Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 02.11.1965 - VI ZR 134/64 - Zur Zubilligung einer Schrecksekunde bei überraschendem Auftauchen eines Tieres

BGH v. 02.11.1965: Zur Zubilligung einer Schrecksekunde bei überraschendem Auftauchen eines Tieres und zur Haftungsabwägung zwischen Betriebsgefahr und Tiergefahr


Der BGH (Urteil vom 02.11.1965 - VI ZR 134/64) hat entschieden:
Wird der Kfz-Führer durch das plötzliche Auftauchen eines Tieres (hier: eines Dackels) überrascht, so steht ihm eine Schrecksekunde zu; erst nach deren Ablauf ist er verpflichtet, sach- und verkehrsgemäß zu reagieren. Trifft ihn kein Vorwurf, fällt hingegen dem Tierhalter Fahrlässigkeit zur Last, dann führt die Haftngsabwägung zwischen Betriebs- und Tiergefahr zur vollen Haftung des Tierhalters.


Siehe auch Tierhalterhaftung/Tiergefahr und Schreckreaktion


Tatbestand:

Am 16. August 1961 befuhr der Kläger auf seinem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h den Buchheimer Ring in Köln in Richtung Höhenberg. Etwa in Höhe des Hauses Nummer 27 überquerte ein Dackelbastard, der von den Beklagten gehalten wurde, den Buchheimer Ring von links nach rechts in Fahrtrichtung des Klägers und kreuzte dessen Fahrbahn. Es kam zu einer Berührung von Dackel und Motorrad. Der Kläger geriet dadurch ins Schleudern und kam nach etwa 30 m zu Fall, wobei er erhebliche Verletzungen erlitt.

Mit der Klage hat der Kläger einen Teil des entstandenen Vermögensschadens ersetzt verlangt und die Feststellung begehrt, dass ihm die Beklagten zum Ersatz aller weiteren Unfallschäden verpflichtet sind. Er hat vorgetragen, der Hund sei für ihn unvorhersehbar in das Motorrad gelaufen. Der Unfall sei allein auf das Verhalten des Hundes zurückzuführen und für den Kläger unabwendbar gewesen.

Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt und entgegnet, der Kläger habe den Unfall durch falsche Reaktion verschuldet. Er habe den Dackel so rechtzeitig wahrnehmen können, dass er den Unfall durch Abbiegen oder Abbremsen noch habe verhindern können.

Das Landgericht hat die Klageansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt vorbehaltlich des Rechtsübergangs auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger.

Das Oberlandesgericht hat den Zahlungsanspruch nur zur Hälfte dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger die Hälfte der weiteren Unfallschäden zu ersetzen, beides jedoch vorbehaltlich des Rechtsübergangs auf die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Mit der Revision erstrebt der Kläger volle Zuerkennung seiner Ansprüche. Die Beklagten bitten um Zurückweisung der Revision.


Entscheidungsgründe:

Das Berufungsgericht hat zutreffend eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 833 Satz 1, 840 Abs. 1 BGB bejaht. Die Erwägungen, aus denen es ein mitwirkendes Verschulden des Klägers annimmt und ihm im Wege des Schadensausgleichs die Hälfte seines Schadens anlastet, halten jedoch einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Wie das Berufungsgericht unangefochten feststellt, hat der Kläger den Dackel erstmals wahrgenommen, als dieser entlang der Ligusterhecke des Hauses Nr. 14 in Richtung auf die 7,5 m breite Fahrbahn lief. In diesem Augenblick war der Kläger nur noch 11,50 m von dem späteren Berührungspunkt mit dem Hunde entfernt. Die Fahrgeschwindigkeit des ordnungsmäßig rechtsfahrenden Klägers betrug 40 km/h, d. h. 11,1 m/sec.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Kläger habe bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt den Unfall vermeiden können. Er habe dem Hunde ausweichen oder sein Fahrzeug abbremsen können. Möge ihm ein Ausweichen nach rechts oder links im Hinblick auf die Bäume am rechten Fahrbahnrand und die gebotene Rücksichtnahme auf den Gegenverkehr auch nicht zumutbar gewesen sein, so habe er doch durch Abbremsen seine Geschwindigkeit so herabmindern können, dass eine Berührung mit dem Hunde vermieden worden wäre.

