BGH Urteil vom 22.02.1989 - IVa ZR 274/87 - Zur Feststellung der subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit bei einer Trunkenheitsfahrt im Zustand verminderter Einsichts- und Hemmungsfähigkeit
BGH v. 22.02.1989: Zur Feststellung der subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit bei einer Trunkenheitsfahrt im Zustand verminderter Einsichts- und Hemmungsfähigkeit
Der BGH (Urteil vom 22.02.1989 - IVa ZR 274/87) hat entschieden:
Zur Feststellung der subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit bei einer Trunkenheitsfahrt im Zustand verminderter Einsichts- und Hemmungsfähigkeit.
Der Kläger begehrt von der Beklagten aus einer Fahrzeugvollversicherung für seinen PKW Entschädigung für einen Totalschaden. Er stieß mit seinem PKW am 3. März 1986 gegen 18.50 Uhr in B. aus einer Stoppstraße kommend mit einem anderen vorfahrtsberechtigten PKW zusammen. Eine Blutprobe ergab für den Zeitpunkt der Blutentnahme (19.37 Uhr) eine mittlere Blutalkoholkonzentration von 2,23 Promille.
Der Beklagte lehnte die Regulierung des Schadens ab, weil der Kläger den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt habe. Der Kläger beruft sich demgegenüber darauf, er könne für den Unfall nicht verantwortlich gemacht werden, weil er sich bei Fahrtantritt in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit befunden habe. Er sei zur Zeit des Unfalls psychisch stark angeschlagen gewesen, weil seine Ehefrau ihn verlassen habe, er anonyme Telefonanrufe bekommen und unter starker Arbeitsbelastung gestanden habe. Wegen seines desolaten nervlichen Zustandes habe er sich in ärztlicher Behandlung befunden und Medikamente eingenommen. Als er am Unfalltag von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe er wieder einen anonymen Anruf erhalten, der ihn sehr erregt habe. Zur Beruhigung habe er Grog getrunken und mehrere Tabletten Valium eingenommen. Dadurch sei es dann zu einem "Filmriss" gekommen. Er könne sich im nachhinein nur noch daran erinnern, dass er im Laufe des Nachmittags mit seiner Mutter telefoniert und wegen seiner schlechten Verfassung sie habe aufsuchen wollen. Ursprünglich habe er nicht vorgehabt, noch mit seinem Wagen zu fahren, und habe auch nicht damit rechnen können, dass er nach Alkoholgenuss noch einmal Auto fahren werde.
Die Klage ist vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht ohne Erfolg geblieben. Mit der - zugelassenen - Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Das Berufungsgericht hält den Beklagten für leistungsfrei, weil der Kläger den Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt habe (§ 61 VVG).
1. Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Unfalls mit einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,23 Promille absolut fahruntüchtig gewesen. Der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, dass diese Fahruntüchtigkeit ursächlich für den Unfall geworden sei. Die Nichtbeachtung der Vorfahrt eines anderen Fahrzeugs sei ein schwerer Verstoß gegen die Verkehrsregeln, der typisch für alkoholisierte Kraftfahrer sei. Das wird von der Revision nicht in Zweifel gezogen und enthält keinen Rechtsfehler.
2. Den Vorwurf grober Fahrlässigkeit begründet der Tatrichter wie folgt:
Für die Annahme grober Fahrlässigkeit spreche auch bei einem alkoholbedingt absolut fahruntüchtigen Kraftfahrer kein Beweis des ersten Anscheins. Einem Kraftfahrer, der absolut fahruntüchtig sei, also eine Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,3 Promille aufweise, sei jedoch regelmäßig der Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu machen. Denn er müsse eine Alkoholmenge zu sich genommen haben, bei der sich ihm bei gewissenhafter Prüfung die Feststellung, er sei nicht mehr in der Lage, ein Kraftfahrzeug zu führen, geradezu aufdrängen müsse. Im Einzelfall könne sein Verschulden allerdings ausgeschlossen oder erheblich gemindert sein.
Damit geht der Berufungsrichter entgegen der Ansicht der Revision von dem richtig verstandenen Begriff der groben Fahrlässigkeit aus, wie ihn der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt. Der Berufungsrichter berücksichtigt, dass grob fahrlässig nur der handelt, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gröblich, d.h. in hohem Grade, außer Acht lässt und nicht beachtet, was unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten musste. Er geht zutreffend davon aus, dass grobe Fahrlässigkeit eine schlechthin unentschuldbar erscheinende Pflichtverletzung voraussetzt. Darin liegt das für die Annahme grober Fahrlässigkeit in subjektiver Hinsicht erforderliche, gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigerte Verschulden (vgl. BGH Urteile vom 11.7.1967, VI ZR 14/66 = VersR 1967, 909; vom 19.12.1979, IV ZR 91/78 = NJW 1980, 887, 888; vom 23.1.1985, IVa ZR 128/83 = VersR 1985, 440 = NJW 1985, 2648).
