Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Urteil vom 18.05.2010 - 9 K 851/10 - Für das Erreichen von 18 Punkten ist das sog. Tattagsprinzip maßgeblich

VG Gelsenkirchen v. 18.05.2010: Für das Erreichen von 18 Punkten ist das sog. Tattagsprinzip maßgeblich


Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Urteil vom 18.05.2010 - 9 K 851/10) hat entschieden:
Für die Frage nach dem Erreichen der 18 Punkteschwelle müssen die der Entziehung vorgeschalteten Maßnahmen den Betroffenen noch so rechtzeitig erreichen müssen, dass sie bei ihm überhaupt noch eine Verhaltens- und Einstellungsänderung bewirken können. Daher ist auf das Tattagprinzip abzustellen, um die nach dem Punktsystem erforderliche Warnung an den Mehrfachtäter und die Möglichkeit einer sich daran anschließenden Verhaltensänderung sicherzustellen.


Siehe auch Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht


Tatbestand:

Der Kläger war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen 3 und 1.

Mit Schreiben vom 18. Oktober 2006 unterrichtete das Kraftfahrt-Bundesamt den - seinerzeit örtlich zuständigen - Oberbürgermeister der Stadt I. darüber, dass für den Kläger folgende Verkehrsverstöße in das Verkehrszentralregister eingetragen seien:
  • Unterlassen der Vorführung zur Hauptuntersuchung; Tattag: 19. September 2005; Entscheidung: 21. Oktober 2005; Rechtskraft: 17. November 2005; 2 Punkte.

  • Unterlassen der Vorführung zur Hauptuntersuchung; Tattag: 27. September 2005; Entscheidung: 2. November 2005; Rechtskraft: 19. November 2005; 2 Punkte.

  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 21. Oktober 2005; Entscheidung: 31. Oktober 2005; Rechtskraft: 17. November 2005; 1 Punkt.

  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 9. Februar 2006; Entscheidung: 7. März 2006; Rechtskraft: 25. März 2006; 1 Punkt.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 6. Mai 2006; Entscheidung: 5. September 2006; Rechtskraft: 23. September 2006; 1 Punkt.

  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 28. Juli 2006; Entscheidung: 11. August 2006; Rechtskraft: 31. August 2006; 1 Punkt.

Der Oberbürgermeister der Stadt I. sprach daraufhin gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom 11. Dezember 2006 - zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 13. Dezember 2006 - eine Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz - StVG - aus. Zugleich wies er den Kläger auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar und den hiermit ggf. verbundenen Abzug von 2 Punkten hin.

Mit Schreiben vom 7. April 2008 unterrichtete das Kraftfahrt-Bundesamt den Oberbürgermeister der Stadt I. darüber, dass für den Kläger neben den bereits mitgeteilten Eintragungen die folgenden Verkehrsverstöße eingetragen seien:
  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 4. Mai 2007; Entscheidung: 25. Mai 2007; Rechtskraft: 15. Juni 2007; 1 Punkt.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 26. Mai 2007; Entscheidung: 5. Juni 2007; Rechtskraft: 25. Juni 2007; 1 Punkt.

  • Unterlassen der Vorführung zur Hauptuntersuchung; Tattag: 24. Juni 2007; Entscheidung: 30. August 2007; Rechtskraft: 19. September 2007; 2 Punkte.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 4. August 2007; Entscheidung: 5. Oktober 2007; Rechtskraft: 27. Oktober 2007; 1 Punkt.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 7. Januar 2008; Entscheidung: 3. März 2008; Rechtskraft: 20. März 2008; 1 Punkt.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 24. Oktober 2007; Entscheidung: 14. November 2007; Rechtskraft: 4. Dezember 2007; 1 Punkt.

Der Oberbürgermeister der Stadt I. ordnete daraufhin mit Schreiben vom 28. April 2008 die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG an. Er wies den Kläger zugleich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung und den hiermit ggf. verbundenen Punktabzug von 2 Punkten hin. Ferner teilte er mit, dass dem Kläger bei Erreichen von 18 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde.

