Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 12.08.2010 - 12 U 215/09 - Zur Haftung des vom Fahrbahnrand Anfahrenden bei Kollision mit Fahstreifenwechsler bei Ermöglichung des Anfahrens
KG Berlin v. 12.08.2010: Zur Haftung des vom Fahrbahnrand Anfahrenden bei Kollision mit Fahstreifenwechsler bei Ermöglichung des Anfahrens
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 12.08.2010 - 12 U 215/09) hat entschieden:
- Wer vom Fahrbahnrand anfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Kann der vom Fahrbahnrand Anfahrende wegen eines im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw nicht übersehen, dass er den fließenden Verkehr nicht gefährdet, so darf er sich vorsichtig auf die Fahrbahn hineintasten bis er die Übersicht hat (entsprechend § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO).
- Kollidiert ein vom Fahrbahnrand anfahrendes Fahrzeug , dem ein im rechten Fahrstreifen befindlicher Pkw durch sein Anhalten das Anfahren ermöglicht hat, mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das den im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw links überholt hat, so haftet der Anfahrende allein, selbst wenn der Überholer dann wieder nach rechts eingeschert ist.
- Der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden hat keine Bedeutung zu Lasten anderer, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigter Fahrzeuge.
Siehe auch Anfahren vom Fahrbahnrand / Einfahren in den fließenden Verkehr und Verzicht auf das Vorfahrtrecht - Vorrangverzicht
Gründe:
I.
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die Berufungsbegründung nicht entkräftet werden.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
a) Zutreffend hat das Landgericht auf die Sorgfaltspflichten beim Anfahren vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) hingewiesen. § 10 StVO ordnet an, dass der Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. Vom Anfahrenden wird damit äußerste Sorgfalt gefordert (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., StVO § 10 Rdnr. 10 m. w. N.).
Diese äußerste Sorgfalt hat der Kläger nicht eingehalten; zutreffend hat das Landgericht auf den gegen ihn sprechenden Beweis des ersten Anscheins hingewiesen, den er nicht erschüttert oder widerlegt hat. Es kann dahinstehen, ob der Kläger tatsächlich Wenden wollte oder nicht, jedenfalls steht nach der Aussage des Zeugen fest, dass der Kläger sich nicht mit größter Sorgfalt in die Fahrbahn hineingetastet hat. Denn „Hineintasten“ im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO (Pflichten des Wartepflichtigen gegenüber dem Bevorrechtigten, die für die hohen Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO entsprechend gelten) bedeutet nicht langsam fahren, sondern zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; Senat NZV 1999, 85 = KGR 1999, 315; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Auflage, StVO § 8 Rdnr. 58); das bedeutet ein Vorrollen um jeweils nur wenige Zentimeter, danach ein Anhalten und ein mehrfaches Wiederholen dieses Vorgangs über einen längeren Zeitraum. Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum Übersichtspunkt ohne Unterbrechung vorrollt (vgl. Senat, KGR 2003, 235 = VRS 105, 104 = NZV 2003, 575; KGR 2000, 135 = DAR 2000, 260 = NZV 2000, 377 = VM 2000, 67 Nr. 77).
Der vom Landgericht angehörte Kläger hat gerade nicht bestätigt, dass er die ihm beim Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat. Seiner Aussage kann nicht entnommen werden, dass er zentimeterweise bis zum Übersichtspunkt vorgerollt ist mit der Möglichkeit sofort anzuhalten. Seiner Aussage kann auch nicht entnommen werden, dass er jeweils nur um wenige Zentimeter vorgerollt ist, danach angehalten hat und diesen Vorgang über einen längeren Zeitraum mehrfach wiederholt hat. Vielmehr ist der Aussage des Klägers zu entnehmen, dass er, statt sich in den Verkehr hineinzutasten, im Hinblick auf die Lichthupe des Zeugen aus der Parklücke hinausgefahren ist.
Auch aus der Aussage des Zeugen Ö. ergibt sich nicht, dass der Kläger die ihm beim Anfahren vom Fahrbahnrand obliegenden äußersten Sorgfaltspflichten beachtet hat. Vielmehr ergibt sich aus dieser Aussage, dass der Kläger „aus der Parklücke herausgefahren ist“. „Hineintasten“ im Sinne des § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO kann auch dieser Aussage nicht entnommen werden.
b) Gegenüber der Sorgfaltspflichtverletzung des in den Verkehr einfahrenden tritt die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVO zurück (vgl. Senat, VM 2001, 27 Nr. 31 = KGR 2001, 27 = DAR 2001, 34 L; ständige Rechtsprechung, vgl. Hentschel, a. a. O., StVG § 17 Rdnr. 18). Aus diesem Grund kommt es auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob der Unfall bei Einhaltung der äußerst möglichen Sorgfalt eines idealen Fahrers hätte abgewendet werden können, vorliegend nicht an.
Umstände und Tatsachen, aus denen ein Mithaftungsanteil der Beklagten wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 1) abzuleiten ist, sind nicht festzustellen. Auch der Aussage des Zeugen Ö. sind solche Sorgfaltspflichtverletzung nicht zu entnehmen.
