese Art der Messung mit Rücksicht auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage in Niedersachsen als verfassungswidrigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung angesehen. Weiterhin ist es zu dem Schluss gelangt, dass der Verwertung des rechtswidrig erlangten Messergebnisses ein Beweisverwertungsverbot entgegenstehe. Mit der Messung sei automatisch und unvermeidbar die Aufnahme einer unüberschaubaren Vielzahl von Personen verbunden, welche sich rechtskonform verhielten und über deren persönliche Information dem Staat ein Erfassungsrecht nicht ohne Gesetz zustehe. Dieser mit dem Messverfahren verknüpfte ungerechtfertigte Eingriff in die grundgesetzlich geschützten Rechte einer Vielzahl von Verkehrsteilnehmern führe dazu, dass dem Verfahren per se eine Verfassungswidrigkeit innewohne. Die daraus gezogenen Beweismittel könnten auf ordnungsgemäßem Wege nicht mit gleicher Sicherheit erlangt werden. Für eine Differenzierung nach jeweiligen Einzelfällen der Verstöße sei bei einer derartigen Vorgehensweise kein Raum.
Da andere Beweismittel nicht zur Verfügung stehen, hat das Amtsgericht den Betroffenen im Beschlusswege freigesprochen.
Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft Osnabrück mit ihrer Rechtsbeschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg beigetreten ist.
Sie rügt zunächst die Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht. Sie macht geltend, das Amtsgericht habe die bei den Akten befindliche CDROM mit der Videosequenz des verfahrensgegenständlichen Verkehrsvorganges und die ebenfalls bei den Akten befindlichen diesbezüglichen Einzelbilder zum Gegenstand der Beweisaufnahme machen müssen, da im vorliegenden Falle kein Beweisverwertungsverbot bestehe. Das Interesse der Allgemeinheit an der Durchsetzung der Verkehrssicherheit überwiege das nur wenig beeinträchtigte Individualinteresse des Betroffenen. Die Einhaltung der Abstandsvorschriften erfordere mit Rücksicht auf die hohe Gefährlichkeit von Abstandsunterschreitungen eine konsequente Überwachung. Der Betroffene, auf dessen Person einzig abzustellen sei, sei in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht derart schwerwiegend betroffen, dass das geschilderte Interesse der Allgemeinheit hinter dieser Grundrechtsverletzung zurückzutreten habe. Die Aufnahme betroffener Personen erfolge nur kurzzeitig und lasse erst nach technischer Aufbereitung und unter günstigen Umständen eine Fahrzeug und Fahreridentifikation zu. Weder Intim noch Privatsphäre seien betroffen, die Einwirkung sei zudem nicht spürbar. Von einem willkürlichen Verhalten könne mit Rücksicht auf die Gutgläubigkeit der mit der Erfassung und Auswertung der Videoaufzeichnung betrauten Polizeibeamten und des Umstandes, dass das Nds. Ministerium für Inneres, Sport und Integration – Landespräsidium für Polizei, Brand und Katastrophenschutz – auf die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung sofort mit einem den Einsatz der Messgeräte einschränkenden Erlass reagiert habe, nicht ausgegangen werden. Auch habe die Möglichkeit bestanden, das Beweismittel auf ordnungsgemäßem Wege ebenso sicher durch Herbeiführung einer anlassbezogenen Videoaufzeichnung des konkreten Verkehrsvorganges zu erlangen.
Des Weiteren erhebt die Staatsanwaltschaft die Sachrüge.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist form und frist gerecht eingelegt und begründet worden, mithin zulässig. In der Sache selbst bleibt sie jedoch ohne Erfolg.
Das Amtsgericht hat die ihm obliegende Aufklärungspflicht nicht verletzt, da es zutreffender weise von Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes ausgegangen ist. Die Aufzeichnung individueller Verkehrsvorgänge durch fest installierte Videoaufzeichnungsanlagen ist, jedenfalls wenn sie unter den vorliegend anzutreffenden Bedingungen erfolgt, mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 11.08.2009 ausgeführt hat. Die Aufzeichnung des Bildmaterials führt zur technischen Fixierung der beobachteten Vorgänge, die später zu Beweiszwecken abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden können, wobei eine Identifizierung von Fahrer und Fahrzeug beabsichtigt und technisch möglich ist. Derartige Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig, wenn hierfür eine gesetzliche Grundlage vorliegt. Eine solche Ermächtigungsgrundlage existiert nicht, wie auch die Rechtsbeschwerde nicht in Zweifel zieht.
