Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Freiburg Urteil vom 27.01.2010 - 1 K 118/08 - Nur ausnahmsweise Anordnung einer MPU nach Nichtteilnahme an einem angeordneten Aufbauseminar
VG Freiburg v. 27.01.2010: Zum Absehen von einer MPU bei Entzug der Fahrerlaubnis wegen Nichtteilnahme am Aufbauseminar und zu den Ausnahmen hierzu
Das Verwaltungsgericht Freiburg (Urteil vom 27.01.2010 - 1 K 118/08) hat entschieden:
Gemäß § 4 Abs. 11 Satz 3 StVG entfällt die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, wenn die zur Wiedererteilung beantragte Fahrerlaubnis zuvor gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG wegen Nichtteilnahme an einem angeordneten Aufbauseminar entzogen worden ist.
Eine Ausnahme hiervon hat jedoch dann zu gelten, wenn die frühere Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar unzulässig war, weil wegen konkreter Eignungszweifel (hier: wiederholte vorsätzliche Straftaten gemäß § 6 PflVG ) die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zwingend gewesen wäre und mithin das Punktsystem gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG wegen der Notwendigkeit einer anderen Maßnahme nicht zur Anwendung hätte kommen dürfen.
Bestehen in einem solchen Ausnahmefall die Eignungszweifel im Zeitpunkt des Antrags auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis fort, so hat die Behörde nunmehr in Abweichung von § 4 Abs. 11 StVG das Gutachten anzufordern. Der Antragsteller kann sich in diesem Fall nicht wegen der früher tatsächlich zur Anwendung gelangten Punktsystem-Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG auf Vertrauensschutz berufen. Das öffentliche Interesse daran, möglicherweise ungeeignete Kraftfahrer durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung zu erkennen und vom Straßenverkehr fernzuhalten, überwiegt vielmehr sein (primäres) Interesse an einer Wiedererteilung der Fahrerlaubnis.
Siehe auch Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis.
Die 1959 geborene Klägerin erwarb am 31.1.1977 die Fahrerlaubnis der Klasse 3, die ab 1.1.1999 auf die Klassen B, C1E, L und M umgestellt wurde. Mit Bescheid vom 5.1.2004 forderte das Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis die Klägerin auf, bis zum 5.3.2004 an einem Aufbauseminar für verkehrsauffällige Kraftfahrer teilzunehmen und einen entsprechenden Nachweis vorzulegen. Zu Lasten der Klägerin waren zu diesem Zeitpunkt mit 16 Punkten bewertete Verkehrsverstöße im Verkehrszentralregister eingetragen. Darunter befanden sich neben zwei Ordnungswidrigkeiten (Überschreiten zulässiger Höchstgeschwindigkeit am 11.10.1999 und Rotlichtverstoß am 16.3.2000) zwei Straftaten (Tatzeiten: 15.11.2001 bzw. 25.9.2003) des vorsätzlichen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag, wegen der die Klägerin jeweils durch Strafbefehle des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen vom 14.1.2002 und vom 5.11.2003 rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Mit weiterer Entscheidung des Landratsamts Schwarzwald-Baar-Kreis vom 16.4.2004 wurde der Klägerin schließlich die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen, weil sie der Aufforderung vom 5.1.2004 nicht nachgekommen war; ein Rechtsmittel gegen die Entziehung erhob sie nicht.
Am 16.3.2006 beantragte die Klägerin die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Unter dem 19.4.2006 forderte das nunmehr zuständige Landratsamt Rottweil (LRA) den Nachweis eines Aufbauseminars bis zum 5.7.2006. Ferner wurde die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis zum 7.8.2006 gefordert und ein Hinweis auf die Rechtsfolgen des § 11 Abs. 8 FeV gegeben. Die Gutachtensanforderung begründete das Landratsamt damit, die Klägerin habe am 15.11.2001 und am 25.9.2003 jeweils Fahrten mit vorsätzlichem Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherung unternommen. Wegen dieser Auffälligkeiten werde gemäß §§ 20 Abs. 1, 11 Abs. 4 FeV das Gutachten gefordert. Dieses sei nach der Fragestellung zu fertigen, ob trotz der aktenkundigen Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr zu erwarten sei, dass die Klägerin die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1, Klasse B, im Verkehr erfülle.
Unter dem 6.6.2006 wies die Klägerin die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach und erklärte ferner ihr Einverständnis mit einer medizinisch-psychologischen Begutachtung durch den TÜV Süd. Die dorthin geschickten Fahrerlaubnisakten erhielt das Landratsamt Rottweil am 22.9.2006 mit dem Hinweis des TÜV zurück, bisher sei kein Untersuchungsauftrag erteilt worden. Hierauf hörte die Behörde unter dem 29.9.2006 die Klägerin zur beabsichtigten Ablehnung des Wiedererteilungsantrags an. Die Klägerin reagierte hierauf nicht.
