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OLG Düsseldorf Beschluss vom 15.03.2010 - IV-1 RBs 23/10 - Das Brückenabstandsmessverfahren ViBrAm ist nicht verfassungswidrig
OLG Düsseldorf v. 15.03.2010: Das Brückenabstandsmessverfahren ViBrAm ist nicht verfassungswidrig
Das OLG Düsseldorf (Beschluss vom 15.03.2010 - IV-1 RBs 23/10) hat entschieden:
Der mit dem Brücken-Abstands-Messverfahren ViBrAM verbundene Eingriff in die Individualrechte des Betroffenen beruht auf gesetzmäßiger Grundlage und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Für die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch den Einsatz der "Identitätskamera" ist in der – über § 46 Abs. 1 und 2 OWiG sinngemäß anwendbaren – Vorschrift des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO eine gesetzliche Grundlage vorhanden, die den verfassungsrechtlichen Geboten der Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit entspricht und deren Voraussetzungen mit der Anwendung des ViBrAM-Messsystems eingehalten werden.
Siehe auch Ungenehmigte Video-und Foto-Personenaufnahmen und deren Verwertung und Verwertungsverbote
Gründe:
Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 468,75 € und ein dreimonatiges Fahrverbot festgesetzt. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die zuständige Einzelrichterin hat die Sache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Bußgeldsenat in seiner Besetzung mit drei Richtern übertragen.
Die Rechtsbeschwerde ist auf Kosten des Betroffenen (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO) als unbegründet zu verwerfen, weil die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Beschwerderechtfertigung keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 2 und 3 StPO). Näherer Erörterung bedarf hierbei nur die – zulässig erhobene – Verfahrensrüge, mit der der Betroffene beanstandet, dass das Ergebnis der am Tattag durchgeführten Geschwindigkeitsmessung nicht hätte verwertet werden dürfen, weil das hierbei verwendete Video-Brücken-Abstands-Messverfahren (ViBrAM) ohne gesetzliche Grundlage in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreife.
Die Rüge ist unbegründet.
I.
Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils befuhr der Betroffene am 25. Januar 2009 um 11:59 Uhr mit einem Pkw die Bundesautobahn 3 in Fahrtrichtung Oberhausen bei Kilometer 91,210 im Bereich einer durch Verkehrszeichen angeordneten Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h. Er hielt hierbei eine Geschwindigkeit von 193 km/h ein, die mittels Weg-Zeit-Berechnung im ViBrAM-Verfahren ermittelt wurde. Bei diesem Verfahren wird zunächst der fließende Verkehr von Messbeamten der Polizei beobachtet und mit Hilfe einer an der Autobahnbrücke angebrachten "Übersichtskamera" aufgezeichnet, deren Bilder zwar eine Feststellung der Fahrzeugpositionen beim Überschreiten der für die Weg-Zeit-Berechnung erforderlichen Messlinien, nicht aber eine Identifizierung der jeweiligen Fahrzeugführer und -kennzeichen ermöglicht. Ergibt sich im Verlauf der Verkehrsbeobachtung der konkrete Verdacht einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder einer Nichteinhaltung des gebotenen Mindestabstandes, so löst der Messbeamte manuell eine "Identitätskamera" aus, die derart eingestellt und positioniert ist, dass sie den verdächtigen Fahrzeugführer und das Fahrzeugkennzeichen in identifizierbarer Weise ablichtet.
Entsprechend ist ausweislich der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils auch im vorliegenden Fall verfahren worden. Durch die Aufnahmen der "Identitätskamera" konnte der Betroffene als Täter der Geschwindigkeitsüberschreitung ermittelt werden.
II.
Entgegen der Ansicht des Betroffenen begegnet die Verwertung des Messergebnisses keinen Bedenken. Der mit dem festgestellten Messverfahren verbundene Eingriff in die Individualrechte des Betroffenen beruht auf gesetzmäßiger Grundlage und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2009, 3293) stellt die zu Beweiszwecken angefertigte Videoaufzeichnung im Straßenverkehr einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, sofern die Herstellung eines Personenbezuges (durch Identifizierung des Fahrzeugs sowie des Fahrers) mit Hilfe der Aufnahme sowohl beabsichtigt als auch technisch möglich ist. Dies trifft im vorliegenden Fall auf die Datenerfassung mit der "Identitätskamera" zu, durch deren Auslösung der Betroffene und das Kennzeichen des von ihm erfassten Fahrzeugs zwecks anschließender Täteridentifizierung in Nahaufnahme abgelichtet wurden.
