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Landgericht Magdeburg Urteil vom 05.07.2010 - 10 O 602/10 - Zum Vertrauensschutz des Verkehrsteilnehmers auf die Funktionstüchtigkeit von Bahnschranken und Bahnblinklicht

LG Magdeburg v. 05.07.2010: Zum Vertrauensschutz des Verkehrsteilnehmers auf die Funktionstüchtigkeit von Bahnschranken und Bahnblinklicht


Das Landgericht Magdeburg (Urteil vom 05.07.2010 - 10 O 602/10) hat entschieden:

  1.  Die Haftung des Betriebsunternehmers einer Schienenbahn nach § 1 Abs. 1 des Haftpflichtgesetzes (HPflG) ist nicht nach § 1 Abs. 2 (HPflG) aufgrund von höherer ausgeschlossen, wenn die Halbschranken und Blinklichter des Bahnübergangs nur deshalb nicht funktioniert haben, weil rund zwei Stunden vor dem Zusammenstoß ein anderer Verkehrsteilnehmer mit seinem Fahrzeug den Schaltkasten der Schrankenanlage beschädigt hat.

  2.  Ein Verkehrsteilnehmer darf bei einem beschrankten Bahnübergang auf die Funktionstüchtigkeit der Halbschranken und des Blinklichts vertrauen, sofern sich dem Verkehrsteilnehmer etwaige Zweifel an der Funktionstüchtigkeit nicht erkennbar aufdrängen.


Siehe auch
Bahnübergang - Bahngleisunfall - Bahnschranke
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung

Tatbestand:


Der Kläger begehrt vom beklagten Eisenbahnverkehrsunternehmen in der Rechtsform einer GmbH Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls an einem Bahnübergang.

Der Kläger ist Halter eines Kraftfahrzeugs. Mit diesem befuhr Frau K am 25. Oktober 2009 um 12.35 Uhr die Ortslage O und wollte einen Bahnübergang an der Bahnstrecke M-H passieren. Die Halbschranken des Bahnübergangs waren geöffnet. Weder das Blinklicht der Andreaskreuze noch die an den Halbschranken angebrachten Blinklichter waren in Betrieb, als sich Frau K dem Bahnübergang näherte. Eine ungehinderte Sicht auf das Bahngleis war ihr aufgrund von Bäumen und Büschen erst 3 Meter vor dem Bahngleis möglich. Als Frau K - aufgrund einer Bodenwelle in der Straße mit herabgesetzter Geschwindigkeit von rund 20 km/h - zum Überqueren des Bahngleises ansetzte, stieß sie mit einer aus zwei Triebfahrzeugen gebildeten Zugeinheit der Beklagten zusammen, die sich dem Bahnübergang mit einer Geschwindigkeit von rund 100 km/ h aus Richtung H näherte. Für den Triebfahrzeugführer war der Bahnübergang durch ein am Bahngleis aufgestelltes Lichtsignal „Bü“ gekennzeichnet. Nachdem der Triebfahrzeugführer bemerkt hatte, dass die Halbschranken nicht geschlossen waren, leitete er umgehend eine Vollbremsung ein.




Wie sich später herausstellte, funktionierten weder die Halbschranken noch die Blinklichter, weil rund zwei Stunden vor dem Zusammenstoß des Fahrzeugs des Klägers mit der Zugeinheit der Beklagten ein anderes Fahrzeug den Schaltkasten des Bahnüberganges beschädigt hatte. Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes führte ein Mechaniker gerade Arbeiten an der Anlage aus. Die Infrastrukturanlagen der Bahnstrecke stehen im Eigentum der DB Netz AG, die Beklagte betreibt auf der Strecke lediglich einen Zugverkehr.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob das Signal dem Triebfahrzeugführer die Weiterfahrt gestattete. Der Kläger behauptet, das Signal habe funktioniert und dem Triebfahrzeugführer angezeigt, dass die Schranken des Bahnüberganges nicht geschlossen gewesen seien. Der Triebfahrzeugführer habe dieses Signal missachtet, so dass ein Verschulden vorliege.

