Das Verkehrslexikon

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EuGH Urteil vom 17.03.2011 - C-484/09 - Zur europarechtlichen Zulässigkeit der Schadensteilung bei Verkehrsunfällen ohne nachweisbares Verschulden

EuGH v. 17.03.2011: Zur europarechtlichen Zulässigkeit der Schadensteilung bei Verkehrsunfällen ohne nachweisbares Verschulden


Der EuGH (Urteil vom 17.03.2011 - C-484/09) hat entschieden:
   Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstanden sind, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftung für diese Schäden entsprechend dem Anteil aufteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festlegt, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.



Siehe auch

Haftung bei ungeklärtem Sachverhalt - unaufklärbarer Unfallverlauf

und

Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

17. März 2011(*)

In der Rechtssache C-484/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunal da Relação do Porto (Portugal) mit Entscheidung vom 24. November 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2009, in dem Verfahren

Manuel Carvalho Ferreira Santos

gegen

Companhia Europeia de Seguros SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), A. Rosas und A. Ó Caoimh sowie der Richterin P. Lindh,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,

– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Ventrella, avvocato dello Stato,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und M. Telles Romão als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. Dezember 2010

folgendes Urteil:


1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie), Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie) und Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33, im Folgenden: Dritte Richtlinie).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Carvalho Ferreira Santos (im Folgenden: Herr Carvalho) und der Companhia Europeia de Seguros SA (im Folgenden: Europeia de Seguros) wegen Ersatzes der Schäden, die Herrn Carvalho beim Zusammenstoß seines Fahrzeugs mit einem Fahrzeug entstanden sind, für das Europeia de Seguros die Haftpflicht deckt, durch Europeia de Seguros im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflicht.


Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“
4 Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie lautet:
„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch

– hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder

– Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder

– Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind,

von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.

Die im ersten Gedankenstrich genannte Vorschrift oder Klausel kann jedoch gegenüber den Personen geltend gemacht werden, die das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, freiwillig bestiegen haben, sofern der Versicherer nachweisen kann, dass sie wussten, dass das Fahrzeug gestohlen war.

Den Mitgliedstaaten steht es frei, bei Unfällen auf ihrem Gebiet Unterabsatz 1 nicht anzuwenden, wenn und soweit das Unfallopfer Schadenersatz von einem Sozialversicherungsträger erlangen kann.“
5 Art. 1 der Dritten Richtlinie sieht vor:
„Unbeschadet des Artikels 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der [Zweiten Richtlinie] deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.

…“
6 Art. 4 der Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 zur Änderung der Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG, 88/357/EWG und 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 149, S. 14) sieht unter der Überschrift „Änderungen der Richtlinie 90/232/EWG“ vor:
„Die Richtlinie 90/232/EWG wird wie folgt geändert:



2. Folgender Artikel wird eingefügt:

‚Artikel 1a

Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung deckt Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, die nach einzelstaatlichem Zivilrecht einen Anspruch auf Schadenersatz aus einem Unfall haben, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist. Der vorliegende Artikel lässt die zivilrechtliche Haftung und die Höhe des Schadenersatzes unberührt.‘

…“

7 Art. 12 („Spezifische Kategorien von Unfallopfern“) der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 263, S. 11) bestimmt:
„(1) Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 1 Unterabsatz 2 deckt die in Artikel 3 genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.



(3) Die in Artikel 3 genannte Versicherung deckt Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, die nach einzelstaatlichem Zivilrecht einen Anspruch auf Schadenersatz aus einem Unfall haben, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist.