2. Für die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch den Einsatz der "Identitätskamera" ist in der – über § 46 Abs. 1 und 2 OWiG sinngemäß anwendbaren – Vorschrift des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO eine gesetzliche Grundlage vorhanden, die den verfassungsrechtlichen Geboten der Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit (BVerfG NJW 2009, 3293, 3294 m.w.N.) entspricht und deren Voraussetzungen mit der hier festgestellten Anwendung des ViBrAM-Messsystems eingehalten wurden (ebenso OLG Bamberg NJW 2010, 100, 101 betr. Brückenabstandsmessverfahren VAMA; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Januar 2010 [4 Ss 1525/09] betr. Brückenabstandsmessverfahren ViBrAM-BAMAS; OLG Jena, Beschluss vom 6. Januar 2010 [1 Ss 291/09] betr. Bildaufnahme nach maschineller Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 18. Januar 2010 [14 L 2/10] betr. Videomessverfahren JVC/Piller; Krumm NZV 2009, 620, 621; aA 3. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Einzelrichterbeschluss vom 9. Februar 2010 [IV-3 RBs 8/10] betr. ViBrAM; Grunert DAR 2010, 28, 29).
a) § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO gestattet beim Verdacht einer Straftat die Herstellung von Bildaufnahmen – auch Videoaufzeichnungen (Meyer-Goßner, StPO, 52. Auflage [2009], § 100h Rdnr. 1) – außerhalb von Wohnungen zu Ermittlungszwecken. Weder aus dem Wortlaut und Sinngehalt der Norm noch aus deren Entstehungsgeschichte ergibt sich, dass die Maßnahme den in Absatz 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 für den Einsatz "sonstiger technischer Mittel" vorgesehenen besonderen Einschränkungen unterliegt, mithin nur für Observationszwecke bestimmt (so aber 3. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Einzelrichterbeschluss vom 9. Februar 2010 [IV-3 RBs 8/10]; KK-Nack, StPO, 6. Auflage [2008], § 100h Rdnr. 2; Meyer-Goßner, aaO, § 100h Rdnr. 1; Grunert DAR 2010, 28, 29) und nur bei Delikten von erheblicher Bedeutung zulässig sein soll (so wohl 3. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Einzelrichterbeschluss vom 9. Februar 2010 [IV-3 RBs 8/10]; Grunert DAR 2010, 28, 29). Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 12/989 S. 39) hat der Gesetzgeber bei der Einfügung des § 100h (§ 100c a.F.) in die StPO den Begriff "für Observationszwecke bestimmt" ausschließlich zur Definition der "technischen Mittel" im Sinne von Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 verwendet; er hat ferner die Anfertigung von Lichtbildern und Bildaufzeichnungen des Beschuldigten in der Öffentlichkeit als grundsätzlich zulässige Ermittlungsmaßnahme geringerer Eingriffsintensität angesehen, die bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots (vgl. hierzu § 100h Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StPO) keiner weitergehenden Einschränkung im Hinblick auf das Gewicht der zur Rede stehenden Straftat bedarf. Auf der Basis dieser – nach Ansicht des Senats verfassungsrechtlich unbedenklichen – Grundentscheidung des Gesetzgebers ist die Vorschrift über § 46 Abs. 1 und 2 OWiG als Ermächtigungsgrundlage auch für die Anfertigung von Lichtbildern der einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr verdächtigen Person zwecks Feststellung der Täteridentität anzusehen.
b) Die Eingriffsvoraussetzungen des § 100h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO waren im vorliegenden Fall gegeben. Ausweislich der Feststellungen des angefochtenen Urteils erfolgte die Herstellung der zur Identifizierung geeigneten Videoaufzeichnung des Betroffenen mittels Auslösung der "Identitätskamera" verdachtsbezogen. Sowohl der in § 100h Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StPO niedergelegte Subsidiaritätsgrundsatz als auch das allgemeine Verhältnismäßigkeitsgebot wurden hierbei beachtet. Angesichts der Eigenarten des fließenden Verkehrs – insbesondere auf Autobahnen – sind Frontalfotografien bzw. –aufzeichnungen des einer Verkehrsordnungswidrigkeit Verdächtigen zur Erforschung des Sachverhalts unentbehrlich, da eine Identifizierung des Täters auf andere Weise (durch Verfolgung, Anhalten und Festhalten zwecks Identitätsfeststellung) nur unter erschwerten Bedingungen erreichbar und sowohl für den Betroffenen selbst als auch für die Sicherheit des Straßenverkehrs mit gewichtigeren sowie gefährlicheren Eingriffen verbunden wäre (OLG Bamberg NJW 2010, 100, 101; Göhler, OWiG, 15. Auflage [2009], Vor § 59 Rdnr. 143, 145a).
3. Die dem Einsatz der "Identitätskamera" vorgelagerte Beobachtung des fließenden Verkehrs zwecks Erfassung der Fahrweise passierender Verkehrsteilnehmer zur Feststellung etwaiger Geschwindigkeits- oder Abstandsverstöße war durch den allgemeinen Ermittlungsauftrag der Verfolgungsbehörden (§§ 53 Abs. 1, 46 Abs. 2 OWiG i.V.m. §§ 161 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO) gedeckt (OLG Bamberg NJW 2010, 100, 101). Dies gilt auch, soweit sich die Einsatzbeamten mit dem Einsatz der ViBrAM-Messanlage in einer über die bloß visuelle Verkehrsbeobachtung hinausgehenden Weise technischer Hilfsmittel bedient haben, die den jeweiligen Verkehrsverstoß belegen und dauerhaft dokumentieren können. Die hierbei erfolgte Videoaufzeichnung des laufenden Verkehrs mittels der "Übersichtskamera" stellt keinen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der aufgenommenen Verkehrsteilnehmer dar (OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Januar 2010 [4 Ss 1525/09]; AG Saarbrücken, Urteil vom 11. November 2009 [22 OWi 901/09]; aA 3. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Einzelrichterbeschluss vom 9. Februar 2010 [IV-3 RBs 8/10]; Niehaus DAR 2009, 632, 633).
