Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Beschluss vom 16.06.2011 - 12 U 135/10 - Zu den Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen in ein Grundstück

KG Berlin v. 16.06.2011: Zu den Sorgfaltsanforderungen beim Linksabbiegen in ein Grundstück auf schmaler Straße


Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 16.06.2011 - 12 U 135/10) hat entschieden:
Erlaubt eine schmale Straße kein deutliches und rechtzeitiges Einordnen eines Linksabbiegers, so muss dieser die größte Sorgfalt unter Rückschau walten lassen. Dabei hat der Linksabbieger in ein Grundstück jeden möglicherweise kollidierenden Folge- und Gegenverkehr durch zweiten Umblick festzustellen und zu berücksichtigen und gegebenenfalls zunächst durchfahren lassen.


Siehe auch Linksabbiegen und Haftung/Schadensersatz


Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist nicht der Fall.

Das Landgericht hat die Beklagten mit dem angegriffenen Urteil zu Recht lediglich hinsichtlich einer Haftungsquote von 50 % zur Zahlung an die Klägerin verurteilt.

Hinsichtlich des zugesprochenen Schmerzensgeldes besteht unter Berücksichtigung der hälftigen Mithaftung der Klägerin ebenfalls kein höherer Anspruch der Klägerin.

1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass zunächst ein Anscheinsbeweis gegen die Klägerin streitet, die ihr gemäß § 9 Abs. 5 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten beim Abbiegen in ein Grundstück nicht ausreichend beachtet zu haben.

Dabei ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die höchsten Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO vorliegend auch für die Klägerin galten, da diese nach ihrem eigenen Vorbringen nach links in eine Parktasche einbiegen wollte, womit ein Abbiegen in ein Grundstück im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO vorlag (vgl. hierzu Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 9 StVO Rn 45).

Erlaubt eine schmale Straße, wie vorliegend nach dem Vorbringen der Klägerin, kein deutliches und rechtzeitiges Einordnen, so muss der Abbieger die größte Sorgfalt unter Rückschau walten lassen. Dabei hat der Linksabbieger in ein Grundstück jeden möglicherweise kollidierenden Folge- und Gegenverkehr durch zweiten Umblick festzustellen und zu berücksichtigen und gegebenenfalls zunächst durchfahren lassen (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 9 StVO Rn. 47).

Bereits aus dem eigenen Vorbringen der Klägerin ergibt sich, dass sie diesen höchsten Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist.

Die Klägerin selbst hat vorgetragen, dass sie den Abbiegevorgang begonnen hatte, als das Beklagtenfahrzeug noch 10-12 m hinter ihr war, mithin allenfalls drei Autolängen. Dies war auch im Hinblick auf die geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h viel zu wenig, um den Abbiegevorgang noch vor dem herannahenden Fahrzeug zu beginnen.

Entgegen der Annahme der Klägerin beträgt der Anhalteweg aus einer Geschwindigkeit von 30 km/h insgesamt ca. 14,20 m, wenn eine Bremsverzögerung von 5,5 m/s², eine Reaktionszeit von 0,6 s, eine Umsetzzeit von 0,2 s, eine Schwellzeit von 0,22 s und eine Ansprechzeit von 0,05 s angenommen wird. Dies zeigt, dass auch bei Einhalten der vorhandenen Geschwindigkeitsbeschränkungen der Beklagte zu 2. sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand hätte abbremsen können. Der seit Jahrzehnten mit Verkehrsunfallsachen als Spezialgebiet befasste Senat kann dies aus eigener Kenntnis beurteilen.

In ihrer persönlichen Anhörung hat die Klägerin zudem angegeben, dass zwischen dem Umschauen und dem tatsächlichen Abbiegen ein Zeitraum von 10 bis 15 Sekunden gelegen habe. Auch dies zeigt, dass die Klägerin jedenfalls nicht unmittelbar vor dem Abbiegen nochmals eine zweite Rückschau gehalten hat, was das Landgericht zu Recht berücksichtigt hat.

Wenn das Landgericht im Hinblick auf die durch den Sachverständigen festgestellte Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von jedenfalls 54 km/h von einem Mitverschulden ausgegangen ist, welches zu einem Haftungsanteil von 50 % führt, so ist dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

2. Die von der Berufung hiergegen vorgebrachten Angriffe haben keine Aussicht auf Erfolg.

Zu Recht hat das Landgericht bei seiner Abwägung der gegenseitigen Verschuldensanteile lediglich eine nachgewiesene Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 54 km/h berücksichtigt. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei den Angaben im Gutachten des erstinstanzlichen Sachverständigen, die Geschwindigkeit habe im Bereich von 54 km/h bis 90 km/h gelegen nicht um einen Schreibfehler handelt, wofür nach der Auffassung des Senats einiges spricht, ist lediglich der untere Wert zu Lasten der Beklagten als sicher festgestellt zu berücksichtigen.