Der vorliegende Artikel lässt die zivilrechtliche Haftung und die Höhe des Schadenersatzes unberührt.“

Nationales Recht

8 Art. 503 Abs. 1 des portugiesischen Código Civil bestimmt:
„Derjenige, der die tatsächliche Herrschaft über ein Landfahrzeug ausübt und dieses im eigenen Interesse und sei es durch einen Beauftragten nutzt, haftet für die Schäden, die aus der dem Fahrzeug eigenen Gefahr herrühren, auch wenn dieses nicht in Betrieb ist.“
9 Art. 504 Abs. 1 des Código Civil sieht vor:
„Die Haftung für durch Fahrzeuge verursachte Schäden kommt Dritten sowie den beförderten Personen zugute.“
10 Art. 506 des Código Civil lautet:
„(1) Entstehen bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge bei beiden oder einem von ihnen Schäden, ohne dass einer der Fahrer den Unfall verschuldet hat, wird die Haftung entsprechend dem Anteil, zu dem die den einzelnen Fahrzeugen eigene Gefahr zu den Schäden beigetragen hat, aufgeteilt; wurden die Schäden ausschließlich von einem der Fahrzeuge verursacht, ohne Verschulden eines der Fahrer, ist nur die für die Schäden verantwortliche Person zum Schadensersatz verpflichtet.

(2) Im Zweifelsfall wird davon ausgegangen, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen und beide Fahrer diese gleichermaßen verschuldet haben.“


Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11 Am 5. August 2000 stieß das von Herrn Carvalho geführte Kraftrad mit einem von Herrn Nogueira Teixeira geführten Personenkraftwagen zusammen. Herr Carvalho, der ein Schädelhirntrauma erlitt, wurde ins Krankenhaus eingewiesen und war mehrere Monate bettlägerig. Er ist seitdem nicht mehr in der Lage, einen Beruf auszuüben.

12 Herr Carvalho erhob wegen dieses Unfalls Klage gegen Europeia de Seguros als Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer von Herrn Nogueira Teixeira. Mit dieser Klage begehrt Herr Carvalho Schadensersatz in Höhe von 154.456,36 Euro für die bei diesem Unfall erlittenen Vermögens- und Nichtvermögensschäden.

13 Das vorlegende Gericht stellte fest, dass keiner der beiden Fahrer den Unfall verschuldet habe. Da Zweifel hinsichtlich des Verursachungsbeitrags der am Unfall beteiligten Fahrzeuge zu den entstandenen Schäden blieben, sei Art. 506 Abs. 2 des Código Civil anzuwenden, der jedem Fahrer einen Haftungsanteil von 50 % zuweise.

14 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Haftung des Fahrers des Fahrzeugs, das die Schäden verursacht hat, entsprechend dem Anteil begrenzt, zu dem das Fahrzeug des Geschädigten zu den Schäden beigetragen hat. Diese Haftungsbegrenzung habe eine entsprechende Begrenzung der von Europeia de Seguros aus der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung an den Geschädigten zu zahlenden Entschädigung zur Folge.

15 Dass ein geschädigter Fahrer selbst zu den Schäden des Zusammenstoßes beigetragen habe, nehme ihm nicht die Eigenschaft eines Geschädigten im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Ersten Richtlinie. Daher komme dem geschädigten Fahrer hinsichtlich der Entschädigung wegen seiner körperlichen Schäden der Grundsatz zugute, den der Gerichtshof in seinem Urteil vom 30. Juni 2005, Candolin u. a. (C-537/03, Slg. 2005, I-5745), aufgestellt habe, wonach die bei Verkehrsunfällen Geschädigten zu schützen seien.

16 Unter Zugrundelegung dieses Grundsatzes habe der Gerichtshof entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die eine Minderung oder Begrenzung der Entschädigung von Verkehrsunfallopfern zuließen, wenn diese zu ihren eigenen Schäden beigetragen hätten, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien, da sie Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit nähmen.

17 Der Gerichtshof habe zwar anerkannt, dass die Haftpflicht weiterhin in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten falle, doch habe er festgestellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten müssten, das nur in außergewöhnlichen Fällen auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung eine Minderung der an den Geschädigten durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zu zahlenden Entschädigung zulasse.

18 Angesichts dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs äußert das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren anwendbaren zivilrechtlichen Haftungsregelung mit den genannten Bestimmungen des Unionsrechts.

