Das Verkehrslexikon
OLG Düsseldorf Urteil vom 27.10.1980 - 1 U 67/80 - Zur alleinigen Haftung des Wartepflichtigen bei Lückenunfall an einer wartepflichtigen Nebenstraße
OLG Düsseldorf v. 27.10.1980: Zur alleinigen Haftung des Wartepflichtigen bei Lückenunfall an einer wartepflichtigen Nebenstraße
Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 27.10.1980 - 1 U 67/80) hat entschieden:
Wer als Wartepflichtiger beim Durchfahren einer Lücke in einer Autokolonne, die sich auf der Vorfahrtstraße gebildet hat, einem an der Kolonne vorbeifahrenden Wagen in die Seite fährt, muß den Unfallschaden wegen der von ihm begangenen Vorfahrtverletzung allein tragen.
Siehe auch Lückenunfälle und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Tatbestand:
Der Tatbestand wurde vom Gericht nicht mitgeteilt.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung hat Erfolg.
Dem Kläger steht ein Schadensersatzanspruch gegen den Erstbeklagten aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
Zwar haftet der Erstbeklagte für die Unfallschäden grundsätzlich nach § 7 Abs. 1 StVG, weil er den Nachweis nicht zu führen vermocht hat, daß der Unfall für ihn im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 StVG unabwendbar gewesen ist. Es ist nicht auszuschließen, daß ein ganz besonders vorsichtiger und gewissenhafter Fahrer an seiner Stelle dadurch den Unfall vermieden hätte, daß er angesichts der Lücke, die sich gebildet haben muß, mit dem querfahrenden Fahrzeug des Klägers gerechnet hätte und ihm möglichst weit links ausgewichen wäre.
Aber auch der Kläger haftet für die Unfallschäden gemäß § 7 Abs. 1 StVG, weil – wie noch auszuführen sein wird – er den Unfall verschuldet hat.
Steht somit die grundsätzliche Haftung der Parteien fest, so hängt in ihrem Verhältnis zueinander die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes gemäß § 17 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit die Schäden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden sind. Für das Maß der Verursachung ist ausschlaggebend, mit welchem Grad von Wahrscheinlichkeit ein Umstand allgemein geeignet ist, Schäden der vorliegenden Art herbeizuführen. Hierbei richtet sich die Schadensverteilung auch nach dem Grad eines etwaigen Verschuldens eines Beteiligten. Jedoch können im Rahmen dieser Abwägung nur solche Tatsachen zum Nachteil einer Partei berücksichtigt werden, die als unfallursächlich feststehen.
Ist das Maß der Verursachung auf der einen Seite so groß, daß demgegenüber die von der anderen Partei zu verantwortende Mitverursachung nicht ins Gewicht fällt, so kann der Schaden ganz der einen Partei auferlegt werden. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle gegeben.
Den Erstbeklagten belastet die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs, mit dem er auf der ...-Straße in ... auf der dritten Fahrspur von rechts fuhr.
Dagegen kann ihm ein schuldhafter Verstoß gegen § 1 StVO nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn es ist erwiesen, daß der Kläger den Unfall allein verschuldet hat.
Nach den Unfallschäden an den am Zusammenstoß beteiligten Kraftfahrzeugen, insbesondere an dem VW des Erstbeklagten, steht fest, daß nicht der Erstbeklagte gegen das stehende Fahrzeug des Klägers, sondern vielmehr dieser gegen das vorbeifahrende Fahrzeug des Erstbeklagten gefahren ist. Es ist keine Konstellation denkbar, daß der VW des Erstbeklagten gegen das stehende Fahrzeug des Klägers gefahren wäre und dennoch nicht vorne rechts in irgendeiner Weise Beschädigungen aufwiese. Tatsächlich liegen die Schäden alle im Bereich der Beifahrertür und erstrecken sich bis zum hinteren Kotflügel, dagegen ist die vordere rechte Seite völlig unbeschädigt. Wenn die Karosserie nicht allzu stark eingedrückt worden ist, so kann das nur darauf beruhen, daß der Anstoß durch den Mercedes des Klägers mit recht geringer Geschwindigkeit erfolgte. Das entspricht auch dem Klagevortrag, daß der Kläger sein Fahrzeug vor den in der dritten Fahrspur von rechts verlegten Straßenbahnschienen anhalten wollte. Kurz bevor ihm das gelang, ist er in das vorbeifahrende Fahrzeug des Erstbeklagten gefahren.