Mit Entscheidung vom 19.10.2006, zugestellt am 23.10.2006, wurde der Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis abgelehnt. Zur Begründung führte das LRA an, bei der Ausübung des durch § 20 Abs. 1 FeV i.V.m. § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV eingeräumten Ermessens sei ausschlaggebend gewesen, dass die Klägerin am 15.11.2001 und 25.9.2003 zwei Straftatbestände verwirklicht habe, bei denen es sich jeweils um schwerwiegende Zuwiderhandlungen gehandelt habe.
Die Klägerin erhob am 14.11.2006 Widerspruch. Zur Begründung gab sie an, es fehle der Gutachtensanforderung an einer Ermessensausübung. Die Fahrerlaubnisbehörde habe versäumt, die angeführten strafrechtlichen Entscheidungen anzufordern; ein Eingehen auf deren Inhalt wäre erforderlich gewesen. Es sei nicht auszuschließen, dass trotz der Verurteilung für sie erheblich günstigere, mildere Umstände in den Urteilen dargelegt worden seien. Beispielsweise sei die Tat vom 25.9.2003 dadurch motiviert gewesen, dass sie während einer damals bestehenden Probezeit akut den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürchtet habe. An dem einzigen Tag, an dem sie das nicht versicherte Fahrzeug benutzt habe, habe sie keine andere Möglichkeit gesehen, zur Arbeitsstelle zukommen. Bei der Arbeitskollegin, die sie normalerweise mitgenommen habe, habe sie nicht mitfahren können. Auch der Chef, der in der Nähe gewohnt habe, habe sie damals nicht mitnehmen können.
Nachdem ein von der Widerspruchsbehörde vorgeschlagener Vergleich nicht zustande kam, wies das RP Freiburg den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2007, zugestellt am 19.12.2007, zurück. Zur Begründung wurde angeführt, das medizinisch-psychologische Gutachten sei gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV zu Recht angefordert worden. Eine Straftat nach dem Pflichtversicherungsgesetz sei eine schwerwiegende Verkehrszuwiderhandlung. Hierdurch habe die Klägerin in Kauf genommen, dass bei einem Unfall der Geschädigte keinen Ersatz erhalte, weil keine Deckung durch einen Haftpflichtvertrag bestehe und bei der möglichen Schadenshöhe bei Personenschäden in aller Regel ein Schadensersatz aus privaten Mitteln nicht möglich sei.
Die Klägerin hat am 18.1.2008 Klage erhoben, mit der sie ihre Widerspruchsgründe wiederholt. Ergänzend führt sie aus, wie sich aus der weiteren Alternative in § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV („Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial“) ersehen lasse, bedürfe es stets des Studiums der gerichtlichen Entscheidung. Während des Widerspruchsverfahrens habe das RP Freiburg unter Hinweis auf § 11 Abs. 3 Nr. 5 FeV Bedenken an der Rechtsauffassung des LRA geäußert, weil sie (die Klägerin) nicht schlechter gestellt werden dürfe, als wenn sie an einem Aufbauseminar teilgenommen hätte.
Die Klägerin beantragt,
die Entscheidung des Landratsamts Rottweil vom 19.10.2006 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 14.12.2007 aufzuheben und das beklagte Land zu verpflichten, ihr die beantragte Fahrerlaubnis zu erteilen;
ferner festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren notwendig gewesen ist.
Das beklagte Land beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es weist ergänzend darauf hin, die Fahrerlaubnisbehörde sei an die Feststellungen der Gerichte gebunden. Eventuell günstige und mildere Umstände seien bei der Strafzumessung von Bedeutung, während für die Beurteilung von Eignungszweifeln nur Art und Zahl der Verstöße maßgeblich seien. Bei Ausübung des Ermessens sei bedeutsam gewesen, dass die Klägerin zweimal dieselbe Straftat begangen habe. Dies sowie der Umstand, dass sie in zwei getrennten Verfahren bestraft worden sei, deute auf eine uninteressierte Haltung bezüglich Regeleinhaltung und der damit verbundenen Verkehrssicherheit hin. Auch die Tatsache, dass beide Taten vorsätzlich begangen worden seien, weise in diese Richtung. Es treffe nicht zu, dass die Anforderung eines Gutachtens und der anschließende Fahrerlaubnisentzug unterblieben wären, wenn die Klägerin das Aufbauseminar fristgerecht durchgeführt hätte; vielmehr wäre das Gutachten wegen der Straftaten und der dadurch begründeten Zweifel an der Fahreignung auch für diesen Fall erforderlich gewesen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den Akteninhalt (jeweils ein Heft des Landratsamts und des Regierungspräsidiums) verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist; denn hierauf wurde sie in der ordnungsgemäß bewirkten Ladung hingewiesen ( § 102 Abs. 2 VwGO ).