Die Messdaten, deren Verwertung in Rede steht, wurden mithin unter Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot gewonnen. Ein solches zieht nach allgemeiner Auffassung im strafprozessualen Bereich nicht zwangsläufig ein Verwertungsverbot nach sich. Diese schwerwiegende verfahrensrechtliche Folge wird vielmehr nur in Ausnahmefällen als gerechtfertigt angesehen. Ein Beweisverwertungsverbot wird lediglich anerkannt, wenn dahingehende ausdrückliche gesetzliche Vorschriften bestehen oder wichtige übergeordnete Gründe dies gebieten. Ob letzteres der Fall ist, bestimmt sich jeweils nach den Umständen des Einzelfalles. In die in diesem Zusammenhang vorzunehmende Abwägung zwischen dem Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Verwertung aller in Betracht kommenden Beweismittel zum Zwecke der Aufklärung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten einerseits, den durch das Erhebungsverbot geschützten Individualinteressen andererseits sind insbesondere die Art des Erhebungsverbotes, das Gewicht des in Frage stehenden Verfahrensverstoßes und die Bedeutung der im Übrigen betroffenen Rechtsgüter einzustellen.
Vorliegend stellt sich der Verfahrensverstoß als schwerwiegend dar. Die angewandte Messmethode ist mit einem systematisch angelegten Eingriff in die Grundrechte einer Vielzahl von Personen verbunden. Sie war bereits konzeptionell so angelegt, dass sie mit einer über die herkömmlichen, anlassbezogen eingesetzten Abstands und Geschwindigkeitsmessverfahren weit hinausgehenden Gefahr einer Grundrechtsbeeinträchtigung einherging. Die Schwere des Eingriffs wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass er für den einzelnen Verkehrsteilnehmer nur bedingt wahrnehmbar ist, vielmehr bestätigt die mit einer Dauervideoüberwachung verbundene relative Heimlichkeit des Eingriffs dessen Schweregrad (vgl. hierzu Niehaus DAR 2009, 632, 635). Dass den einzelnen Polizeibeamten als Anwender kein persönlicher Verschuldensvorwurf treffen mag ist insoweit ebenso wenig von durchgreifender Bedeutung wie der Umstand, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf ministerieller Ebene zum Anlass genommen wurde, die rechtswidrige Verfahrensweise einzustellen. Die Verkehrsverstöße, zu deren Ahndung das Messverfahren eingesetzt wird – auch der im vorliegenden Fall in Rede stehende Verstoß – sind in der Regel nur von untergeordneter Bedeutung. Zwar trifft es zu, dass Abstandsunterschreitungen, insbesondere bei starker Verkehrsdichte und hohen Geschwindigkeiten, gefahrträchtig sind und nachhaltiger Verfolgung bedürfen, doch handelt es sich ungeachtet dessen jedenfalls im vorliegenden Falle um eine Ordnungswidrigkeit, welche dem unteren bis mittleren Schweregrad der Verkehrsordnungswidrigkeiten zuzuordnen ist und deren Verfolgung sich im konkreten Fall nicht als derart vordringlich darstellt, dass schwerwiegende Grundrechtseingriffe hinzunehmen wären. Die Frage, ob der Verkehrsverstoß auch bei hypothetisch rechtmäßigem Ermittlungsverlauf hätte gewonnen werden können, kann nicht ausschlaggebend sein. Der Umstand, dass die meisten Verkehrsverstöße auch in ordnungsgemäßer Weise durch den Einsatz entsprechender technischer Mittel nachgewiesen werden können, kann nicht zur Folge haben, dass Verfahrensverstößen in diesem Bereich, welche gerade damit einhergehen, dass mit hoher Streubreite der rechtlich geschützte Bereich einer Vielzahl von Verkehrsteilnehmern berührt ist, eine mindere Bedeutung zugemessen wird.
Rechtsfehler in der Sache sind ebenfalls nicht festzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.