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BGH Beschluss vom 30.03.2011 - 4 StR 42/11 - Zu den Anforderungen an die Anklageschrift beim Vorwurf mehrfachen Fahrens ohne Fahrerlaubnis
BGH v. 30.03.2011: Zu den Anforderungen an die Anklageschrift beim Vorwurf mehrfachen Fahrens ohne Fahrerlaubnis
Der BGH (Beschluss vom 30.03.2011 - 4 StR 42/11) hat entschieden:
Der Tatbegriff des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht demjenigen des § 264 Abs. 1 StPO. Er umfasst daher alle individualisierenden Merkmale der vorgeworfenen Tat, die erforderlich sind, um diese zur Erfüllung der Umgrenzungsfunktion der Anklage von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen. Es ist daher unerlässlich, dass beim Vorwurf mehrerer Fahrten zumindest sämtliche Fahrzeuge nach Typ oder Fabrikat in der Anklageschrift genannt werden.
Siehe auch Fahren ohne Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema Verkehrsstrafsachen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt und eine Maßregel nach § 69a StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Beanstandung der Anwendung des sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel führt wegen eines Prozesshindernisses zu einer teilweisen Verfahrenseinstellung; ferner ist der Angeklagte wegen 19 Fällen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis freizusprechen. Dies hat die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe zur Folge. Im Übrigen ist die Revision unbegründet.
1. Das Verfahren ist in 19 der abgeurteilten 25 Fälle des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen; insofern fehlt es an einer Anklage.
a) In den Fällen 1 bis 25 der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage legte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last, zwischen dem 26. September 2009 und dem 13. November 2009 mit dem Pkw BMW, amtl. Kennzeichen ... [in der Anklage versehentlich mit ... angegeben], "nahezu täglich und regelmäßig öffentliche Straßen" befahren zu haben, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen zu sein. Eine weitere Konkretisierung - etwa im Hinblick auf die vom Angeklagten befahrenen Straßen oder die Tatzeiten - enthält die Anklage nicht.
Abgeurteilt wurde der Angeklagte wegen 25 Fällen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wobei die Strafkammer jedoch nur sechs Fahrten mit dem Pkw BMW als sicher erwiesen erachtet, weitere (mindestens) 19 Fahrten hat der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen mit einem ebenfalls auf ihn zugelassenen Pkw Mercedes Benz Vito, amtl. Kennzeichen ..., unternommen.
b) Soweit der Angeklagte wegen der Fahrten mit dem Pkw Mercedes verurteilt wurde, ist das Verfahren wegen eines Prozesshindernisses einzustellen; sie werden von der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift nicht erfasst.
Der Tatbegriff des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht demjenigen des § 264 Abs. 1 StPO. Er umfasst daher alle individualisierenden Merkmale der vorgeworfenen Tat, die erforderlich sind, um diese zur Erfüllung der Umgrenzungsfunktion der Anklage von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen. Dabei lässt die Rechtsprechung zwar eine Herabsetzung der Anforderungen an die Individualisierung zu, wenn anders die Verfolgung und Aburteilung strafwürdiger Taten nicht möglich wäre. Dies ist jedoch als Ausnahme auf Fälle beschränkt worden, in denen typischerweise bei einer Serie gleichartiger Handlungen einzelne Taten etwa wegen Zeitablaufs oder wegen Besonderheiten in der Beweislage nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können (vgl. BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 12. Januar 2011 - GSSt 1/10).
Auf dieser Grundlage waren vorliegend die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten durch die Angabe des Zeitraums, in dem er die Fahrten unternommen haben soll, und das dabei von ihm benutzte Fahrzeug (noch) ausreichend konkretisiert. Jedoch war - da weitere die Taten kennzeichnende Merkmale nicht angegeben wurden - die Bezeichnung des Fahrzeugs unerlässlich, um die Taten ausreichend zu individualisieren. Nur Fahrten mit dem Pkw BMW waren dem Angeklagten zur Last gelegt, zumal sonstige die Tatvorwürfe kennzeichnende Merkmale auch im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen nicht erwähnt sind. Die 19 Fahrten mit dem Pkw Mercedes, auf den das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen ebenfalls keine Hinweise enthält, waren dagegen von der Anklage nicht erfasst. Sie durften daher von der Strafkammer nicht abgeurteilt werden.
c) Soweit die Anklage dem Angeklagten zur Last gelegt hat, weitere 19 Fahrten mit dem Pkw BMW unternommen zu haben, ist der Angeklagte freizusprechen.