I.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis ist zu Recht abgelehnt worden, weil die Klägerin mangels Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen keinen Anspruch auf Erteilung hat ( § 113 Abs. 5 VwGO ).
Nach § 20 Abs. 1 FeV gelten für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften für die Ersterteilung. Ein Anspruch auf (Erst)Erteilung besteht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 StVG nur, wenn der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Nach § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 FeV ist geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen nur derjenige, der die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt. Zur Klärung der Eignung kann die Fahrerlaubnisbehörde nach § 2 Abs. 8 StVG i.V.m. § 11 Abs. 2 bis 4 FeV anordnen, dass der Antragsteller u.a. ein Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) beibringt, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen. Eine solche Anordnung ist hier ergangen. Da die Klägerin sich geweigert hat, ihr Folge zu leisten und das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten (MPG) beizubringen, ist die Fahrerlaubnisbehörde nach § 11 Abs. 8 FeV von ihrer Nichteignung ausgegangen. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ermächtigt die Fahrerlaubnisbehörde („darf“) zur Annahme, der Betreffende sei ungeeignet; die zwingende Rechtsfolge dieser Einschätzung folgt aus § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG bzw. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV ( VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.10.2004 – 10 S 475/04 –, DAR 2005, 352). Das LRA durfte aus der Weigerung der Klägerin, sich einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zu unterziehen, gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV allerdings nur dann auf ihre fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen, wenn die Gutachtensanordnung formell und materiell rechtmäßig war (zu dieser Voraussetzung: BVerwG, Urt. v. 9.6.2005 – 3 C 21/04 –, NJW 2005, 3440; Hartung, VBlBW 2005, 369, 371/372). Das ist hier zu bejahen.
1.) Die Anordnung vom 19.4.2006, ein MPG beizubringen, genügte den formellen Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV. Das LRA hat darin ausgeführt, dass die Frage der Kraftfahreignung der Klägerin zu klären sei, weil sie zwei vorsätzliche Straftaten in den Jahren 2001 und 2003 im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen habe. Die Anordnung enthält auch die erforderliche Fristsetzung, einen Hinweis auf die Kostenpflicht des Betroffenen und die Angabe, dass das Gutachten von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zu erstellen sei. Ferner ist die Fragestellung des Gutachtens angegeben und schließlich ist die Klägerin auf die Möglichkeit, in die Fahrerlaubnisakten Einsicht zu nehmen, sowie insbesondere die Folgen einer Weigerung, sich untersuchen zu lassen, oder einer nicht fristgerechten Vorlage des Gutachtens hingewiesen worden ( § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV ).
2.) Die Gutachtensanforderung ist auch materiell rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Anforderung des MPG ist die im Zeitpunkt der Anforderung am 19.4.2006 geltende (zum 1.2.2005 aufgrund VO v. 9.8.2004, BGBl. I S. 2092, in Kraft getretene) Fassung der FeV (vgl. für diesen maßgeblichen Zeitpunkt: Sächs. OVG, Beschl. v. 24.7.2008 – 3 B 18/08 –, juris; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 11 FeV Rnr. 24).
a.) Entgegen der Auffassung des LRA – allerdings rechtlich unschädlich (vgl. zum Auswechseln der Rechtsgrundlage: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.5.2004 – 10 S 2796/03 –, VBlBW 2004, 428; Hartung, a.a.O.) – findet die MPG-Anforderung ihre Rechtsgrundlage nicht in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV. Vielmehr ist die Aufklärung von Eignungszweifeln bei Neuerteilung der Fahrerlaubnis speziell in § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV geregelt.
Die Anwendung des § 11 Abs. 3 FeV war hier nicht durch das Punktsystem des § 4 StVG ausgeschlossen.