3. Zum Einwand des Klägers, er sei bei Antritt der Fahrt schuldunfähig gewesen, führt der Tatrichter aus, das sei nicht bewiesen; das Zusammenwirken von Alkohol und Psychopharmaka könne nur anhand der jeweiligen Ausfallerscheinungen beurteilt werden; die Feststellungen des Polizeiarztes im Protokoll über die Blutentnahme sprächen aber gegen die Annahme, dass der Kläger sich im Zustand einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung befunden habe. Nach der Beweislastregel des § 827 Satz 1 BGB, die im Rahmen des § 61 VVG entsprechend anzuwenden sei, gehe das zu Lasten des Klägers. Damit sei er für die Fahrt im Zustand alkoholbedingter absoluter Fahruntauglichkeit und damit auch für den durch diesen Zustand verursachten Unfall verantwortlich. Auch diese Ausführungen sind rechtsfehlerfrei.
4. Andererseits hat der Tatrichter gewürdigt, dass der Kläger sich in einer Phase ärztlich überwachter Alkoholentwöhnung befand, dass er in besonderem Maße mit den Folgen alkoholischer Beeinflussung vertraut und deshalb in der Lage war, trotz alkoholischer Enthemmung seine Fahrtüchtigkeit noch kritisch zu überprüfen. Er hat weiter bedacht, dass der Kläger von seinem Hausarzt über die Alkoholentzugssymptome und über die Wirkung der zur Bekämpfung dieser Symptome verordneten Medikamente wiederholt aufgeklärt worden und darüber belehrt worden war, dass er nach Medikamenteneinnahmen nicht mehr fahren dürfe. Daraus hat der Tatrichter sachverständig beraten die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger über das Maß an Einsichtsfähigkeit verfügte, welches nötig war, um auch in dem bei Fahrtantritt bestehenden alkoholisierten und enthemmten Zustand noch selbstkritische Überlegungen zu seiner Fahrtüchtigkeit anzustellen. Angesichts der Medikamenteneinnahme und der erheblichen Alkoholmenge habe sich ihm aufdrängen müssen, dass er eigentlich nicht mehr habe fahren dürfen. Diese Erkenntnis habe er verdrängt und damit grob fahrlässig gehandelt.
In einer Hilfserwägung meint der Tatrichter schließlich, selbst wenn insoweit Zweifel blieben, gehe das zu Lasten des Klägers. Nach dem in § 827 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken müsse der Versicherungsnehmer, der sich darauf berufe, nicht nur mangelnde sondern auch verminderte Einsichtsfähigkeit beweisen, auch wenn die Beweislast für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit nach § 61 VVG an sich beim Versicherer liege.
Auch diese Ausführungen halten in der Hauptbegründung der rechtlichen Nachprüfung stand.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 23. Januar 1985 (IVa ZR 128/83 = NJW 1985, 2648 = VersR 1985, 440) ausgesprochen, dass § 827 BGB im Rahmen des § 61 VVG entsprechend anzuwenden ist. Er hat dort hervorgehoben, dass damit nicht gesagt ist, dass der Versicherer bei einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift der ihm nach § 61 VVG obliegenden Beweislast auch für die subjektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit enthoben wäre. Die Annahme grober Fahrlässigkeit setzt auf der subjektiven Seite voraus, dass die im Verkehr erforderliche Sorgfalt durch ein auch subjektiv unentschuldbares Verhalten in hohem Maße außer Acht gelassen worden ist. Dabei ist auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden nötig. Dafür ist eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalles unerlässlich. Deshalb kann eine etwa erheblich verminderte Einsichts- und Hemmungsfähigkeit nicht außer Betracht bleiben. Da beim zivilrechtlichen Begriff der groben Fahrlässigkeit der Grad der subjektiven Vorwerfbarkeit von Bedeutung ist, verbleibt es - entgegen der Hilfserwägung des Tatrichters - grundsätzlich dabei, dass der Versicherer auch diese subjektiven Voraussetzungen der Annahme grober Fahrlässigkeit nachzuweisen hat. Eines weiteren Eingehens auf die Feststellung dieser subjektiven Voraussetzungen bedurfte es im damals entschiedenen Fall nicht, weil dem dortigen Versicherungsnehmer der Vorwurf eines groben Fehlverhaltens schon zu einer Zeit gemacht werden musste, als er noch fraglos zurechnungsfähig war.