Diesen Freispruch kann der Senat selbst vornehmen (§ 354 Abs. 1 StPO). Denn das Landgericht hat aufgrund einer vollständigen Beweisaufnahme und sorgfältigen Beweiswürdigung festgestellt, dass neben der Unfallfahrt vom 14. November 2009 lediglich sechs Fahrten des Angeklagten mit dem Pkw BMW sicher erwiesen sind (UA 8). Der Senat kann daher ausschließen, dass im Fall einer Zurückverweisung noch Feststellungen getroffen werden können, die zu einer Verurteilung wegen weiterer Fahrten mit dem Pkw BMW führen würden.
d) Die teilweise Verfahrenseinstellung und der Teilfreispruch führen zu einer Korrektur und einer Ergänzung des Schuldspruchs des angefochtenen Urteils. Dies hat die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe zur Folge. Insofern macht der Senat von der Regelung des § 354 Abs. 1b StPO Gebrauch; über die neue Gesamtstrafe sowie die (weiteren) Kosten des Revisionsverfahrens kann im Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO entschieden werden (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2011 - 2 StR 556/10; zur Kostenentscheidung: BGH, Beschluss vom 9. November 2004 - 4 StR 426/04, NJW 2005, 1205, 1206).
2. Im Übrigen hat die Revision des Angeklagten keinen Erfolg.
a) Die Bedenken des Revisionsführers gegen die Wirksamkeit der Anklage in den Fällen 1 bis 25, also soweit dem Angeklagten Fahrten mit dem Pkw BMW zur Last gelegt wurden, teilt der Senat - wie sich aus obigen Ausführungen ergibt - nicht.
b) Die Verfahrensrügen, mit denen die Rechtsfehlerhaftigkeit der Beschlüsse der Strafkammer vom 13. und 16. September 2010 beanstandet wird (Seite 236 der Revisionsbegründung von Rechtsanwalt Dr. T.), sind jedenfalls unbegründet.
aa) Die dem Angeklagten als Fall 26 zur Last gelegte und abgeurteilte Tat betrifft einen vom Angeklagten verursachten Verkehrsunfall, bei dem dieser alkoholisiert (BAK von mindestens 1,87 Promille) mit dem Pkw BMW - ohne äußere Einflüsse - bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von mindestens 140 km/h gegen die Mittelleitplanke einer dreispurigen Bundesautobahn geprallt ist, diese mit seinem Fahrzeug überwunden hat und auf der mittleren Gegenfahrbahn frontal mit einem Kleinwagen kollidiert ist, dessen Fahrerin an den dabei erlittenen Verletzungen verstarb.
Die von der Revision angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts betreffen sich im Kern wiederholende Beweisermittlungsanträge, Beweisanträge und Gegenvorstellungen durch Verteidiger des Angeklagten, mit denen Mängel der Mittelschutzleitplanke geltend gemacht wurden und durch Sachverständigen- und Zeugenbeweis nachgewiesen werden sollte, dass der tödliche Verkehrsunfall auch auf diese Mängel zurückzuführen gewesen sei. Die Strafkammer hat zum Unfallhergang zwar ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten erholt und mehrere Polizeibeamte vernommen, sie ist den oben genannten Anträgen und Anregungen der Verteidiger des Angeklagten über die Befragung des unfallanalytischen Sachverständigen hinaus jedoch nicht gefolgt, weil - wie sie schon in ihrer ersten Entscheidung deutlich gemacht hat - die Beweiserhebung das Urteil nicht beeinflussen würde. Dies stützte sie unter anderem darauf, dass "die etwaige Mitverantwortlichkeit Dritter nicht den Zurechnungszusammenhang zwischen einem pflichtwidrigen Verhalten des Angeklagten und dem eingetretenen Erfolg entfallen" ließe; in einer anderen angegriffenen Entscheidung führte die Strafkammer zudem aus, dass "eine mögliche 'fehlerhafte' Beschaffenheit der Mittelschutzleitplanke … auch für die Strafzumessung ohne Bedeutung" sei.
bb) Die von der Revision angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen.
Dies gilt auch und insbesondere, soweit das Landgericht Beweisanträge wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt hat. Denn die Strafkammer hat in ihren Entscheidungen deutlich gemacht, dass die Beweisbehauptung weder den Schuld- noch den Rechtsfolgenausspruch zu beeinflussen vermag und dies zum Schuldspruch auch nachvollziehbar dargelegt. Darüber hinaus war es - zumal hierzu Ausführungen nur "regelmäßig" geboten sind (vgl. Beschluss vom 14. Dezember 2010 - 1 StR 275/10 mwN) - vor dem Hintergrund insbesondere der rechtlich zutreffenden Ausführungen der Strafkammer zur Frage des "Zurechnungszusammenhangs" auch zur Wahrung berechtigter Verteidigungsinteressen nicht erforderlich, ausdrücklich zu erklären, ob die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen besteht. Nähere Darlegungen der Strafkammer zu den Auswirkungen der Beweisbehauptungen auf die Strafzumessung waren ebenfalls nicht geboten; vielmehr genügte insofern, dass die Strafkammer zu erkennen gab, dass sie ein "Mitverschulden" Dritter im Falle einer Verurteilung nicht als wesentlichen Strafmilderungsgrund ansieht. Auch zur Frage der (Un-)Vorhersehbarkeit des tödlichen Ausgangs des Unfalls musste sich die Strafkammer nicht weiter verhalten. Diese war Ziel und Gegenstand mehrerer anderer - teilweise schon zuvor oder zugleich abgegebener und abgelehnter - Erklärungen und Anträge zur Häufigkeit von "Durchbruchunfällen" mit tödlichem Ausgang und zudem Gegenstand der Ausführungen des unfallanalytischen Sachverständigen. Es unterlag daher jedenfalls in Verbindung mit der von der Strafkammer ausdrücklich angesprochenen "Mitverantwortlichkeit Dritter" keinem Zweifel, dass das Landgericht die beantragte Beweiserhebung auch in Bezug auf dieses Beweisziel als bedeutungslos ansah.
