Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss vom 30.07.2010 - 14 L 1101/10 - Zur Anwendung des Punktesystems bei Eintragungen innerhalb der selben Eingriffsstufe

VG Düsseldorf v. 30.07.2010: Zur Anwendung des Punktesystems bei Eintragungen innerhalb der selben Eingriffsstufe


Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 30.07.2010 - 14 L 1101/10) hat entschieden:
Eine Maßnahme gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG muss nicht nochmals ergriffen werden, wenn die untere Grenze (8 bzw. 14 Punkte) nicht erneut überschritten wird, sondern sich aufgrund einer weiteren Eintragung nur innerhalb des Rahmens der betreffenden Eingriffsstufe erhöht.


Siehe auch Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht


Gründe:

I.

Nachdem das Amtsgericht Düsseldorf dem am 00.0.1964 geborenen Antragsteller mit Strafbefehl vom 19.1.1999 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (1,39 Promille) die Fahrerlaubnis entzogen hatte, erteilte ihm der Antragsgegner nach Vorlage eines positiven medizinisch-psychologischen Gutachtens am 9.7.1999 eine neue Fahrerlaubnis. In der Folgezeit beging der Antragsteller zunächst folgende Verkehrsverstöße:

Tattag Verstoß Bußgeldbescheid Rechtskraft Punkte
03.02.2000 Rotlichtverstoß 08.05.2000 02.06.2000 3
18.06.2001 Geschwindigkeitsüberschreitung 23.08.2001 08.09.2001 3
21.12.2001 Rotlichtverstoß 10.01.2002 29.01.2002 3


Der Antragsgegner sprach daraufhin bei Vorliegen von 9 Punkten im Verkehrszentralregister gegenüber dem Antragsteller mit Schreiben vom 15.07.2002 eine Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) aus. Zugleich wies er ihn auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar und den hiermit verbundenen Punktabzug hin.

Der Antragsteller beging in der Folgezeit weitere Verkehrsverstöße:

Tattag Verstoß Bußgeldbescheid Rechtskraft Punkte
10.8.2004 Geschwindigkeitsüberschreitung 13.05.2005 01.06.2005 3
13.04.2005 Geschwindigkeitsüberschreitung 12.05.2005 28.09.2005 3
20.10.2004 Geschwindigkeitsüberschreitung 09.09.2005 08.10.2005 3


Unter dem 26.01.2006 ordnete der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG an. Dabei ging er aufgrund der Tilgung des Verstoßes vom 03.02.2000 von 15 Punkten aus. Der Antragsgegner informierte den Antragsteller zudem, dass die Fahrerlaubnis zu entziehen sei, wenn er der Aufforderung nicht fristgerecht nachkomme oder sich für ihn nach der Teilnahme an dem Aufbauseminar 18 oder mehr Punkte ergäben. Ferner wies er auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung und den hiermit verbundenen Punktabzug hin.

Der Antragsteller nahm daraufhin im April/Mai 2009 an einem Aufbauseminar teil und legte dem Antragsgegner am 09.05.2006 die Teilnahmebescheinigung vor. Zudem absolvierte er in der Zeit vom 15.05.2006 bis 29.05.2006 eine verkehrspsychologische Beratung. Die Teilnahmebescheinigung vom 29.5.2006 legte der Antragsteller dem Antragsgegner am 31.5.2006 vor.

Das Kraftfahrt-Bundesamt teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 06.11.2006 neben den zuvor genannten Verkehrsverstößen noch drei weitere Zuwiderhandlung des Antragstellers mit:

Tattag Verstoß Bußgeldbescheid Rechtskraft Punkte
26.01.2006 Verbotswidrige Nutzung eines Mobiltelefons 21.02.2006 10.03.2006 1
20.10.2005 Geschwindigkeitsüberschreitung 05.12.2005 24.7.2006 3
04.12.2005 Geschwindigkeitsüberschreitung in Tateinheit mit verbotswidrigem Überholen und Unterschreitung des Mindestabstands 02.1.2006 20.09.2006 4


Der Antragsgegner ergriff lt. Aktenvermerk vom 15.11.2006 zunächst keine weiteren Maßnahmen, da die Taten jeweils vor der Teilnahme an der verkehrspsychologischen Maßnahme lagen.