Diese Ausführungen sind, wie die Revision mit Recht rügt, nicht frei von Rechtsirrtum.

Die dem Kläger vom Erkennen der Überquerungsabsicht des Hundes bis zur Berührung mit ihm zur Verfügung stehende Zeitspanne betrug bei der festgestellten Fahrgeschwindigkeit von 11, 1 m/sec. und der zurückzulegenden Strecke von 11,50 m nur etwa 1 Sekunde. Dem Kläger ist aber, was das Berufungsgericht außer Betracht gelassen hat, zunächst eine Schrecksekunde zuzubilligen, weil er ohne sein Verschulden durch die von dem Hunde der Beklagten verursachte Gefahr überrascht worden ist (vgl. Senatsurteile vom 16. Dezember 1953 – VI ZR 87/52 – LM § 1 StVO Nr. 6; vom 24. Februar 1959 – VI ZR 41/58 – VersR 1959, 455; vom 28. November 1961 – VI ZR 89/61 – VersR 1962, 164). Die dem Kläger außerdem zuzubilligende Reaktionszeit darf nicht gering bemessen werden, weil er, bevor er eine Maßnahme zur Abwendung des Unfalls ergriff, sich zunächst darüber schlüssig werden musste, welche Maßnahme am sachdienlichsten sei: eine Notbremsung oder ein Ausweichen nach rechts oder nach links. Die Verbindung beider Maßnahmen verbot sich wegen der damit verbundenen Schleudergefahr für das Motorrad. Schließlich ist noch die erforderliche Bremsansprechzeit zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen spricht viel dafür, dass der Unfall für den Kläger unabwendbar i. S. des § 7 Abs. 2 StVG war, weil die ihm zur Verfügung stehende Sekunde bereits durch die Schreck-, Reaktions- und Bremsansprechzeit aufgezehrt war.

Diese Frage kann jedoch offenbleiben. Auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger objektiv möglich war, den Unfall durch Abbremsen oder Ausweichen zu vermeiden, so kann es ihm, weil er von der durch den Hund der Beklagten verursachten Gefahr schuldlos überrascht wurde, jedenfalls nicht als Verschulden angerechnet werden, wenn er in verständlicher Bestürzung innerhalb des ihm für eine Reaktion zur Verfügung stehenden Bruchteils einer Sekunde nicht die rechte Maßnahme zur Abwendung des Unfalls ergriffen hat (vgl. Senatsurteile vom 3. Dezember 1957 – VI ZR 251/56 – VersR 1958, 165; 26. Januar 1960 – VI ZR 4/59 – VersR 1960, 328; vom 7. Juli 1959 – VI ZR 165/58 – VersR 1959, 857).

Andererseits muss dem Erstbeklagten, was das Berufungsgericht ebenfalls außer Betracht gelassen hat, ein unfallursächliches Verschulden zur Last gelegt werden. Die Beklagten tragen selbst vor, ihr Hund habe sich ständig auf dem ringsum abgeschlossenen Hof ihres Hausgrundstücks aufgehalten; offensichtlich sei er, als der Erstbeklagte den Hof verlassen habe, um in den Garten zu gehen, hinter diesem hergelaufen und auf die Straße entwichen, ohne dass es der Erstbeklagte bemerkt habe. Es muss diesem als Fahrlässigkeit angerechnet werden, dass er das Entweichen des Hundes nicht wahrnahm; denn er musste damit rechnen, dass der Hund ihm zu folgen versuchen könnte, wenn er den eingefriedeten Hofraum verließ.

Die Schadensabwägung kann danach keinen Bestand haben, weil das Berufungsgericht zu Unrecht ein Verschulden des Klägers zugrundegelegt, das den Erstbeklagten treffende Verschulden dagegen außer Betracht gelassen hat. Der Senat kann die Abwägung selbst vornehmen, weil die tatsächlichen Grundlagen feststehen. Der Unfall ist durch die von den Beklagten zu vertretende und durch das Verschulden des Erstbeklagten erhöhte Tiergefahr derart überwiegend verursacht worden, dass demgegenüber die vom Kläger allein zu vertretende Betriebsgefahr seines Motorrades nicht ins Gewicht fällt. Es erscheint daher angemessen, mit dem Landgericht den Beklagten die volle Ersatzpflicht anzulasten.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 ZPO.