Auch die Behauptung des Klägers, auf der ersten und zweiten Fahrspur aus seiner Sicht gesehen hätte sich ein Stau gebildet, die beteiligten Fahrer hätten für ihn eine Lücke gelassen und ihn eingewinkt, belastet den Erstbeklagten nicht mit einem Schuldvorwurf.
Der Erstbeklagte war dem Kläger gegenüber gemäß § 8 Abs. 1 StVO vorfahrtsberechtigt, der Kläger durfte gemäß § 8 Abs. 2 StVO deshalb nur dann weiterfahren, wenn eine Gefährdung des vorfahrtsberechtigten Verkehrs nicht zu befürchten war. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß seiner Behauptung nach die Fahrer auf der ersten und zweiten Fahrspur durch eindeutige Handzeichen ihrerseits auf die Vorfahrt verzichtet hatten. Denn der Verzicht gilt jeweils immer nur für den Verzichtenden selbst, hat aber keine Rechtswirkung bezüglich der anderen vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer (Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 8 StVO Rd.Nr. 37 m.w.N.). Auch wenn man mit dem Klagevortrag davon ausgeht, daß es sich um einen typischen "Lückenfall" handelt also einen Fall, in dem wartepflichtiger Verkehr durch eine Lücke einer Fahrzeugkolonne auf der vorfahrtsberechtigten Straße fahren will, wird der Kläger dadurch nicht ent-, der Erstbeklagte nicht belastet. Zwar ist der Wartepflichtige grundsätzlich berechtigt, sich bei Sichtbehinderung durch die freigewordene Lücke mit äußerster Vorsicht so weit vorzutasten, bis er Sicht gewinnt. Unter einem langsamen Vortasten versteht man, daß ein Fahrer mit seinem Wagen jeweils nur wenige cm langsam vorrollt und dann wieder anhält und dieses Fahrmanöver über einen längeren Zeitraum mehrmals wiederholt (OLG Düsseldorf in VersR 1976, 1179; DAR 1980, 117). Nur bei einer solchen Fahrweise kann der Fahrer eines herannahenden Wagens das vortastende Fahrzeug frühzeitig erkennen und sich auf dieses einstellen.
Hätte sich der Kläger in diesem Maße sorgfältig verhalten, wäre der Zusammenstoß vermieden worden. Der Erstbeklagte hätte das sich in seine Fahrbahn hineintastende Fahrzeug bemerken und sich darauf einstellen können. Tatsächlich aber konnte er ihn nicht rechtzeitig erkennen, wie sich zwingend daraus ergibt, daß nicht er gegen das Fahrzeug des Klägers, dieser vielmehr gegen das des Erstbeklagten gestoßen ist. Unter diesen Umständen kann dem Erstbeklagten kein Mitverschulden angelastet werden, weil er, als er erstmalig das seitlich auf ihn zufahrende Fahrzeug erkennen konnte, keine Möglichkeit mehr zum Reagieren hatte. Er brauchte aber nicht damit zu rechnen, daß ein Kraftfahrzeug aus der Lücke, die sich gebildet hatte, so weit in seine Fahrspur hineinstoßen würde, daß sein Kraftfahrzeug getroffen wurde.
Legt man das Vorbringen der Beklagten der Wertung zugrunde, war der Kläger überhaupt nicht berechtigt, in die vorfahrtsberechtigten Fahrbahnen einzufahren, weil er eben nicht absehen konnte, daß er niemanden gefährdete.
Den Kläger belastet zu dem aufgezeigten ganz erheblichen Verschulden die in der konkreten Verkehrslage ganz wesentlich erhöhte Betriebsgefahr seines ... Pkw, mit dem er von der untergeordneten ... in die vorfahrtsberechtigte Straße einfuhr, obwohl auf dieser vorfahrtsberechtigter Verkehr herannahte.
Die Abwägung zeigt, daß der Unfall im wesentlichen auf Umständen beruht, die dem Kläger zur Last fallen. Es ist deshalb gerechtfertigt, die vom Erstbeklagten allein zu vertretende Betriebsgefahr seines Wagens hinter der schuldhaft verkehrswidrigen Fahrweise des Klägers zurücktreten zu lassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 92 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Es besteht kein begründeter Anlaß, das Rechtsmittel der Revision zuzulassen.
Der Wert der Beschwer beträgt für den Kläger 1.879,96 DM.