Lt. Auskunft des Kraftfahrtbundesamtes vom 27.10.2009 kamen in der Folgezeit zwei weitere Verstöße des Antragstellers hinzu:

Tattag Verstoß Bußgeldbescheid Rechtskraft Punkte
06.05.2009 Geschwindigkeitsüberschreitung 28.05.2009 18.09.2009 4
31.01.2010 Ausrüstung des Fahrzeugs bei winterlichen Verhältnissen mit Sommerreifen; es kam zu einem Auffahrunfall 22.02.2010 08.04.2010 1


Mit Schreiben vom 27.04.2010 hörte der Antragsgegner den Antragsteller zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.

Der Antragsteller wandte mit Schreiben vom 04.06.2010 ein, er habe die Verwarnung vom 05.11.2009 nicht bekommen, denn in der Zeit vom 11.08.2009 bis 09.12.2009 habe er sich in N in Untersuchungshaft befunden. Im Zeitpunkt der Zustellung der Verwarnung habe er seinen Wohnsitz nicht in X1 gehabt.

Mit Ordnungsverfügung vom 08.06.2010 - zugestellt am 11.06.2010 - entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis. Er wies den Antragsteller darauf hin, dass eine Klage gegen die Verfügung gemäß § 4 Abs. 7 StVG keine aufschiebende Wirkung habe und forderte ihn auf, seinen Führerschein unverzüglich nach Zustellung der Verfügung abzugeben. Für den Fall, dass er dieser Verpflichtung nicht bis zum 28.06.2010 nachkomme, drohte er ein Zwangsgeld in Höhe von 750,-- Euro an. Zur Begründung führte er aus, bei Erreichen von 18 Punkten oder mehr sei von der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen auszugehen.

Die zunächst verfügte Festsetzung des Zwangsgeldes vom 30.06.2010 nahm der Antragsgegner am 19.07.2010 zurück.

Der Antragsteller hat am Montag, dem 12.07.2010 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, sein Punktekonto sei gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf 17 Punkte zu reduzieren.

Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 4447/10 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 08.06.2010 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er verweist zur Begründung auf die angefochtene Entziehungsverfügung.


II.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) hat eine Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 keine aufschiebende Wirkung. Die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) käme nur dann in Betracht, wenn die Anordnung der Behörde offensichtlich rechtswidrig wäre oder wenn aus anderen Gründen ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung anzuerkennen wäre. Beides ist nicht der Fall. Bedenken gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 08.06.2010 sind nicht ersichtlich. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 4 Abs. 3 Nr. 3 StVG. Hiernach gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich für ihn 18 oder mehr Punkte ergeben; die Fahrerlaubnisbehörde hat in diesem Fall die Fahrerlaubnis zu entziehen. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO grundsätzlich der Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung, hier also der 08.06.2010.

Zum einen haben sich für den Antragsteller bis zu dem Erlass der Entziehungsverfügung mehr als 18 Punkte ergeben. Zum anderen hat der Antragsgegner entgegen dem Vortrag des Antragstellers die erforderlichen Maßnahmen nach § 4 Abs. 3 StVG vor der Entziehung der Fahrerlaubnis stufenweise ergriffen, so dass die Voraussetzungen einer Reduzierung des Punktekontos des Antragstellers auf 17 Punkte nicht vorliegen.

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der Antragsteller hat in der Zeit von Februar 2000 bis Dezember 2001 Verkehrsverstöße begangen, die rechtskräftig geahndet wurden und insgesamt mit 9 Punkten zu bewerten waren. Der Antragsgegner hat den Antragsteller daraufhin zu Recht unter dem 15.07.2002 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG verwarnt. In der Folgezeit erhöhte sich der Punktestand des Antragstellers durch die am 10.08.2004, 13.04.2005 und 20.10.2004 begangenen Taten (zu bewerten jeweils mit drei Punkten) und der Tilgung der Tat vom 03.02.2000 (ebenfalls drei Punkte) gemäß § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG (absolute Tilgungsfrist von 5 Jahren) auf insgesamt 15 Punkte.

Der Antragsgegner hat sodann mit Verfügung vom 26.01.2006 gegenüber dem Antragsteller gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG die Teilnahme an einem Aufbauseminar angeordnet, ihn auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung hingewiesen und darüber informiert, dass ihm beim Erreichen von 18 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde. Da der Antragsteller hier nach Erreichen von 14 Punkten an einem Aufbauseminar teilgenommen hatte, war sein Punktekonto nicht gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG um zwei Punkte zu reduzieren. Hingegen kam ihm gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG eine Reduzierung um zwei Punkte zugute, da er nach der Teilnahme an einem Aufbauseminar und Erreichen von 14 Punkten, aber vor Erreichen von 18 Punkten an einer verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen hat.