Nichts anderes ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen E. Auch wenn der Zeuge der Meinung war, die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs auf Grund seiner langjährigen Fahrpraxis genau einschätzen zu können, so kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senats Geschwindigkeitsschätzungen von Zeugen, zumal solchen als Fußgänger, ohne weitere Bezugstatsachen keine Bedeutung beigemessen werden (vgl. hierzu bspw. KG, Urteil vom 17. März 2008 – 22 U 150/07 –; Senat, Beschluss vom 27. März 2008 – 12 U 235/07 – KGR 2008, 937; Senat, Urteil vom 10. Juli 2008 – 12 U 41/07 –).

Soweit die Berufung der Auffassung ist, der Klägerin könne bereits deshalb kein Vorwurf gemacht werden, weil das Beklagtenfahrzeug zum Zeitpunkt des nach links in die Parklücke Einbiegens für sie noch gar nicht erkennbar gewesen sei, ist dies nicht zutreffend.

Die Klägerin selbst hat mit der Klageschrift vorgetragen, dass das Beklagtenfahrzeug noch 10-12 m entfernt gewesen sei, als sie zum Einbiegen angesetzt habe. Dies stimmt in etwa überein mit der Aussage des Zeugen E, der angegeben hatte, dass der Mazda nach links zog, als das grüne Auto noch 8-10 m entfernt gewesen sei. Der Beklagte zu 2. hat in seiner persönlichen Anhörung ebenfalls angegeben, dass er keine zwei Autolängen entfernt gewesen sei, als die Klägerin nach links gefahren sei. Auch dies liegt im Rahmen des Vortrags der Klägerin.

Soweit die Berufung nunmehr meint, das Fahrzeug des Beklagten zu 2. sei für die Klägerin nicht erkennbar gewesen, lag dies ersichtlich daran, dass sie ihrer doppelten Rückschaupflicht, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht in ausreichendem Maße nachgekommen ist. Auch unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen F und den Angaben der Klägerin ergibt sich nichts anderes.

Die Klägerin hatte erklärt, dass sie sich nach Bemerken des Parkplatzes in der Parktasche umgesehen habe, sodann den Blinker gesetzt habe und dann nach links gefahren sei.

Aus der Aussage des Zeugen F ergibt sich, dass die Klägerin ca. 3 Sekunden geblinkt hatte, bevor sie losgefahren sei. Vom Anfahren bis zum Unfall sollen nach Angaben des Zeugen F nochmals 7 Sekunden verstrichen sein.

Aus dem allen, sowie den Angaben der Klägerin zum Zeitraum zwischen Umschau und Losfahren ergibt sich, dass die Klägerin jedenfalls nicht kurz vor dem tatsächlichen Einbiegen nochmals überprüft hatte, ob sie durch das beabsichtigte Fahrmanöver keinen anderen Verkehrsteilnehmer gefährden würde.

Im Zusammenhang damit, dass die Klägerin zudem unstreitig zunächst rechts geblinkt hatte und auch nach rechts gefahren war, ergibt sich somit, dass die Klägerin den ihr obliegenden Sorgfaltspflichten nicht gerecht geworden ist.

3. Ob das Landgericht zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Ersatz der Mietwagen- und Sachverständigenkosten wegen fehlender Aktivlegitimation der Klägerin abgewiesen hat, kann dahinstehen, da die Klägerin nach einer entsprechenden Zahlung durch die Beklagten mit der Berufung lediglich noch den jeweils hälftigen Betrag geltend macht.

Ein über 50 % hinausgehender Ersatzanspruch besteht jedoch, wie oben bereits ausgeführt, nicht.

Gleiches gilt für die mit der Berufung weiter verfolgten höheren Kosten der Rechtsverfolgung. Diese hat das Landgericht zutreffend nach dem lediglich geringeren Streitwert berechnet. Insoweit hat das Landgericht in den Urteilsgründen zwar angegeben, die berechtigte Klageforderung betrage 5.398,80 EUR, obwohl ein Betrag in Höhe von 5.698,80 EUR zugesprochen worden ist. Da insoweit jedoch kein Kostensprung besteht, ist die Berechnung der vorgerichtlichen Anwaltskosten mit 546,69 EUR zutreffend erfolgt.

4. Ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg hat die Berufung, soweit die Klägerin meint, ein höheres Schmerzensgeld sei angemessen.

Die Klägerin selbst hatte ein Schmerzensgeld in Höhe von 800,- EUR für angemessen gehalten.

Unter Berücksichtigung eines hälftigen Mitverschuldens der Klägerin ist jedenfalls kein höheres Schmerzensgeld als 600,- EUR zuzusprechen.

5. Im Hinblick auf die obigen Ausführungen wird anheim gestellt, die weitere Durchführung der Berufung zu überdenken.

6. Es ist beabsichtigt, den Streitwert für die Berufungsinstanz auf 5.905,91 EUR festzusetzen.