Allerdings trifft § 4 Abs. 11 StVG grundsätzlich eine Regelung für die Fälle der Wiedererteilung, in denen die Fahrerlaubnis zuvor gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG entzogen wurde, weil der Antragsteller einer Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht nachkam. Demgemäß darf eine Fahrerlaubnis (unbeschadet der übrigen Voraussetzungen) nur erteilt werden, wenn der Antragsteller nachweist, dass er an einem Aufbauseminar teilgenommen hat. Diesen Nachweis hat die Klägerin geführt, indem sie (wie unter dem 19.4.2006 ebenfalls gefordert) unter dem 6.6.2006 eine entsprechende Teilnahmebescheinigung vorgelegt hat. Ferner bestimmt § 4 Abs. 11 Satz 3 StVG, dass abweichend von Absatz 10 (der die vorangegangene Entziehung wegen 18 oder mehr Punkten betrifft) die Fahrerlaubnis ohne Einhaltung einer Sechsmonats-Frist und ohne die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung erteilt wird.
Die Anforderung eines MPG war hier gleichwohl nicht ausgeschlossen, denn § 4 Abs. 11 StVG kam ausnahmsweise nicht zur Anwendung. Die Regelungen über die Aufklärung von Eignungsbedenken wegen verkehrswidrigen Verhaltens stehen in einem Spannungsverhältnis zu § 4 StVG. Danach hat nämlich die Fahrerlaubnisbehörde zum Schutz vor den Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern ausgehen, die in § 4 Abs. 3 StVG genannten Maßnahmen des Punktsystems zu ergreifen. Das Punktsystem beinhaltet die Bewertung von Verkehrszuwiderhandlungen (Straftaten und Ordnungswidrigkeiten) mit einer nach Art und Schwere der Verstöße festgelegten Punktzahl und das Ergreifen abgestufter Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen oder Überschreiten bestimmter Punkteschwellen. Es bezweckt eine Vereinheitlichung der Behandlung von Mehrfachtätern und soll dem Betroffenen Gelegenheit geben, aufgetretene Mängel durch Aufbauseminare und verkehrspsychologische Beratung möglichst frühzeitig zu beseitigen. Das abgestufte und transparente System rechtfertigt die Annahme, dass Personen, die 18 Punkte oder mehr erreicht haben, als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sind. Aus dem Punktsystem ergibt sich aber auch, dass der Gesetzgeber bewusst die weitere Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen „Sündenregister“ in Kauf genommen und die Entziehung der Fahrerlaubnis von der zuvor eingeräumten Möglichkeit, Angebote und Hilfestellungen wahrzunehmen, abhängig gemacht hat. Hiervon darf nur bzw. muss abgewichen werden, wenn dies die Verkehrssicherheit und damit die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer gebieten. Das Punktsystem findet dementsprechend gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG keine Anwendung, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer Maßnahmen aufgrund anderer Vorschriften, insbesondere der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG, ergibt. Damit soll im öffentlichen Interesse (Schutzpflicht des Staates) sichergestellt werden, dass ungeeignete Kraftfahrer schon vor Erreichen von 18 Punkten im Verkehrszentralregister von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr wirksam ausgeschlossen werden oder besondere Eignungszweifel durch weitergehende Maßnahmen, wie z.B. eine medizinisch-psychologische Untersuchung, sofort geklärt werden können ( OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 27.5.2009 – 10 B 10387/09 –, juris; Dauer, a.a.O., § 4 StVG, Rnr. 18 m.z.N.).
Eine andere Maßnahme als die Teilnahme an einem Aufbauseminar war hier i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG bereits im Januar 2004 notwendig. Die Klägerin hatte im November 2001 und erneut im September 2003 vorsätzlich ihr Kraftfahrzeug benutzt, ohne dass dieses haftpflichtversichert war. Es handelte sich hierbei um zwei erhebliche Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr (vgl. die Bewertung mit 6 von 7 möglichen Punkten gemäß § 40 FeV i.V.m. Nr. 2.3 der Anlage 13). Schon die Tatsache, dass die Klägerin, obwohl bereits rechtskräftig bestraft („gewarnt“), nur knapp zwei Jahre später erneut den selben Verstoß begangen hatte, ließ erhebliche Zweifel an ihrer charakterlichen Eignung (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG ) aufkommen. Vollends durchschlagende Eignungszweifel ergaben sich jedoch aus den Umständen der beiden Straftaten. So wertete die Klägerin das Fahren ohne Versicherungsschutz im November 2001 absolut unverständlich und unkritisch dahin, „etwas geschlampert“ zu haben (vgl. den dem Strafbefehl vom 14.1.2002 zu Grunde liegenden Polizeibericht, GAS. 109). Anlass für dieselbe Straftat im September 2003 war eine Alltagssituation. Am Tattag hatte die Klägerin keine Mitfahrgelegenheit bei einer Arbeitskollegin oder dem Chef, um zum Arbeitsplatz zu gelangen (vgl. ihre eigenen Angaben im Widerspruchsverfahren, VAS 82 der LRA-Akten). Auch wenn dieser Vorfall sich in der Probezeit des damaligen Beschäftigungsverhältnisses ereignet haben mag, stand die Furcht der Klägerin um ihren Arbeitsplatz völlig außer Verhältnis zu dem Risiko, das sie durch die Fahrt mit einem nicht versicherten Kraftfahrzeug zu Lasten insbesondere anderer Verkehrsteilnehmer einzugehen bereit war. Alle diese Einzelheiten deuteten somit durchaus auf eine außergewöhnliche Charakterproblematik hin. Es durfte nicht davon ausgegangen werden, durch die Mitwirkung an einem Gruppengespräch und eine Fahrprobe könnten Mängel in der Einstellung zum Straßenverkehr erkannt und abgebaut werden (zu diesem Inhalt eines Aufbauseminars vgl. § 2 Abs. 8 Satz 1 StVG ). Daher hätte es im Januar 2004 bereits einer medizinisch-psychologischen Begutachtung bedurft, um eine konkret in Betracht kommende Persönlichkeitsproblematik der Klägerin aufzudecken oder auszuschließen. Rechtsgrundlage hierfür wäre § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV a.F. in Verbindung mit einer Ermessensreduktion auf Null gewesen.