19 Unter diesen Umständen hat das Tribunal da Relação do Porto das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Verstößt bei einem Zusammenstoß von Fahrzeugen, den keiner der Fahrer verschuldet hat und durch den einem der Fahrer (dem Geschädigten, der eine Entschädigung verlangt) körperliche und materielle Schäden entstanden sind, die Möglichkeit, die Gefährdungshaftung aufzuteilen (Art. 506 Abs. 1 und 2 des Código Civil), mit unmittelbarer Auswirkung auf die Höhe der dem Geschädigten für die aus seinen körperlichen Verletzungen resultierenden Vermögens- und Nichtvermögensschäden zu zahlende Entschädigung (denn diese Aufteilung der Gefährdungshaftung führt zu einer entsprechenden Minderung der Entschädigung), gegen das Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie in der Auslegung durch den Gerichtshof?

Zur Vorlagefrage

20 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die für den Fall, dass bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstanden sind, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftung für diese Schäden entsprechend dem Anteil aufteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festlegt, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.

21 Die portugiesische Regierung weist darauf hin, dass der Schadensersatzanspruch des Geschädigten nach den Art. 483 und 499 des Código Civil unmittelbar und proportional an den nach Art. 506 des Código Civil festgestellten Haftungsanteil gebunden sei.

22 Die deutsche, die italienische und die österreichische Regierung machen geltend, dass sowohl dem Zweck als auch dem Wortlaut der Ersten und der Zweiten Richtlinie zu entnehmen sei, dass diese nicht darauf gerichtet seien, die zivilrechtlichen Haftungsregelungen der Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Der Unionsgesetzgeber habe den Umfang der obligatorischen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und nicht die zivilrechtliche Haftung bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen regeln wollen.

23 Demnach falle die Frage der Vereinbarkeit der vom nationalen zivilrechtlichen Haftungsrecht festgelegten Kriterien für die Zurechnung des Schadens mit dem Unionsrecht nicht in den Anwendungsbereich der Ersten oder Zweiten Richtlinie. Die Anwendung dieser beiden Richtlinien setze voraus, dass der Umfang der Haftung vom zivilrechtlichen Haftungsrecht bereits bestimmt worden sei.

24 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit der Ersten und der Zweiten Richtlinie nach ihren Erwägungsgründen zum einen der freie Verkehr der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Union sowie der Fahrzeuginsassen gewährleistet und zum anderen den bei durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb der Union sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden soll (Urteile vom 28. März 1996, Ruiz Bernáldez, C-129/94, Slg. 1996, I-1829, Randnr. 13, und vom 14. September 2000, Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira, C-348/98, Slg. 2000, I-6711, Randnr. 24).

25 Wie sich aus ihrem achten Erwägungsgrund ergibt, wurde zu diesem Zweck mit der Ersten Richtlinie eine Regelung eingeführt, die auf der Annahme beruht, dass jedes Kraftfahrzeug mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Union durch eine Versicherung gedeckt ist. Daher sieht Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen Maßnahmen zu ergreifen haben, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist (Urteil Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira, Randnr. 25).

26 Dieser Artikel überließ in seiner ursprünglichen Fassung jedoch den Mitgliedstaaten die Bestimmung der Schadensdeckung und der Modalitäten der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Um fortbestehende Unterschiede bezüglich des Umfangs der Versicherungspflicht zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu verringern, wie in der dritten Begründungserwägung der Zweiten Richtlinie erwähnt, wurde mit Art. 1 der Zweiten Richtlinie in Bezug auf die Haftpflicht eine zwingend vorgeschriebene Deckung der Sach- und Personenschäden in Höhe bestimmter Beträge eingeführt und mit Art. 1 der Dritten Richtlinie diese Verpflichtung auf die Deckung der Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers erstreckt (Urteil Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira, Randnr. 26).

27 Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie schreibt somit in der durch die Zweite und die Dritte Richtlinie erläuterten und ergänzten Fassung den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist, und gibt insbesondere an, welche Arten von Schäden diese Versicherung zu decken hat und welchen geschädigten Dritten sie Ersatz zu gewähren hat (Urteil Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira, Randnr. 27).