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Grundrechtsrelevanz von Geschwindigkeitsmessungen durch Videoaufzeichnung (NJW 2009, 3293, 3294) ausdrücklich offen gelassen, ob bloße Übersichtsaufnahmen des auflaufenden Verkehrs den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts tangieren. Für die hier zur Rede stehende Verwendungsart ist diese Frage zu verneinen. Wie sich aus den Feststellungen des Amtsgerichts und aus der über eine zulässige Bezugnahme gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Urteilsinhalt gewordenen Fotodokumentation ergibt, fertigt die "Übersichtskamera" aufgrund ihres Einstellwinkels und ihrer Entfernung zum Verkehrsgeschehen keine Aufnahmen an, die beim bloßen Abspielen eine personenbezogene Individualisierung einzelner Verkehrsteilnehmer zulassen. Dass die mit ihr gefertigten Aufzeichnungen das Verkehrsgeschehen als solches erfassen und – günstigstenfalls – markante Fahrzeugtypen und/oder die Anzahl der Fahrzeuginsassen erkennen lassen, begründet nach Ansicht des Senats ebenso wenig einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht (aA 3. Strafsenat des OLG Düsseldorf, Einzelrichterbeschluss vom 9. Februar 2010 [IV-3 RBs 8/10]) wie der von der bloßen Existenz einer derartigen Messanlage unter Umständen ausgehende "psychische Überwachungsdruck" (aA Niehaus DAR 2009, 632, 633). Auch kommt es nicht auf die – im angefochtenen Urteil unerörtert gebliebene – Frage an, ob eine nachträgliche Bearbeitung der "Übersichtsaufnahmen" mit dem Ziel einer Kenntlichmachung individueller Merkmale wie der Fahrerphysiognomie oder des Fahrzeugkennzeichens technisch denkbar wäre. Zwar kann unter dem Aspekt etwaiger Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten beim heute erreichten Stand der elektronischen Datenverarbeitung auch die Erhebung von Daten mit für sich genommen nur geringem personenbezogenen Informationsgehalt – je nach Verwendungskontext – grundrechtserhebliche Relevanz besitzen (BVerfG NJW 2007, 2464, 2466; NJW 2008, 1505, 1506). Der im vorliegenden Fall gegebene Verwendungskontext sieht derartige Auswirkungen aber gerade nicht vor, denn die konkrete Zweckbestimmung der "Übersichtskamera" beschränkt sich nach Anlagenkonzeption und Nutzungsart auf eine rein visuelle Auswertung, die gerade keine Individualisierung herstellt oder benötigt. Die im regulären Arbeitsablauf nicht vorgesehene, allenfalls unter Einsatz zusätzlicher technischer Mittel hypothetisch denkbare Möglichkeit des Missbrauchs durch eine Entwicklung persönlicher Daten aus den "Übersichtsaufnahmen" verleiht der Maßnahme als solcher keine Eingriffsqualität im Hinblick auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht (AG Saarbrücken, Urteil vom 11. November 2009 [22 OWi 901/09]; aA Niehaus DAR 2009, 632, 633).
III.
Für ein Vorlageverfahren nach dem in Bußgeldsachen entsprechend anwendbaren § 121 Abs. 2 GVG gibt der hier zur Rede stehende Sachverhalt keinen Anlass, da ein Fall der entscheidungserheblichen Außendivergenz nicht vorliegt. Die Entscheidung des Senats steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte, die verdachtsabhängige personenbezogene Videoaufzeichnungen mit Geräten der hier zur Rede stehenden Art für zulässig erachten (vgl. die Nachweise im obigen Text zu II 2). Ein Beweiserhebungsverbot mangels gesetzlicher Grundlage wurde in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung bislang nur für anlassunabhängige personenbezogene Videoaufnahmen – und damit auf der Basis eines anders gelagerten Sachverhalts – in Betracht gezogen (OLG Dresden, Beschluss vom 2. Februar 2010 [Ss OWi 788/09]; OLG Hamm, Beschluss vom 22. Dezember 2009 [1 Ss OWi 960/09] und OLG Oldenburg, Beschluss vom 27. November 2009 [Ss Bs 186/09], jeweils betr. VKS Vidit 3.01). Der einzigen insoweit weitergehenden Entscheidung des 3. Strafsenats des OLG Düsseldorf vom 9. Februar 2010 (IV-3 RBs 8/10), die als Einzelrichterbeschluss ergangen ist und den Fall einer ViBrAM-Messanlage der auch hier verwendeten Art betrifft, vermag der Senat in keinem Punkt zu folgen. Diesbezüglich liegt aber nur der Fall einer nach § 121 Abs. 2 GVG unbeachtlichen Innendivergenz vor.