c) Die weiteren Verfahrensrügen haben ebenfalls keinen Erfolg.
aa) Die Strafkammer hat ausdrücklich strafmildernd berücksichtigt, dass der Angeklagte "sein Bedauern" darüber bekundet hat, einen Menschen getötet zu haben, dass er dies aber "zunächst nicht ausdrücklich und unmittelbar gegenüber den Nebenklägern getan" habe, sondern im Rahmen einer durch seine Verteidigerin abgegebenen Erklärung und des letzten Wortes. Diese ersichtlich das Verhalten des Angeklagten in der öffentlichen Hauptverhandlung betreffenden Ausführungen der Strafkammer sind nach dem Revisionsvorbringen - bezogen auf das Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung - zutreffend.
Soweit der Revisionsführer darüber hinaus eine Erörterung des am ersten Verhandlungstag nach der Erklärung der Verteidigerin vom Nebenklägervertreter übergebenen und anschließend verlesenen "Entschuldigungsschreibens" des Angeklagten in dem Urteil vermisst, hätte es, weil das Landgericht - wie die Revision zutreffend ausführt - maßgeblich auf Form, Adressaten und Zeitpunkt des Bekenntnisses des Angeklagten abgestellt hat, näherer Darlegungen insbesondere dazu bedurft (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wann der Angeklagte dieses nicht datierte "Entschuldigungsschreiben" den "Hinterbliebenen des Unfallopfers … zugesandt" hat. Denn nur dann ist dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglicht, ob diesem Schreiben im Rahmen des ohnehin strafmildernd berücksichtigten Bedauerns des Angeklagten eine weitere wesentliche Bedeutung zukommen kann.
bb) Dem Unterlassen eines Widerspruchs gegen die Verwertung des Ergebnisses der Blutprobenentnahme beim Angeklagten hat die Strafkammer - auch im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 2011 (2 BvR 1596/10) - zu Recht keine wesentliche Bedeutung für die Strafhöhe beigemessen.
cc) Auch die weiteren Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.
Den Antrag, die Offenkundigkeit bestimmter Presseartikel festzustellen, hat die Strafkammer zu Recht abgelehnt. Wäre Offenkundigkeit gegeben, wäre eine solche Feststellung weder geboten noch erforderlich. Um einen Beweisantrag handelte es sich bei dem Ansinnen schon deshalb nicht, weil der Antragsteller ausdrücklich nicht die Verlesung dieser Artikel wünschte; sein Begehren war daher ersichtlich auch nicht darauf gerichtet, wenigstens den Inhalt der Artikel in der Hauptverhandlung zur Sprache zu bringen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 244 Rn. 3, 50).
Den später gestellten Beweisantrag auf Verlesung dieser und weiterer Presseartikel hat das Landgericht rechtsfehlerfrei wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Dabei ist es zu Recht davon ausgegangen, dass allein eine "aggressive und vorverurteilende" Berichterstattung für die Strafbemessung regelmäßig keine wesentliche Bedeutung hat (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Oktober 1999 - 3 StR 324/99; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 46 Rn. 63 mwN). Anders kann dies zu beurteilen sein, wenn - was indes weder in dem Beweisantrag noch in der Verfahrensrüge behauptet wird - der Angeklagte unter der Berichterstattung in besonderer Weise gelitten hat (vgl. etwa BGH, Urteil vom 23. Oktober 2007 - 5 StR 270/07). Im Übrigen belegen die vorgelegten Presseartikel auch nicht, dass der Druck der medialen Berichterstattung weit über das hinausging, was jeder Straftäter über sich ergehen lassen muss, dessen Fall in das Licht der Öffentlichkeit gerät (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2007 - 1 StR 164/07, NStZ-RR 2008, 343, 344). Dass das Landgericht in seinem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss nicht ausdrücklich mitgeteilt hat, ob es die Bedeutungslosigkeit aus rechtlichen oder aus tatsächlichen Gründen als gegeben erachtet, stellt auch hier - auf der Grundlage obiger Erwägungen zu dieser Frage - keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar.
d) Die Sachrüge ist - soweit sie sich zur statistischen Häufigkeit von tödlichen "Durchbruchunfällen" nicht ohnehin auf urteilsfremde Ausführungen stützt - aus den vom Generalbundesanwalt in der Antragsschrift vom 31. Januar 2011 dargelegten Gründen auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidiger in ihren Gegenerklärungen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.