Nachdem der Kläger am 31. Oktober 2008 an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer nach § 4 Abs. 8 StVG teilgenommen hatte, setzte das Kraftfahrt-Bundesamt die Beklagte unter dem 6. Mai 2009 über weitere Verkehrszuwiderhandlungen in Kenntnis:
  • Geschwindigkeitsüberschreitung; Tattag: 20. April 2008; Entscheidung: 6. Juni 2008, Rechtskraft: 20. Juni 2008; 1 Punkt.

  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 20. Mai 2008; Entscheidung: 28. Mai 2008; Rechtskraft: 19. Juni 2008; 1 Punkt.

  • Benutzung eines Mobiltelefons; Tattag: 16. Juli 2008; Entscheidung: 15. August 2008; Rechtskraft: 4. September 2008; 1 Punkt.

  • Geschwindigkeitsüberschreitung: Tattag: 3. März 2009; Entscheidung: 2. April 2009; Rechtskraft: 24. April 2009; 1 Punkt.

Mit Schreiben vom 8. Juni 2009 gab die Beklagte dem Kläger Gelegenheit, zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis Stellung zu nehmen.

Mit Bescheid vom 27. Januar 2010 entzog sie dem Kläger die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 250,00 Euro zur Abgabe des Führerscheins bis zum 12. Februar 2010 auf. Zugleich setzte sie eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 153,48 Euro fest. Zur Begründung führte sie an, der Kläger habe Verkehrszuwiderhandlungen begangen, die insgesamt mit 18 Punkten zu bewerten seien.

Der Kläger hat am 27. Februar 2010 Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen ausführt: Es fehle in seinem Fall an einer Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG, so dass sein Punktestand auf 13 Punkte zu reduzieren sei. Des Weiteren habe er die Ordnungswidrigkeit vom 3. März 2009 nicht selbst begangen. Vielmehr habe sein Bruder das Fahrzeug gefahren. Schließlich habe er 18 Punkte bereits am 7. Juni 2008 erreicht, so dass aufgrund der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen - VwVfG NRW - in Verbindung mit § 49 VwVfG NRW eine Entziehung der Fahrerlaubnis hätte spätestens am 7. Juli 2009 erfolgen müssen, mit der Folge, dass die erst am 27. Januar 2010 ergangene Entziehung rechtswidrig sei.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 27. Januar 2010 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus: Die beanstandete Verwarnung sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Ferner sei unerheblich, ob der Kläger die Ordnungswidrigkeit vom 3. März 2009 selbst begangen habe, da die Fahrerlaubnisbehörde an die rechtskräftige Entscheidung gebunden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Beklagte ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).

Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich für ihn 18 oder mehr Punkte ergeben; die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Vorliegend haben sich für den Kläger bis zum Erlass der Entziehungsverfügung insgesamt 20 Punkte ergeben. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der Kläger hat in der Zeit von September 2005 bis Ende Juli 2006 Verkehrsverstöße begangen, die insgesamt mit 8 Punkten zu bewerten waren. Der Oberbürgermeister der Stadt I. hat den Kläger daraufhin zu Recht unter dem 11. Dezember 2006 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG verwarnt und auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar hingewiesen.

In der Folgezeit hat sich der Punktestand des Klägers durch die in der Zeit von Dezember 2006 bis Januar 2008 begangenen Verkehrsverstöße auf insgesamt 17 Punkte erhöht.

Mit Bescheid vom 24. April 2008 hat der Oberbürgermeister der Stadt I. zutreffend nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG die Teilnahme an einem Aufbauseminar angeordnet und dem Kläger zugleich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung hingewiesen.

Entgegen der Auffassung des Klägers war der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf 13 Punkte zu reduzieren. Nach dieser Vorschrift wird der Punktestand des Betroffenen auf 13 reduziert, wenn er 14 oder 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ergriffen hat. Die Fahrerlaubnisbehörde hat vorliegend bei einem Punktestand von 8 Punkten die Verwarnung entsprechend den Maßgaben des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG ausgesprochen. Es gibt insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger die mit Postzustellungsurkunde zugestellte Verwarnung vom 11. Dezember 2006 nicht zur Kenntnis gelangt ist.