Der Kläger macht Ersatz für den an seinem Fahrzeug entstandenen Schaden sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten geltend. Der Sachschaden beläuft sich auf 5.700 Euro (Wiederbeschaffungswert), die Gutachterkosten auf 497,09 Euro. Für das Bergen und Abschleppen sind Kosten von 1.115,63 Euro entstanden. Seinen Nutzungsausfall beziffert der Kläger für 20 Tage mit 700 Euro. Zusammen mit Kraftstoffkosten über 183,34 Euro, Kosten für die An- und Abmeldung des alten und neuen Fahrzeugs über 10,70 Euro und 45,20 Euro, den Nummernschildern für das neue Fahrzeug über 35,00 Euro sowie einer Pauschale von 25,00 Euro ergebe sich ein Gesamtschaden von 8.311,96 Euro.

Der Kläger beantragt deshalb,

   die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 8.311,96 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11. Januar 2010 und weitere 718,40 Euro nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

   die Klage abzuweisen.

Das Signal „Bü“ habe dem Triebfahrzeugführer die Weiterfahrt gestattet. Weder der Triebfahrzeugführer noch die Beklagte habe den Zusammenstoß verhindern können. Deshalb liege ein „unabwendbares Ereignis“ im Sinne des Haftpflichtgesetzes vor, welches eine Inanspruchnahme der Beklagten ausschließe. Außerdem bestreitet die Beklagte den Umfang des geltend gemachten Nutzungsausfalls.

Am 13. Juli 2010 hat Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. Zum Inhalt der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen und verwiesen (Bl. 60 f. d.A.). Für Einzelheiten wird im Übrigen auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen und verwiesen.




Entscheidungsgründe:


I.

Die zulässige Klage ist im Wesentlichen begründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 1 Abs. 1 Haftpflichtgesetz (HPflG) in Höhe von 8.068,62 Euro zu.

Dieser Anspruch beruht auf Gefährdungshaftung und ist von einem Verschulden der Beklagten unabhängig. Die Kammer brauchte deshalb nicht der Frage nachzugehen, ob und inwieweit das Signal „Bü“ dem Triebfahrzeugführer der Beklagten die Weiterfahrt gestattete. Allein der Umstand, dass die Beklagte Zugverkehr betreibt und das Schadensereignis – wie § 1 Abs. 1 HPflG es fordert – „bei dem Betrieb einer Schienenbahn“ eingetreten ist, führt zu einer Haftung der Beklagten. Es kommt nicht darauf an, ob dem Triebfahrzeugführer der Beklagten und damit in zurechenbarer Weise der Beklagten ein rechtswidriges Handeln vorgeworfen werden kann oder nicht.

Auch die übrigen Voraussetzungen von § 1 Abs. 1 HPflG liegen vor.