Es ist nicht entscheidungserheblich, ob und ggfls. wann die vom Antragsgegner mit Schreiben vom 05.11.2009 gemäß § 4 Abs. 3 Ziff. 2 Satz 2 StVG ausgesprochene Verwarnung bei einem Punktekonto von zu diesem Zeitpunkt 17 Punkten dem Antragsteller ordnungsgemäß bekanntgegeben wurde und wo der Antragsteller im Zeitpunkt der Zustellung der Verwarnung seinen Wohnsitz hatte. Die Verwarnung war hier entbehrlich. Eine Maßnahme gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG muss nicht nochmals ergriffen werden, wenn die untere Grenze (8 bzw. 14 Punkte) nicht erneut überschritten wird, sondern sich aufgrund einer weiteren Eintragung nur innerhalb des Rahmens der betreffenden Eingriffsstufe erhöht.
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.12.2003 19 B 2526/03 -; VG Augsburg, Beschluss vom 18.04.2008 – Au 3 S 08.397 -, jeweils juris; Hentschel, Kommentar zum Straßenverkehrsrecht; 39 Auflage, StVG, § 4 Rn. 13.
Der Antragsgegner hat bei Erreichen von 15 Punkten mit Bescheid vom 26.1.2006 gemäß § 4 Abs. 3 Ziff. 2 StVG die Ableistung eines Aufbauseminars angeordnet und den Antragsteller über die Möglichkeit der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung belehrt. Durch die nachfolgende Teilnahme an der verkehrspsychologischen Beratung gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG fiel der Punktestand des Antragstellers jedoch nicht unter 14 Punkte, denn im Zeitpunkt der Vorlage der entsprechenden Teilnahmebescheinigung am 31.05.2006 war bereits eine weitere mit einem Punkt zu bewertende Ordnungswidrigkeit vom 26.1.2006 (Rechtskraft des Bußgeldbescheides am 10.3.2006) eingetragen worden, so dass sich zu keinem Zeitpunkt 13, sondern immer mindestens 14 Punkte ergaben. Zu einer Erhöhung des Punktestandes auf insgesamt 22 Punkte führten sodann die am 06.05.2009 und 31.01.2010 begangenen und rechtskräftig geahndeten Taten, die mit weiteren 5 Punkten zu bewerten waren. Dabei kann dahinstehen, ob die Tat vom 10.08.2004, deren Rechtskraft (01.05.2005) im Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung bereits 5 Jahre zurück lag, entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Tilgung von Eintragungen vor Erlass der Entziehungsverfügung heranzuziehen war,
vgl. Urteil vom 25.9.2008 – 3 C 21/07,
oder nicht, denn auch für den Fall der Nichtberücksichtigung ergaben sich für den Antragsteller im Zeitpunkt der Entziehungsverfügung 19 Punkte.

Es entspricht dem Sinn und Zweck des Punktesystems und des vorgesehenen Maßnahmenkatalogs, dass der Betroffene jeweils bei Überschreiten einer Punkteschwelle ermahnt wird und ihm Angebote und Hilfestellungen zum Abbau von Defiziten gemacht werden. Dies ist hier geschehen. Einen Hinweis der Behörde auf eine Erhöhung des Punktestandes innerhalb einer Eingriffsstufe sieht das Gesetz nicht vor. Der Antragsteller war bereits einmal bei Überschreiten der 14-Punkte-Grenze angehalten worden, sein bisheriges Verkehrsverhalten zu ändern sowie möglichst frühzeitig durch Ableistung eines Aufbauseminars und die freiwillige Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung vorhandene Defizite abzubauen und den damaligen Punktestand zu reduzieren. Die hier verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis ist insoweit die Konsequenz daraus, dass er trotz der ihm aufgezeigten Hilfestellungen und Möglichkeiten zum Punkteabbau weitere Verkehrszuwiderhandlungen begangen hat.

Die Verpflichtung zur Führerscheinabgabe ergab sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG. Die mit der Fahrerlaubnisentziehung verbundene Zwangsmittelandrohung war gemäß §§ 57 Abs. 1 Nr. 2, 60, 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes – VwVG – rechtmäßig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG unter Zugrundelegung des Streitwertkataloges der Verwaltungsgerichtsbarkeit.



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