28 Der Gerichtshof hat sich bereits dazu geäußert, welche Konsequenzen aus dieser Verpflichtung für den Ersatz von Schäden Dritter durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten zu ziehen sind.

29 So hat der Gerichtshof vor dem Hintergrund des Opferschutzgedankens, der in den fraglichen Richtlinien immer wieder bekräftigt wird, entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie einer Regelung entgegensteht, nach der sich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer auf Rechtsvorschriften oder Vertragsklauseln berufen kann, um Dritten, die Opfer eines durch das versicherte Fahrzeug verursachten Unfalls sind, Schadensersatz zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteile Ruiz Bernáldez, Randnr. 20, und Candolin u. a., Randnr. 18).

30 Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie auf diese Verpflichtung nur insoweit Bezug nimmt, als es um Rechtsvorschriften oder Versicherungsvertragsklauseln geht, mit denen Schäden, die Dritten aufgrund der Nutzung oder Führung des versicherten Fahrzeugs durch zum Führen des Fahrzeugs nicht ermächtigte Personen, durch Personen, die keinen Führerschein besitzen, oder durch Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind, zugefügt wurden, von der Deckung durch die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ausgeschlossen werden (Urteile Ruiz Bernáldez, Randnr. 21, und Candolin u. a., Randnr. 19).

31 Jedoch ist zwischen der Pflicht zur Deckung von Schäden, die Dritten durch Kraftfahrzeuge entstehen, durch die Haftpflichtversicherung auf der einen und dem Umfang ihrer Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten auf der anderen Seite zu unterscheiden. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht festgelegt und garantiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. April 2007, Farrell, C-356/05, Slg. 2007, I-3067, Randnr. 32).

32 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits festgestellt, dass sich aus dem Zweck der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie und aus ihrem Wortlaut ergibt, dass sie nicht die Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten harmonisieren sollen und dass es diesen beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nach wie vor freisteht, die Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen selbst zu regeln (Urteile Candolin u. a., Randnr. 24, und Farrell, Randnr. 33).

33 Dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie ist nämlich zu entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber die Art der Kraftfahrzeug-Haftpflicht – Gefährdungs- oder Verschuldenshaftung –, die von der Pflichtversicherung zu decken ist, nicht hat festlegen wollen.

34 Die Mitgliedstaaten sind jedoch verpflichtet, sicherzustellen, dass die nach ihrem nationalen Recht geltende Haftpflicht durch eine Versicherung gedeckt ist, die mit den Bestimmungen der erwähnten drei Richtlinien im Einklang steht (Urteil Farrell, Randnr. 33).

35 Zudem hat der Gerichtshof ebenfalls festgestellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich des zivilrechtlichen Haftungsrechts das Unionsrecht, insbesondere Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie, beachten müssen (Urteile Candolin u. a., Randnr. 27, und Farrell, Randnr. 34).

36 Die nationalen Vorschriften des zivilrechtlichen Haftungsrechts über den Ersatz von Verkehrsunfallschäden dürfen die genannten Artikel deshalb nicht ihrer praktischen Wirksamkeit berauben (Urteile Candolin u. a., Randnr. 28, und Farrell, Randnr. 34).

37 Dies wäre aber der Fall, wenn die Haftung des Geschädigten für seine eigenen Schäden, wie sie sich aus der Bewertung seines Schadensbeitrags anhand des nationalen zivilrechtlichen Haftungsrechts ergibt, zur Folge hätte, dass sein Anspruch auf Ersatz der Schäden, für die der Versicherte verantwortlich ist, durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung von vornherein ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt würde.

38 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass eine auf allgemeinen und abstrakten Kriterien beruhende nationale Regelung nicht dem Fahrzeuginsassen den Anspruch auf eine Entschädigung durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nehmen oder diesen Anspruch unverhältnismäßig begrenzen darf, nur weil der Fahrzeuginsasse zur Entstehung des Schadens beigetragen hat. Der Umfang eines solchen Anspruchs darf nur unter außergewöhnlichen Umständen auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung und unter Beachtung des Unionsrechts und der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden (Urteile Candolin u. a., Randnr. 30, und Farrell, Randnr. 35).