Anders als die Beklagte meint, ist ihre Haftung nicht nach § 1 Abs. 2 HPflG ausgeschlossen. Nach § 1 Abs. 2 HPflG tritt die Ersatzpflicht nach § 1 Abs. 1 HPflG nicht ein, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht ist. Ein Fall von höherer Gewalt liegt nicht vor. Höhere Gewalt ist nach überkommener Definition der Rechtsprechung ein „betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführten Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist“ (vgl. Filthaut , Haftpflichtgesetz, 7. Aufl. 2006, § 1, Rn. 158 mwN.). Dieser Auslegung schließt sich die Kammer an. Unzweifelhaft handelt es sich um eine betriebsfremde Einwirkung von außen, denn die Funktionsuntüchtigkeit des Bahnüberganges ist auf eine Beschädigung des Schaltkastens durch ein drittes Fahrzeug zurückzuführen. Allerdings handelt es sich hierbei weder um ein außergewöhnliches noch um ein unabwendbares Ereignis, so dass „höhere Gewalt“ nicht vorliegt. Außergewöhnlich ist ein Ereignis dann, wenn es in seinem Ausnahmecharakter einem elementaren Ereignis gleichkommt (vgl. Filthaut , aaO., Rn. 174). Die Kammer vermag einen solchen Ausnahmecharakter nicht zu erkennen. Der Umstand, dass technische Anlagen der Bahn manipuliert oder beschädigt werden, ist nicht völlig unvorhersehbar oder ganz plötzlich. Gilt diese Einschätzung bereits für die bewusste Sabotage von Bahnanlagen (vgl. insoweit auch das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 26. Juni 2009, Az. 10 O 2152/06 – zitiert nach juris), muss das auch in Fällen unbewusster Beschädigungen gelten. Befinden sich Schaltanlagen – - wie hier – zur besseren Zugänglichkeit unmittelbar neben Straßen, ist damit zu rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer – möglicherweise auch unwissentlich – mit ihren Fahrzeugen bei entsprechenden Fahrzeugbewegungen die Schaltkästen berühren und beschädigen können. Ebenso wenig war das Ereignis unabwendbar. Der Zweck des in § 1 Abs. 2 HPflG normierten Haftungsausschlusses liegt darin, dem Betriebsunternehmer im Rahmen seiner Gefährdungshaftung nicht solche Risiken aufzubürden, die ihn wirtschaftlich unverhältnismäßig belasten würden. Gleichwohl geht das Gesetz davon aus, dass die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung jeden Betreiber einer Schienenbahn dazu anhält, alles Zumutbare zu unternehmen, um das mit dem Betrieb einer Schienenbahn verbundene Gefahrenpotential so gering wie möglich zu halten. In diesem Sinne liegt nur dann ein unabwendbares Ereignis vor, wenn es mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann. Das ist bei dem vorliegenden Sachverhalt nicht geschehen. Die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Unfalls von einem hinzu gerufenen Mechaniker Arbeiten ausgeführt wurden, lässt darauf schließen, dass der Beklagten das erste schädigende Ereignis, nämlich die Beschädigung des Schaltkastens, bekannt gewesen war oder hätte bekannt sein können, als es zum streitgegenständlichen zweiten Schadensereignis gekommen war. Werden an einem Bahnübergang Arbeiten ausgeführt, hätte die Beklagte die ihr obliegende Sorgfalt eines Betriebsunternehmers anwenden und bei einer Aufrechterhaltung des Zugverkehrs auf dem betroffenen Streckenabschnitt wenigstens dafür Sorge tragen müssen, dass die Triebfahrzeugführer dort verkehrender Züge auf den möglichen Ausfall des Bahnübergangs – auch außerhalb einer Signalisierung unmittelbar an der Bahnstrecke – hingewiesen und dazu aufgefordert werden, sich dem Bahnübergang ausschließlich mit einer herabgesetzten Geschwindigkeit zu nähern, damit Zusammenstöße zwischen Zügen und Kraftfahrzeugen vermieden werden. Diese Maßnahme ist entweder über speziellen Funkverkehr oder über Mobiltelefon technisch möglich und wirtschaftlich tragbar, so dass der Beklagten nichts Unzumutbares abverlangt wird. Es hätte sich ebenfalls angeboten, den Bahnübergang kurzzeitig mit einem Schrankenposten zu versehen, um ein gefahrloses Passieren des Bahnübergangs sicherzustellen. Unter Umständen hätte die Beklagte auch den V vorläufig einstellen müssen. Ob die Beklagte Ausgleich nach § 13 HPflG deswegen verlangen kann, weil die Netzbetreiberin es unterlassen haben könnte, die Beklagte rechtzeitig über den Ausfall der Bahnübergangsanlage zu informieren, steht auf einem anderen, hier nicht zur Beurteilung anstehenden Blatt.


