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BGH Urteil vom 20.01.2011 - IX ZR 123/10 - Zum Anfall der Erledigungsgebühr im Bußgeldverfahren bei Rat zu gezieltem Schweigen
BGH v. 20.01.2011: Zum Anfall der Erledigungsgebühr im Bußgeldverfahren bei Rat zu gezieltem Schweigen
Der BGH (Urteil vom 20.01.2011 - IX ZR 123/10) hat entschieden:
Für die Mitwirkung an der Erledigung des Verfahrens kann es genügen, wenn der Verteidiger seinem Mandanten rät, zu dem erhobenen Vorwurf zu schweigen, und dies der Verwaltungsbehörde mitteilt. Dies gilt nicht, wenn unabhängig von der Einlassung des Betroffenen offenkundig ist, dass dieser die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit nicht begangen haben kann.
Siehe auch Erledigungsbeitrag und Notwendige Auslagen
Tatbestand:
Die Klägerin beauftragte einen Rechtsanwalt mit ihrer Verteidigung in einem Bußgeldverfahren wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr. Der Rechtsanwalt riet ihr im Anhörungsverfahren, zu dem Vorwurf zu schweigen, und teilte der Verwaltungsbehörde mit, die Klägerin werde sich nicht äußern. Das Bußgeldverfahren wurde anschließend eingestellt. Der Rechtsanwalt trat seine Gebührenforderung an eine Abrechnungsstelle ab. Diese stellte der Klägerin neben einer Grund- und einer Verfahrensgebühr auch eine Erledigungsgebühr nach Nr. 5115 VV RVG in Höhe von 160,65 € einschließlich Umsatzsteuer in Rechnung. Die Beklagte, bei der die Klägerin eine Rechtsschutzversicherung unterhält, verweigerte die Bezahlung der Erledigungsgebühr mit der Begründung, eine solche sei nicht angefallen.
Die auf Freistellung von der Gebührenforderung der Abrechnungsstelle gerichtete Klage ist beim Amtsgericht ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Rat des Anwalts an den Mandanten, keine Angaben zu machen, und die Mitteilung dieser Entscheidung an die Verwaltungsbehörde sei grundsätzlich als Mitwirkungshandlung im Sinne der Nr. 5115 VV RVG geeignet, weil dadurch die Einstellung des Verfahrens gefördert werden könne. Der Anwalt beschränke sich in einem solchen Fall nicht auf eine bloße Untätigkeit. Sachliche Informationen müsse er der Behörde nicht erteilen. Da die Verwaltungsbehörde die Klägerin im Streitfall als Betroffene angehört habe, liege es nicht völlig fern, dass sie das Bußgeldverfahren weiterbetrieben hätte, wenn der Anwalt nicht tätig geworden wäre.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.
1. Eine Erledigungsgebühr nach Nr. 5115 VV RVG entsteht nach Abs. 1 Nr. 1 der zugehörigen Anmerkung, wenn das Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verwaltungsbehörde durch die anwaltliche Mitwirkung endgültig eingestellt wird. Nach Absatz 2 der Anmerkung entsteht sie nicht, wenn eine auf Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit nicht ersichtlich ist. Mit Recht hat das Berufungsgericht die für den Anfall der Erledigungsgebühr erforderliche Mitwirkung des Anwalts an der Einstellung des Verfahrens in einem weiten Sinn verstanden.
a) Nr. 5115 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG übernimmt, wie die für das Strafverfahren gleichlautende Bestimmung der Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG, den Grundgedanken der Regelung des § 84 Abs. 2 BRAGO. Diese war geschaffen worden, um Tätigkeiten des Verteidigers zu honorieren, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führten. Sie galt gemäß § 105 Abs. 2 Satz 3 BRAGO auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren. Die Neuregelung in Nr. 5115 und Nr. 4141 VV RVG hat diesen Ansatz aufgegriffen, indem dem Rechtsanwalt in den dort genannten Fällen eine zusätzliche Gebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr zugebilligt wird. Die Zusatzgebühr der Nr. 5115 VV RVG soll, wie die Vorgängerregelung, den Anreiz, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen, erhöhen und damit zu weniger Hauptverhandlungen führen (BGH, Urt. v. 18. September 2009 - IX ZR 174/07, NJW 2009, 368 Rn. 10 m.w.N.).
b) Mitwirkung im Sinne der Nr. 5115 VV RVG bedeutet, wie Absatz 2 der Anmerkung zeigt, dass der Verteidiger durch seine Tätigkeit die endgültige Einstellung des Verfahrens zumindest gefördert haben muss. Es genügt hierfür jede Tätigkeit, die zur Förderung der Verfahrenserledigung geeignet ist. Eine besondere, nicht nur unwesentliche und gerade auf die außergerichtliche Erledigung gerichtete Tätigkeit ist nicht erforderlich (BGH, Urt. v. 18. September 2008 - IX ZR 174/07 aaO Rn. 11 f).
