Das Verkehrslexikon

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Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 03.03.2011 - 3 C 1.10 - Ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis führt nicht zur Löschung von Punkten im Verkehrszentralregister

BVerwG v. 03.03.2011: Ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis führt nicht zur Löschung von Punkten im Verkehrszentralregister


Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 03.03.2011 - 3 C 1.10) hat entschieden:
Ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis führt nicht zur Löschung von Punkten im Verkehrszentralregister nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG.


Siehe auch Das Punktsystem - Fahreignungs-Bewertungssystem und Die Fahrerlaubnis im Verwaltungsrecht


Tatbestand:

Fahrerlaubnisbehörde aufgegeben wurde, an einem Aufbauseminar teilzunehmen.

Aufgrund zahlreicher Verkehrsverstöße forderte die Fahrerlaubnisbehörde vom Kläger im Oktober 2005 die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens; sie wies darauf hin, dass bei Nichtvorlage gemäß § 11 Abs. 8 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) auf seine mangelnde Fahreignung geschlossen werden dürfe und ihm die Fahrerlaubnis entzogen werden müsse. Der Kläger gab an, nicht über die finanziellen Mittel für ein solches Gutachten zu verfügen und ohnehin ein Fahrverbot antreten zu müssen; er verzichtete auf seine Fahrerlaubnis und gab seinen Führerschein am 13. Februar 2006 bei der Fahrerlaubnisbehörde ab. Zu diesem Zeitpunkt wies das Punktekonto des Klägers im Verkehrszentralregister 17 Punkte auf. Nach der Teilnahme an einem Kurs zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung gemäß § 70 FeV erhielt er am 21. September 2006 eine neue Fahrerlaubnis der Klassen B, L und M.

Nach einer zwischenzeitlichen Reduzierung des Punktestands um 4 Punkte gemäß § 4 Abs. 5 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), einer Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG und einer anschließenden neuerlichen Erhöhung um 3 Punkte wegen eines weiteren Verkehrsverstoßes ordnete das Landratsamt bei einem angenommenen Stand von 16 Punkten mit Bescheid vom 26. Oktober 2007, gestützt auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG, die Teilnahme des Klägers an einem Aufbauseminar an.

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben; den Anfechtungsantrag hat er nach der Seminarteilnahme auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt. Mit Urteil vom 22. Juli 2008 hat das Verwaltungsgericht München festgestellt, dass die Anordnung des Landratsamtes vom 26. Oktober 2007 rechtswidrig gewesen ist. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG sei beim Verzicht auf die Fahrerlaubnis in Ansehung einer drohenden und gebotenen Entziehung entsprechend anzuwenden; wegen der danach vorzunehmenden Löschung von Punkten habe der Kläger weniger als 14 Punkte gehabt.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 15. Dezember 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es: Die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar sei rechtswidrig gewesen, denn der Kläger habe nicht die hierfür erforderliche Punktzahl erreicht. Sein Punktestand hätte wegen seines Verzichts auf die Fahrerlaubnis auf Null reduziert werden müssen. Zwar sei eine entsprechende Anwendung dieser Regelung nicht möglich, da keine planwidrige Regelungslücke festzustellen sei. Wie die Gesetzesbegründung zeige, habe der Normgeber § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG bewusst nicht auf Fälle eines Verzichts auf die Fahrerlaubnis erstrecken wollen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebiete aber eine verfassungskonforme erweiternde Auslegung dieser Vorschrift. Das gelte allerdings nicht für jeden Verzichtsfall. Ansonsten könnte § 4 Abs. 10 StVG umgangen werden, der nach der Entziehung der Fahrerlaubnis eine Sperrfrist für die Wiedererteilung vorsehe und außerdem regelmäßig die Beibringung eines Eignungsgutachtens verlange. Doch könne einem Betroffenen die Löschung seiner Punkte nicht verwehrt werden, der nach dem Verzicht auf seine Fahrerlaubnis und der Ablieferung des Führerscheins die Voraussetzungen für die Wiedererteilung erfülle und dem die Fahrerlaubnis auch tatsächlich wiedererteilt worden sei. Das sei dem Fall vergleichbar, dass die Fahrerlaubnis außerhalb des Punktsystems entzogen werde und der Betroffene später eine neue Fahrerlaubnis erhalte. Bei einem Fahrerlaubnisverzicht entstünden für den Betroffenen nur geringfügige Vorteile gegenüber einer Entziehung außerhalb des Punktsystems; sie hinderten die Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG nicht. Da der Kläger unstreitig die Voraussetzungen für eine Wiedererteilung der Fahrerlaubnis erfülle, müsse er zumindest im Wege einer fiktiven Löschung so behandelt werden, als ob die Punkte für die vor dem Verzicht begangenen Verkehrsverstöße gelöscht worden wären.