Anhaltspunkte für ein nach § 4 HPflG zu berücksichtigendes mitwirkendes Verschulden des Klägers liegen nicht vor, so dass die Beklagte in voller Höhe haftet. Zum einen hat die Beklagte hierfür keinerlei Tatsachen dargetan. Zum anderen ergibt sich das auch nicht aus dem klägerischen Vortrag. Die Kammer vertritt die Ansicht, dass ein Verkehrsteilnehmer bei einem beschrankten Bahnübergang auf die Funktionstüchtigkeit der Halbschranken und des Blinklichts vertrauen darf, sofern sich dem Verkehrsteilnehmer etwaige Zweifel an einer Funktionstüchtigkeit nicht erkennbar aufdrängen. Anhaltspunkte dafür, dass Frau K erkennen konnte, dass die Anlage nicht ordnungsgemäß funktionieren würde, sieht das Gericht nicht. Ob Frau K den Mechaniker wahrgenommen hat, konnte offen bleiben. Einem Verkehrsteilnehmer ist es nach Ansicht der Kammer nicht zuzumuten, sachgedanklich Zusammenhänge zwischen (für ihn erkennbaren) Arbeiten an einem Schaltkasten und der Funktionsfähigkeit einer dazu gehörenden Anlage herzustellen. Nimmt ein Verkehrsteilnehmer einen Mechaniker wahr, der an einem Schaltkasten arbeitet, und ist die dazu gehörende Anlage nicht vorübergehend erkennbar gesperrt, darf ein Verkehrsteilnehmer annehmen, dass die Arbeiten auf die Funktionsfähigkeit der Anlage keine Auswirkungen haben und die Anlage ordnungsgemäß funktioniert.

Die Ersatzfähigkeit des geltend gemachten Schadens richtet sich nach §§ 249 ff. BGB. Danach sind dem Kläger Kosten in Höhe von 5.700 Euro, Gutachterkosten in Höhe von 497,09 Euro, Abschlepp- und Bergekosten in Höhe von 1.115,63 Euro sowie – neben einer Pauschale über 25,00 Euro – Kosten im Zusammenhang mit der Ab- und Anmeldung in Höhe von 90,90 Euro entstanden und dementsprechend von der Beklagten zu ersetzen.



Zu ersetzen sind dem Kläger auch jene Kraftstoffkosten, die ihm zur Wiederbeschaffung eines Fahrzeugs in N/ D entstanden sind. Unabhängig davon, wo der Beklagte getankt hat, legt das Gericht dessen im Termin erfolgte Angaben zugrunde. Die Beklagte ist dem nicht substantiiert entgegengetreten. Im Einzelnen schätzt das Gericht die Kraftstoffkosten aber wie folgt (§ 287 Abs. 1 ZPO): Die Hin- und Rückfahrt zwischen dem Wohnort des Klägers und N/ D nimmt das Gericht mit rd. 1.150 Kilometern an. Bei einem Kraftstoffpreis im Dezember 2009 von höchstens 1,45 Euro je Liter (Superbenzin) und einem Verbrauch von höchstens 9 Litern/ 100 km ergeben sich Kosten von rechnerisch 150,075 Euro und damit rund 150 Euro. Im Übrigen, d.h. in Höhe von 33,34 Euro, erweist sich das Begehren als überhöht und unbegründet.

Die Wiederbeschaffungsdauer beziffert der vom Kläger eingeschaltete Gutachter mit voraussichtlich 12 bis 14 Tagen (Bl. 24 d.A.). Ein Nutzungsausfall für die Dauer von 20 Tagen ist vor diesem Hintergrund nicht nachzuvollziehen, so dass die Kammer lediglich einen Nutzungsausfall für höchstens 14 Tage anerkennt. Im Umfang von 6 Tagen à 35 Euro (= 210 Euro) war die Klage deshalb ebenfalls abzuweisen.

Die übrigen Positionen ergeben sich aus §§ 286, 288, 280 BGB.

II.

Die Nebenentscheidungen resultieren aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, 709 Satz 2 ZPO.

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