Diese besonderen Gründe des Einzelfalles, die bereits im Januar 2004 eine Nichtanwendung des Punktsystems erfordert hätten, bestanden im April 2006 unverändert fort. Beide Straftaten der Klägerin waren im Verkehrszentralregister (VZR) eingetragen und mangels Tilgungsreife verwertbar (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 1, Abs. 6 Satz 1 StVG ). Das LRA Rottweil war folglich verpflichtet, von § 4 Abs. 11 StVG abzuweichen. Der Nachweis der Teilnahme an einem Aufbauseminar hätte folglich nicht gefordert werden dürfen. Gleichwohl ist dies für die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanforderung unerheblich. Die Klägerin kann sich weder im Zusammenhang mit dem behördlichen Vorgehen im Jahr 2004 noch mit demjenigen im Jahr 2006 auf Vertrauensschutz berufen. Das überragende öffentliche Interesse daran, möglicherweise ungeeignete Kraftfahrer durch eine medizinisch-psychologische Begutachtung zu erkennen und vom Straßenverkehr fernzuhalten, überwiegt das (primäre) Interesse der Klägerin an einer Wiedererteilung der Fahrerlaubnis.
b.) Die Voraussetzungen des somit einschlägigen § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV (i.V.m. § 20 Abs. 3 FeV a.F. bzw. Abs. 5 n.F.) lagen schließlich vor. Danach kann ein MPG angefordert werden, wenn u.a. (Nr. 5b) der Entzug der Fahrerlaubnis auf einem Grund nach Nr. 4 beruhte. Mit der Entziehung vom 16.4.2004 durch das Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis war eine „auf einem Grund nach Nummer 4 beruhende“ Maßnahme i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5b ) FeV getroffen worden. Denn die auf das Punktsystem in § 4 Abs. 7 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG gestützte Fahrerlaubnisentziehung ging auf die von der Klägerin zum Januar 2004 erreichten 16 Punkte zurück. Diesen Punkten wiederum lagen die im VZR erfassten beiden Ordnungswidrigkeiten (Überschreiten zulässiger Höchstgeschwindigkeit – 1 Punkt; Rotlichtverstoß – 3 Punkte) sowie die beiden Straftaten (Gebrauch eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugs – jeweils 6 Punkte) zugrunde. Hierbei handelte es sich um „erhebliche bzw. wiederholte Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften“ bzw. „Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen“ i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV a.F. (zur Auslegung dieser Begriffe vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 25.7.2001 – 10 S 614/00 –, NZV 2002, 604). Die gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG zwingende Fahrerlaubnisentziehung knüpfte folglich maßgebend an diese Verkehrsverstöße an, denn wegen dieser Verstöße hätte die Klägerin an einem Aufbauseminar teilnehmen sollen.
Aus denselben Gründen, die bereits im Januar 2004 die Notwendigkeit der Nichtanwendung des Punktsystems und einer Anforderung eines MPG ergeben hätten, war hier im Zeitpunkt des 19.4.2006 das Ermessen des LRA Rottweil, ein MPG zu fordern, aufgrund der Besonderheiten des Falles auf Null reduziert.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Kammer hat keinen Anlass, sie für vorläufig vollstreckbar zu erklären ( § 167 Abs. 2 VwGO ). Gründe für eine Zulassung der Berufung liegen nicht vor.