Zur Begründung seiner Revision macht der Beklagte geltend: Das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass es wegen des Fahrerlaubnisverzichts des Klägers zu einer Löschung von Punkten gekommen sei. Zutreffend sei allerdings, dass mit Blick auf die Gesetzesbegründung eine entsprechende Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG auf Verzichtsfälle ausgeschlossen sei. Der dort zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers werde noch dadurch unterstrichen, dass in anderen Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes Verzicht und Entziehung gleichgestellt würden. Der Wortlaut der Regelung und der Gesetzeszweck stünden aber zugleich der vom Berufungsgericht befürworteten erweiternden verfassungskonformen Auslegung der Löschungsregel entgegen. Der Hinweis des Berufungsgerichts auf § 29 Abs. 3 Nr. 2 StVG führe ebenfalls nicht weiter. Selbst wenn man eine erweiternde Auslegung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG für möglich hielte, könnte das allenfalls dann gelten, wenn der Verzicht in Ansehung einer unmittelbar drohenden und gebotenen Entziehung erfolgt sei, etwa wenn der Fahrerlaubnisinhaber durch den Verzicht die Kosten eines Entziehungsbescheides vermeiden wolle. Das setze voraus, dass ihm die Entziehung durch eine förmliche Anhörung nach § 28 VwVfG angekündigt worden sei; das sei hier nicht der Fall gewesen.

Der Kläger tritt der Revision entgegen.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht ist wie der Beklagte der Auffassung, dass § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG weder im Wege einer analogen Anwendung noch aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung auf Verzichtsfälle anwendbar sei.


Entscheidungsgründe:

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts stehen nicht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Die Anordnung an den Kläger, an einem Aufbauseminar teilzunehmen, ist zu Recht ergangen. Die nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG für eine solche Anordnung erforderliche Punktzahl war zum für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Maßnahme (vgl. zu einer Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG: Urteil vom 25. September 2008 - BVerwG 3 C 3.07 - BVerwGE 132, 48 <52>) erreicht; danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach Absatz 8 anzuordnen, wenn sich 14, aber nicht mehr als 17 Punkte ergeben. Der Beklagte ging beim Erlass seiner Anordnung zutreffend von einem Stand von 16 Punkten aus; denn bei der Berechnung des Punktestandes waren auch die vor dem Fahrerlaubnisverzicht des Klägers im Verkehrszentralregister eingetragenen Entscheidungen und die daraus resultierenden Punkte zu berücksichtigen. Der Verzicht des Klägers auf seine Fahrerlaubnis hatte keine Löschung von Punkten gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG zur Folge. Danach werden, wenn die Fahrerlaubnis entzogen oder eine Sperre (§ 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches) angeordnet worden ist, die Punkte für die vor dieser Entscheidung begangenen Zuwiderhandlungen gelöscht. Diese Regelung kann weder durch analoge Anwendung noch - wie das Berufungsgericht meint - im Wege einer verfassungskonformen Auslegung auf Fälle eines Fahrerlaubnisverzichtes erstreckt werden.

1. Eine Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG scheidet nicht bereits deshalb aus, weil dem Kläger ohne seinen Verzicht die Fahrerlaubnis nicht gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG wegen des Erreichens von mindestens 18 Punkten im Verkehrszentralregister, sondern nach § 11 Abs. 8 FeV wegen Nichtvorlage eines zu Recht angeforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens entzogen worden wäre. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG beschränkt schon nach seinem Wortlaut die dort vorgesehene Löschung von Punkten nicht auf "punktsysteminterne" Fahrerlaubnisentziehungen nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG. Zusätzlich verdeutlicht die Gesetzesbegründung, dass von der Regelung auch andere als durch den Punktestand bedingte Fahrerlaubnisentziehungen wegen fehlender Fahreignung erfasst werden sollen (BRDrucks 821/96 S. 72)

2. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG auf Verzichtsfälle sind jedoch nicht erfüllt, weil es insoweit an einer nicht beabsichtigten (planwidrigen) Regelungslücke fehlt. Der Gesetzgeber hat, wie auch das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, die Löschung von Punkten in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG bewusst auf die Fälle einer Entziehung der Fahrerlaubnis sowie einer Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB beschränkt. Dass der Fahrerlaubnisinhaber seine Fahrberechtigung außerdem auch durch einen Verzicht verlieren kann, hat er dabei nicht übersehen. So heißt es in der Gesetzesbegründung ausdrücklich, dass es zur Löschung der Punkte nur im Fall der Entziehung, nicht aber beim Verzicht auf die Fahrerlaubnis kommt (BRDrucks 821/96 S. 72). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in § 4 StVG einen Verzicht auf die Fahrerlaubnis an anderer Stelle durchaus berücksichtigt und dort - anders als hier - jedenfalls bestimmten Fällen einer Fahrerlaubnisentziehung gleichgestellt. So ist gemäß § 4 Abs. 11 Satz 2 StVG vor der Neuerteilung einer Fahrerlaubnis die Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht nur in den Fällen der Entziehung der Fahrerlaubnis, sondern unter anderem auch dann nachzuweisen, wenn der Betroffene einer solchen Entziehung durch den Verzicht auf die Fahrerlaubnis zuvorgekommen ist.