39 In der Rechtssache des Ausgangsverfahrens geht es um den Ersatz von Schäden, die der Fahrer eines Kraftfahrzeugs bei einem Zusammenstoß dieses Fahrzeugs mit einem anderen Kraftfahrzeug erlitten hat, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, im Rahmen der Haftpflicht. Im Gegensatz zu dem Fall, der den Rechtssachen zugrunde lag, in denen die Urteile Candolin u. a. und Farrell ergangen sind, ergibt sich die Minderung der Entschädigung für die vom Fahrer erlittenen Schäden nicht aus einer Begrenzung der Haftpflichtdeckung durch die Versicherung, sondern aus einer Begrenzung der Haftpflicht des Versicherten nach der geltenden zivilrechtlichen Haftungsregelung.

40 Gemäß Art. 506 Abs. 1 des Código Civil wird nämlich, wenn bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstehen und keinen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftpflicht der beiden entsprechend dem Anteil aufgeteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben. Bei Zweifeln über diesen Anteil wird nach Abs. 2 dieses Artikels davon ausgegangen, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.

41 Mit anderen Worten sehen die im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine Teilung der Haftpflicht für die Schäden vor, die bei einem Zusammenstoß zweier Kraftfahrzeuge entstehen, wenn keinen der Fahrer ein Verschulden trifft.

42 Wie die portugiesische Regierung ausgeführt hat, bestimmt sich nach dieser Haftungsverteilung der Ersatz, den jeder der Fahrer im Rahmen seiner Haftpflicht für die beim Zusammenstoß entstandenen Schäden zu leisten hat.

43 Im Gegensatz zu den jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen in den Rechtssachen, in denen die Urteile Candolin u. a. und Farrell ergangen sind, hat Art. 506 des Código Civil nicht zur Folge, dass der Anspruch des Geschädigten – im vorliegenden Fall des Fahrers eines Kraftfahrzeugs, der bei einem Zusammenstoß mit einem anderen Kraftfahrzeug körperliche Schäden erlitten hat – auf eine Entschädigung durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung von vornherein ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt würde. Diese Bestimmung sieht nämlich lediglich vor, dass die Haftpflicht entsprechend dem Anteil, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, aufgeteilt wird, was sich sodann auf die Höhe der Entschädigung auswirkt.

44 Daher berührt diese Bestimmung nicht die vom Unionsrecht vorgesehene Gewähr, dass die nach dem nationalen Recht geltende zivilrechtliche Haftungsregelung durch eine mit den Bestimmungen der drei genannten Richtlinien vereinbare Versicherung gedeckt sein muss.

45 Dieses Ergebnis wird im Übrigen durch den mit der Richtlinie 2005/14 in die Dritte Richtlinie eingefügten Art. 1a bestätigt, der für die Deckung von Personen- und Sachschäden von Fußgängern, Radfahrern und anderen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern auf das einzelstaatliche Zivilrecht verweist. Da diese Bestimmung vorsieht, dass die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung solche Schäden deckt, soweit die Geschädigten einen Anspruch auf Schadensersatz nach dem einzelstaatlichen Recht haben, kann für den Fahrer eines Kraftfahrzeugs nichts anderes gelten, wenn er gleichzeitig Geschädigter und Mitverantwortlicher für seine körperlichen Schäden aufgrund eines Unfalls ist, an dem ein anderes Fahrzeug beteiligt war. Zudem ergibt sich hierzu aus Art. 12 der Richtlinie 2009/103, dass die Deckung der Schäden spezifischer Kategorien von Unfallopfern, insbesondere von nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern und Fahrzeuginsassen, durch die Pflichtversicherung die Haftung und die Höhe des Schadensersatzes unberührt lässt.

46 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstanden sind, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftung für diese Schäden entsprechend dem Anteil aufteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festlegt, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.


Kosten

47 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstanden sind, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftung für diese Schäden entsprechend dem Anteil aufteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festlegt, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.

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