Den Beklagten zu 1) trifft ein Mitverschulden am Unfall weder unter dem Gesichtspunkt eines Überholens in unklarer Verkehrslage (nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verboten) noch wegen eines sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsels (§ 7 Abs. 5 StVO).
aa) Zunächst ist hervorzuheben, dass der Beklagte zu 1) zwar das verkehrsbedingt wartende Fahrzeug des Zeugen Ö. im Rechtssinne „überholt“ hat, nicht aber das Fahrzeug des Klägers. Denn „Überholen“ im Sinne des § 5 StVO ist der tatsächliche absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (vgl. Hentschel, a. a. O., StVO § 5 Rdnr. 16 m. w. N.). Das Fahrzeug des Klägers hat im Unfallzeitpunkt weder verkehrsbedingt gewartet noch sich in derselben Richtung wie das vom Beklagten zu 1) geführte Kraftfahrzeug bewegt, sondern ist vom Fahrbahnrand angefahren.
Auch bezwecken selbst Überholverbote nicht den Schutz des aus einem Grundstück durch eine Lücke in einer Kolonne in die Fahrbahn einfahrenden Verkehrsteilnehmers (vgl. Senat, Urteile vom 12. Februar 1998 - 12 U 5603/96 -, NZV 1998, 376 = VersR 1999, 1382 = VM 1998, 76 Nr. 94 = KGR 1998, 229). Entsprechendes gilt erst recht gegenüber vom Fahrbahnrand anfahrenden Verkehrsteilnehmern.
Abgesehen davon, dass das Verbot, in unklarer Verkehrslage zu überholen, nicht den Kläger als Ausparkenden schützt, liegen auch die Voraussetzungen für ein solches Überholverbot im Streitfall nicht vor: Eine „unklare Verkehrslage“, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO das Überholen verbietet, liegt vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf; sie ist insbesondere dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden; dies ist der Fall, wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war. Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat DAR 2002, 557 = VRS 103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259, Ls. = MDR 2003, 507).
All dies ist hier nicht gegeben.
bb) Auch aus einem etwaigen sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 3) nach rechts folgt keine Mithaftung der Beklagten; denn die Sorgfaltsvorschrift des § 7 Abs. 5 StVO schützt nicht den Ausparker: Wer vom Fahrbahnrand anfährt oder von einem anderen Straßenteil in die Fahrbahn einfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muss stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Kommt es in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand zu einer Kollision mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das nach rechts den Fahrstreifen wechselt, ohne den Anfahrenden rechtzeitig erkennen zu können, so haftet der Anfahrende allein; denn der Schutzzweck des § 7 Abs. 5 StVO dient nicht dem ruhenden Verkehr oder dem Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer (Senat, DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004, 282 = NZV 2004, 623; OLG München, NJW-RR 1994, 1443; Hentschel, a.a.O., StVO § 7 Rdnr. 17; Haarmann VersR 1986, 667).
2. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass der Verzicht eines vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmers (hier. Zeuge Ö.) auf sein Vorrecht gegenüber einem vom Fahrbahnrand Anfahrenden keine Bedeutung hat zu Lasten anderer, gegenüber dem Ausparkenden bevorrechtigter Fahrzeuge (vgl. Senat, DAR 1971, 237; MDR 1981, 1023 = VersR 1982, 583).
cc) Unerheblich ist auch, dass der Beklagte zu 1) die Fahrbahnmarkierung in der Straßenmitte überfahren hat. Diese Markierung dient dem Schutz des Gegenverkehrs, nicht aber dem Schutz von in gleicher Fahrtrichtung vom Fahrbahnrand anfahrender Fahrzeuge.
dd) Letztendlich wird zur Frage der Haftungsverteilung im Fall der Kollision des vom Fahrbahnrand anfahrenden mit einem nach Überholvorgang auf den rechten Fahrstreifen einscherenden Fahrzeug auf die bereits vom Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zitierten Entscheidung des Senats vom 4. Januar 2006 - 12 U 202/05 - (NZV 2006, 369-371 = VRS 110, 343-346 (2006) = ZfSch 2006, 440-442 hingewiesen. Der Leitsatz dieser Entscheidung lautet:
Wer vom Fahrbahnrand anfährt, hat sich nach § 10 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Anfahrende darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt, sondern muss stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen.
Kollidiert ein vom Fahrbahnrand anfahrendes Fahrzeug, dem ein im rechten Fahrstreifen befindlicher Pkw durch sein Anhalten das Anfahren ermöglicht hat, mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs, das den im rechten Fahrstreifen stehenden Pkw links überholt hat und dann nach rechts wieder eingeschert ist, so haftet der Anfahrende allein.
Denn weder wurde der Anfahrende "überholt" im Sinne des § 5 StVO noch liegt ein Überholen in einer unklaren Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) vor; darüber bezwecken weder Überholverbote noch § 7 Abs. 5 StVO den Schutz vom Fahrbahnrand anfahrender Verkehrsteilnehmer.
II.
Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist nicht erforderlich.
III.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
IV.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 6.513,24 € festzusetzen.