3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zwingt Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu einer erweiternden verfassungskonformen Auslegung der Löschungsregelung; die vom Gesetzgeber in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG vorgesehene Differenzierung zwischen einem Verzicht auf die Fahrerlaubnis und deren Entziehung ist sachlich gerechtfertigt.

Die Fahrerlaubnisentziehung und der Verzicht auf die Fahrerlaubnis sind eigenständige Verlusttatbestände. Während die Fahrerlaubnisentziehung an bestimmte rechtliche Voraussetzungen anknüpft, namentlich an die von der Fahrerlaubnisbehörde oder von einem Strafgericht festgestellte mangelnde Kraftfahreignung des Betroffenen, ist der Verzicht nicht in derselben Weise rechtlich gebunden, sondern hängt allein von der Willensentschließung des Betroffenen ab. Dessen Entscheidung kann von sehr unterschiedlichen Motiven getragen sein; sie können von der eigenen Einsicht in die mangelnde Kraftfahreignung, etwa aus Altersgründen oder wegen gesundheitlicher Mängel, bis hin zu der Absicht reichen, die negativen Folgewirkungen einer Fahrerlaubnisentziehung zu vermeiden. So darf gemäß § 4 Abs. 10 Satz 1 StVG eine neue Fahrerlaubnis frühestens sechs Monate nach Wirksamkeit der Entziehung nach Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 erteilt werden; nach § 4 Abs. 10 Satz 3 StVG ist unbeschadet der sonstigen Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis zum Nachweis, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wiederhergestellt ist, in der Regel die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens anzuordnen. Eine vorangegangene Fahrerlaubnisentziehung ist auch nach §§ 11, 13 und 14 FeV Grund für Eignungszweifel und damit Anlass für die Anforderung eines Fahreignungsgutachtens vor der Neuerteilung. Mit Blick auf diese über die Fahrerlaubnisentziehung hinauswirkenden Vorgaben für eine Neuerteilung kam es dem Gesetzgeber ersichtlich darauf an, einem "taktisch geschickten" Verzicht des Fahrerlaubnisinhabers auf seine Fahrerlaubnis vorzubeugen (vgl. etwa Bouska/Laeverenz, Fahrerlaubnisrecht, 3. Aufl. 2004, § 4 StVG Rn. 15a). Der Gesetzgeber hat deshalb die Löschung der bisher im Verkehrszentralregister angefallenen Punkte, die das Korrelat für die mit der Fahrerlaubnisentziehung erfolgte Sanktionierung der bisherigen Zuwiderhandlungen bildet, den rechtlich klar abgegrenzten Fällen einer Fahrerlaubnisentziehung vorbehalten. Das ist mit Blick auf seine Typisierungsbefugnis nicht zu beanstanden, zumal die unterschiedliche Behandlung von Verzicht und Entziehung ohnehin dadurch relativiert wird, dass nach § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG nur die Punkte als solche gelöscht werden, die eingetragenen Entscheidungen dagegen solange im Verkehrszentralregister bleiben, bis sie tilgungsreif sind (BRDrucks 821/96 S. 72). Wegen der Vielfalt möglicher Fallgestaltungen und Motivlagen verpflichtet Art. 3 Abs. 1 GG den Gesetzgeber nicht dazu, hinsichtlich der Motivation des verzichtenden Fahrerlaubnisinhabers und einer daraus möglicherweise resultierenden Missbrauchsgefahr weiter zu differenzieren. Das wäre außerdem unweigerlich mit erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und Beweisproblemen verbunden, die auch mit der vom Berufungsgericht vorgenommenen Eingrenzung nicht in zufriedenstellender Weise zu bewältigen sind. Erst recht ist der Gesetzgeber durch den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht gehalten, die mit einem Verzicht für den Betroffenen verbundenen Vorteile, die neben der Vermeidung einer behördlichen oder strafgerichtlichen Feststellung seiner mangelnden Kraftfahreignung auch in der Ersparnis von Verwaltungsgebühren liegen, noch um die Vorteile zu vermehren, die dem von einer Fahrerlaubnisentziehung Betroffenen jedenfalls in Form einer damit einhergehenden Löschung von Punkten zugute kommen.

4. Als nicht tragfähig erweist sich schließlich die Erwägung des Berufungsgerichts, eine "fiktive" Löschung der für den Kläger bis zu seiner Verzichtserklärung angefallenen Punkte könne möglicherweise über eine entsprechende Anwendung von § 29 Abs. 3 Nr. 2 StVG erfolgen. Diese Regelung sieht eine vorzeitige Tilgung von Eintragungen und nicht nur eine Löschung von Punkten vor, wie sie in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG angeordnet wird. Anders als bei einer bloßen Löschung von Punkten, die nicht bedeutet, dass auch die eingetragenen Entscheidungen gelöscht werden (vgl. BRDrucks 821/96 S. 72), wären damit auch die eingetragenen Entscheidungen für die Fahrerlaubnisbehörde nicht mehr verwertbar (vgl. § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG). Die Wirkung einer Tilgung nach § 29 Abs. 3 Nr. 2 StVG geht damit erheblich über die des § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG hinaus. Schon hieran scheitert eine entsprechende Anwendung.



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