c) Nach diesen Maßstäben kann die nach Nr. 5115 VV RVG erforderliche Mitwirkung gegeben sein, wenn der Verteidiger seinem Mandanten im Bußgeldverfahren rät, zu dem erhobenen Vorwurf zu schweigen, und er die entsprechende Entschließung seines Mandanten der Verwaltungsbehörde mitteilt (so genanntes gezieltes Schweigen; AG Charlottenburg AGS 2007, 309, 310; Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl. Nr. 5115 VV RVG Rn. 6; N. Schneider in AnwKomm-RVG, 5. Aufl. Nr. 5115 VV RVG Rn. 32; Bischof/Uher, RVG, 3. Aufl. Nr. 5115-5116 VV RVG Rn. 30b; Mayer/Kroiß, RVG, 4. Aufl. Nr. 5100-5200 VV RVG Rn. 18; Hartmann, Kostengesetze, 40. Aufl. Nr. 5115 VV RVG Rn. 1; Hartung in Hartung/Schons/Enders, RVG, Nr. 5115 VV RVG Rn. 9; zu § 84 Abs. 2 BRAGO: AG Bremen AGS 2003, 29; a.A. AG Hannover JurBüro 2006, 79; AG Halle AGS 2007, 85; AG Meinerzhagen AGS 2007, 454; AG Potsdam, Urt. v. 16. April 2009 - 36 C 31/09, n.v.; zu § 84 Abs. 2 BRAGO: AG Dinslaken JurBüro 1996, 308; AG Achern JurBüro 2001, 304). Die Behörde weiß nach einer solchen Mitteilung, dass sie einen Bußgeldbescheid nicht auf die Einlassung des Betroffenen stützen kann, sondern sich darüber klar werden muss, ob die übrigen Beweismittel für eine Ahndung ausreichen. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass die übrigen Beweismittel nicht ausreichen und stellt sie deshalb das Verfahren ein, hat die Tätigkeit des Verteidigers diese Art der Verfahrenserledigung objektiv gefördert. Eine Förderung der Sachaufklärung setzt die Regelung in Nr. 5115 VV RVG nach ihrem Wortlaut nicht voraus. Auch der Zweck der Regelung, dem Anwalt einen Ausgleich für die Hauptverhandlungsgebühr zu verschaffen, wenn er durch seine Tätigkeit dazu beiträgt, dass eine Verhandlung entbehrlich wird, erfordert keine weiter gehende Förderung. Wirkt der Verteidiger darauf hin, dass sein Mandant schon im Anhörungsverfahren und nicht erst in der Hauptverhandlung erklärt, er werde sich nicht zur Sache äußern, kann dies in ähnlicher Weise wie eine Einlassung zur Sache bewirken, dass das Verfahren noch im Verwaltungsverfahren eingestellt und damit eine Hauptverhandlung vermieden wird. Es wäre deshalb nicht gerechtfertigt, ihm nur bei einer Einlassung zur Sache einen Ausgleich für die Terminsgebühr zuzubilligen.
2. Die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Zusammenhang mit einem gezielten Schweigen seines Mandanten lässt jedoch keine Erledigungsgebühr entstehen, wenn die Verwaltungsbehörde das Verfahren unabhängig von einer diesbezüglichen Erklärung einstellt, weil aus anderen Gründen offenkundig ist, dass der Mandant des Anwalts die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit nicht begangen haben kann. Dann ist eine auf die Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit des Verteidigers nicht ersichtlich (Abs. 2 der Anmerkung zu Nr. 5115 VV RVG). Dies hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet. Es hat in den Gründen seiner Entscheidung den Vortrag der Beklagten angesprochen, das Bußgeldverfahren wäre auch ohne ein Tätigwerden des Anwalts eingestellt worden. Die Beklagte hatte insoweit ausgeführt, die Klägerin habe als weibliche Person nicht die Fahrerin des PKW sein können, weil das Beweisfoto zweifelsfrei einen männlichen Fahrer zeige. Hierzu hat das Berufungsgericht keine Feststellung getroffen, weil es gemeint hat, allein die Tatsache, dass die Klägerin als Betroffene von der Verwaltungsbehörde angehört wurde, belege, dass die Behörde einen Tatverdacht als gegeben angesehen habe, weshalb es nicht als völlig fernliegend erscheine, dass das Verfahren auch hätte weiterbetrieben werden können. Dieses Vorgehen rügt die Revision mit Recht. Zeigte das Originalfoto zweifelsfrei eine männliche Person, durfte ein Bußgeldbescheid gegen die Klägerin nicht ergehen. Das Verfahren gegen die Klägerin war dann ungeachtet der veranlassten Anhörung und ihres Ergebnisses mangels hinreichenden Tatverdachts einzustellen (§ 170 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG). Der von ihrem Verteidiger angeratene und an die Behörde mitgeteilte Entschluss der Klägerin, sich nicht zur Sache zu äußern, konnte diese Entscheidung von vorneherein nicht beeinflussen.
III.
Das Berufungsurteil war danach aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich, weil die Sache nach dem festgestellten Sachverhalt nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Das Berufungsgericht hat die erforderlichen Feststellungen zu der Behauptung der Beklagten nachzuholen, das Beweisfoto zeige zweifelsfrei eine männliche Person als Fahrer.