Die mit einem Punkt bewertete Geschwindigkeitsüberschreitung vom 20. April 2008 (rechtkräftig seit dem 20. Juni 2008) führte hingegen nicht zu einer Erhöhung des Punktestandes des Klägers. Der Punktestand war in Anwendung des § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 Punkte zu reduzieren. Nach dieser Regelung ermäßigt sich der Punktestand des Betroffenen auf 17 Punkte, wenn er 18 Punkte erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG ergriffen hat. Der Regelung ist die gesetzliche Wertung zu entnehmen, dass die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG der Entziehung vorgeschalteten Maßnahmen den Betroffenen so rechtzeitig erreichen müssen, dass sie bei ihm überhaupt noch eine Verhaltens- und Einstellungsänderung bewirken können, bevor er einen weiteren Verkehrsverstoß begangen hat, mit dem er aufgrund der Punktebewertung bereits die nächste Eingriffsstufe erreicht. Demnach ist in dieser Fallkonstellation auf das Tattagprinzip abzustellen, um die nach dem Punktsystem erforderliche Warnung an den Mehrfachtäter und die Möglichkeit einer sich daran anschließenden Verhaltensänderung sicherzustellen,
vgl. BVerwG, Urteile vom 25. September 2008 - 3 C 3.07 und 3 C 34.07 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. Februar 2007 - 16 B 2174/06 -, beide zitiert nach Juris.
Da die Tat vom 20. April 2008 vor Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar begangen wurde, konnte sie mithin nicht zu einer Erhöhung des Punktestandes über 17 Punkte führen.

Mit den Verkehrsverstößen vom 20. Mai 2008 (rechtskräftig seit dem 28. Mai 2008) und vom 16. Juli 2008 (rechtskräftig seit dem 4. September 2008) wies das Punktekonto des Klägers im Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes 19 Punkte auf. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG war hinsichtlich dieser Verstöße nicht vorzunehmen. Die Beklagte hatte die Maßnahme gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG zuvor bereits "ergriffen", nämlich die Teilnahme an einem Aufbauseminar angeordnet. Nach Auffassung der Kammer kommt es ausgehend vom Wortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG bei der Punktereduzierung nach dieser Bestimmung nicht darauf an, ob der Betroffene das Aufbauseminar tatsächlich absolviert hat, sondern einzig darauf, ob die Fahrerlaubnisbehörde die Maßnahme "ergriffen", also angeordnet hat.
Vgl. hierzu nur Bayerischer VGH, Beschluss vom 11. August 2006 - 11 CS 05.2735 -, zitiert nach Juris m.w.N.
Schließlich erhöhte sich das Punktekonto des Klägers mit dem Verkehrsverstoß vom 3. März 2009 auf 20 Punkte. Unerheblich ist dabei - ungeachtet des Umstandes, dass der Kläger zuvor bereits die 18-Punkte-Schwelle erreicht hatte -, dass er diese Ordnungswidrigkeit nicht begangen haben will. Denn nach § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG ist die Beklagte als Fahrerlaubnisbehörde an die - hier gegebene - Rechtskraft der Entscheidung gebunden.

Auch der Einwand des Klägers, die Beklagte habe die Fahrerlaubnis mit Blick auf die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG NRW in Verbindung mit § 49 Abs. 3 Satz 2 VwVfG NRW nicht mehr entziehen dürfen, verfängt nicht. Die unmittelbare Anwendung der genannten Vorschriften scheitert bereits daran, dass die Beklagte den angegriffenen Bescheid weder nach § 48 VwVfG NRW zurückgenommen noch nach § 49 VwVfG NRW widerrufen, sondern eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG verfügt hat. Für eine entsprechende Anwendung der vom Kläger herangezogenen Vorschriften ist mangels planwidriger Regelungslücke kein Raum. Die Tilgungsvorschrift des § 29 StVG enthält eine eigene Regelung der Verwertbarkeit von Verkehrsverstößen.

Die in dem Bescheid vom 27. Januar 2010 enthaltene deklaratorische Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 StVG) sowie die zugehörige Zwangsgeldandrohung begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für die festgesetzte Verwaltungsgebühr in Höhe von 153,48 EUR.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.



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