Auch eine erheblich eingeschränkte Einsichts- und Hemmungsfähigkeit schließt indessen die Annahme des für grobe Fahrlässigkeit erforderlichen gesteigerten Verschuldens nicht von vornherein aus. Grobe Fahrlässigkeit kann trotz erheblich eingeschränkter Einsichts- und Hemmungsfähigkeit zu bejahen sein, wenn ganz elementare Verhaltensregeln verletzt werden, deren Einhaltung auch in diesem Zustand unbedingt erwartet werden muss. So verhält es sich in der Regel bei der Trunkenheitsfahrt.
Das Führen eines Kraftfahrzeuges in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand wird objektiv durchweg als gröblicher Verstoß gegen die Grundsätze der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt anzusehen sein. Es gehört nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den schwersten Verkehrsverstößen überhaupt. Wer sich in absolut fahruntüchtigem Zustand an das Steuer eines Kraftfahrzeuges setzt, handelt grundsätzlich grob fahrlässig (Senatsurteil vom 23. Januar 1985, IVa ZR 128/83 = NJW 1985, 2648 = VersR 1985, 440 m.w.N.). Daraus folgt in aller Regel auch ohne weiteres das für die Annahme grober Fahrlässigkeit erforderliche, gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigerte Verschulden. Dass sich ein unter starker Alkoholeinwirkung stehender Kraftfahrer nicht mehr ans Steuer seines Kraftfahrzeuges setzen darf, und dass er durch ein Fahren in fahruntüchtigem Zustand andere Verkehrsteilnehmer, sich selbst und sein Fahrzeug einer unverantwortlichen Gefährdung aussetzt, ist heute so sehr Allgemeingut, dass unbedenklich davon ausgegangen werden kann, dass bei fast jedem Kraftfahrer die Hemmschwelle für ein Fahren trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit stark heraufgesetzt ist. Der Fahrer, bei dem dies aus mangelnder Einsicht nicht der Fall ist, muss sich diese mangelnde Einsicht in der Regel als grobes Verschulden zurechnen lassen. Bei den meisten Kraftfahrern pflegt die Einsichtsfähigkeit und die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, in Bezug auf die Trunkenheitsfahrt auch bei einem hohen Grad der Alkoholisierung noch vorhanden zu sein. Auch wenn der Kraftfahrer sich erst dann zum Führen seines Kraftfahrzeuges entschließt, wenn er bereits stark unter Alkoholeinfluss steht, wird der Tatrichter deshalb in vielen Fällen ungeachtet der Alkoholbeeinflussung das für die Annahme grober Fahrlässigkeit erforderliche gesteigerte subjektive Verschulden feststellen können. Rechnete er schon vor Trinkbeginn damit, dass er unter Alkoholeinfluss mit seinem Kraftfahrzeug fahren werde, oder musste er nur damit rechnen, so setzt der Schuldvorwurf ohnehin nach den Regeln der actio libera in causa zu diesem früheren Zeitpunkt ein. Das schließt aber nicht aus, dass in seltenen Ausnahmefällen, insbesondere in unvorhergesehenen Notfällen, einem Kraftfahrer, der nicht damit zu rechnen braucht, dass er sein Kraftfahrzeug noch benutzen würde, bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände der schwere Vorwurf des grob fahrlässigen Herbeiführens des Versicherungsfalles nicht mehr zu machen ist.
Nach diesen Grundsätzen hat der Tatrichter zu Recht angenommen, dass der Kläger den Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat. Dass er mit seiner Trunkenheitsfahrt bei einer Alkoholkonzentration von mindestens 2,23 Promille gröblich gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verstoßen hat, steht außer Frage. Auf Schuldunfähigkeit kann er sich nicht berufen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass er bei Trinkbeginn annahm, er werde nicht mehr mit seinem Wagen fahren, rechtfertigt die tatrichterliche Überzeugung, dass der Kläger bei Fahrtantritt noch über das Maß an Einsichtsfähigkeit verfügte, welches nötig war, um noch selbstkritische Überlegungen zu seiner Fahrtüchtigkeit anzustellen, und dass sich ihm aufdrängen musste, dass er eigentlich nicht mehr fahren durfte, das Urteil eines auch in subjektiver Hinsicht groben Fehlverhaltens. Damit sind die Voraussetzungen einer Leistungsfreiheit des Beklagten nach § 61 VVG erfüllt.